Die drohende Abwanderung von österreichischen Industriearbeitsplätzen nach Polen oder Serbien bei ATB, MAN oder Swarovski zeigt: Zu niedrige Mindestlöhne und das daraus entstehende Lohngefälle sind drängende Probleme in der EU. Eine Richtlinie der EU will das beheben, doch Arbeitsminister Kocher will das verhindern. Einen Antrag auf Unterstützung der Mindestlohnrichtlinie lehnen die Regierungsparteien im EU-Unterausschuss des Parlaments ab.
EU-Kommission und Parlament wollen Kollektivverträge in jenen Ländern fördern, in denen sie nicht so verbreitet sind. Für Österreichs Beschäftigte würde sich wenig verändern, aber die Lohnkonkurrenz würde entschärft werden: Weil in anderen Ländern die Löhne steigen. Doch neun Arbeitsminister legen sich quer – ÖVP-Minister Martin Kocher ist einer davon.
Im EU-Unterausschuss des Parlaments wollte die SPÖ in einem Antrag den österreichischen Arbeitsminister verpflichten, der Mindestlohn-Richtlinie zuzustimmen. So ist es den ParlamentarierInnen schon einmal gelungen, die Blockade der ÖVP bei der Steuertransparenz für große Konzerne in der EU zu brechen. Dem sogenannten Country-by-Country Reporting musste Österreichs Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck im Februar 2021 zustimmen, nach jahrelanger Blockade der ÖVP. Damit brach die konservative Sperrminorität in der EU zusammen, Österreich war das Zünglein an der Waage – die Steuertransparenz für Konzerne ist endlich beschlossen.
Das wollten die SPÖ-Abgeordneten jetzt auch bei der Mindestlohn-Initiative erreichen, doch die Regierungsparteien stimmten dagegen. Kocher soll die EU-Initiative für höhere Mindestlöhne und mehr kollektivvertragliche Abdeckung für Beschäftigte verhindern können. Und das wird er auch tun, wie er im Ausschuss klar machte: Er steht der Richtlinie skeptisch gegenüber, sagt Kocher. Die Grünen sehen die Mindestlohn-Initiative der EU zwar grundsätzlich positiv, stimmen aber dennoch gegen den Antrag. Gleichzeitig plant die Regierung, die Strafen für Lohndumping in Österreich zu senken.
Wettbewerbsdruck und ein niedriger gewerkschaftlicher Organisierungsgrad sind nur zwei Gründe, warum Löhne und Gehälter auch in der EU oft nicht zum Leben reichen. Betriebspleiten in Krisen tun ihr Übriges. Jeder zehnte Beschäftigte in der EU ist trotz Arbeit armutsgefährdet.
In der EU leben 20 Millionen Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können.
Zwar gibt es in 21 Mitgliedsländern gesetzliche Mindestlöhne, doch sie sind vielerorts zu niedrig. Das Gefälle zwischen den Ländern ist groß: Liegt der Brutto-Mindestlohn in Luxemburg bei 2.140 Euro monatlich, sind es in Bulgarien gerade einmal 310 Euro. Dieses Gefälle bekommen Beschäftigte in Österreich aktuell bei MAN oder Swarovski zu spüren: Ihre Werke drohen mit der Abwanderung der Produktion nach Polen und Serbien, wo die Löhne deutlich niedriger sind.
Die Lohnkonkurrenz hat aber noch direktere Auswirkungen auf den österreichischen Arbeitsmarkt: Wenn in Ungarn, Tschechien und der Slowakei der Durchschnittslohn niedriger ist, bezahlen österreichische Betriebe ungarischen, tschechischen und slowakischen ArbeitnehmerInnen viel weniger, als in Österreich üblich. Ob Tourismus- und Gastronomiebranche, Baugewerbe oder 24-Stunden-Betreuung: Sie funktionieren, weil ausländische Arbeitskräfte in Österreich zu Billiglöhnen arbeiten. Am Ende heißt das: Lohndruck für alle Beschäftigten in diesen Branchen.
Die EU-Kommission hat das Problem aufgegriffen und mit den Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-Verbänden Europas verhandelt. Während die Gewerkschaften die Kommission dazu aufgefordert hatten, einen Vorschlag mit verbindlichen Mindestanforderungen vorzulegen, lehnten sämtliche Arbeitgeber-Verbände verbindliche Mindestlöhne ab. Ende Oktober präsentierte man einen Entwurf. Die Richtlinie, die Mindestlöhne ermöglichen soll, könnte das Lohngefälle zwischen den Mitgliedsstaaten verkleinern.
Der EU-Vorschlag berücksichtigt auch, dass in Ländern wie Österreich Kollektivvertrags-Verhandlungen eine wichtige Rolle spielen. Hierzulande sind 98 Prozent aller Beschäftigten von Kollektivverträgen erfasst. Zum Vergleich: In Deutschland sind es nur 45 Prozent. Bald arbeitet ein Viertel der deutschen ArbeitnehmerInnen im Niedriglohn-Bereich.
An der Stellung österreichischer Kollektivverträge würde auch das Umsetzen der EU-Richtlinie nichts ändern. Aber: Sie würde Beschäftigte in anderen Ländern besserstellen. Denn der Kommissionsvorschlag zielt darauf ab, Kollektivverhandlungen zur Lohnfestsetzung in allen Mitgliedsstaaten zu fördern, insbesondere in jenen Ländern, in denen weniger als 70 Prozent der Beschäftigten kollektivvertraglich abgedeckt sind.
Was ist ein Kollektivvertrag? |
Ein Kollektivvertrag (KV) ist eine Vereinbarung, die zwischen der Gewerkschaft und der Wirtschaftskammer geschlossen wird. Der Kollektivvertrag gilt für alle ArbeitnehmerInnen in einer Branche und ist ein Jahr lang gültig. Ein Kollektivvertrag regelt die Mindestlöhne für Berufe, aber auch die Höhe des Weihnachts- und des Urlaubsgeldes sowie Arbeitszeit und Überstunden. In nur sechs EU-Ländern werden Mindestlöhne durch Kollektivverträge festgelegt und geschützt. Neben Österreich in Dänemark, Italien, Zypern, Finnland und Schweden. |
In Brüssel kursiert seit Anfang des Jahres ein Brief, der von Österreichs Arbeitsminister Martin Kocher unterstützt und unterzeichnet wurde – gemeinsam mit Ministern aus acht weiteren EU-Ländern. Sie verweisen auf ausstehende Erläuterungen des juristischen Dienstes, machen aber klar, dass sie ohnehin keine verbindlichen Vorgaben zu Mindestlöhnen wollen, sondern bloß Empfehlungen. Folglich müsste niemand etwas in Bewegung setzen.
„Wir denken, dass eine Empfehlung ein besseres rechtliches Instrument ist, weil es den Mitgliedsstaaten die Flexibilität ermöglicht, die Ziele des Vorschlags zu erreichen“, schreiben Kocher und Minister-Kollegen im Brief.
Heißt übersetzt: An Empfehlungen müssen sich die Staaten nicht halten, weshalb sie „flexibler“ in Bezug auf Mindestlöhne bleiben. Neben Österreich haben Dänemark, Ungarn, Estland, Irland, Malta, die Niederlande, Polen und Schweden den Brief gegen höhere EU-Mindestlöhne unterzeichnet.
„Die EU braucht einen sozialen Neustart als Weg aus der Krise. Schade, dass es gerade die österreichische Bundesregierung ist, die auf EU-Ebene jede soziale Initiative im Keim erstickt“, ärgert sich SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder. 9 von 10 Menschen in der EU sagen, dass ein soziales Europa für sie persönlich von großer Bedeutung ist. „Wir SozialdemokratInnen haben einen Fahrplan für die Zukunft Europas, wir wollen einen Mindestlohn in jedem EU-Land umsetzen, die Kinderarmut abschaffen, in neue, gute Jobs investieren und eine Millionärsabgabe einführen.“ Allerdings sei Türkis-Grün Teil der EU-Verhinderer-Allianz. „Immer wenn es um mehr Demokratie, mehr Klimaschutz oder mehr soziale Absicherung geht, steht Österreich verlässlich auf der Seiter der Bremser, kritisiert Schieder.
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