Geschichte

„Gegen den ausdrücklichen Willen meiner Großmutter“: Enkel von Holocaust-Überlebender zu Stelzers Angriff auf enteigneten Grund

Ein Grundstück am Attersee wird einer jüdischen Familie von den Nazis geraubt. Als sich die Familie nach dem Krieg wieder um das Grundstück bemüht, muss sie 90.000 Schilling Ablöse zahlen, um ihr Eigentum zurück zu bekommen. Um sich den Rückkauf ihrer enteigneten Grundstücke leisten zu können, verkaufen sie einen Teil davon wieder. Eines davon an das Land Oberösterreich – unter der Bedingung, den Grund der Sozialistischen Jugend (SJ) für ihre antifaschistische Arbeit zur Verfügung zu stellen. ÖVP-Landeshauptmann Thomas Stelzer will jetzt den Vertrag kündigen und die Pacht deutlich erhöhen. Die SJ könnte sich das nicht leisten und müsste Bad und Camp einstampfen. Jetzt melden sich die Nachkommen der Familie Pollak zu Wort. Sie sind „zutiefst enttäuscht“, wie in Österreich mit dem „ausdrücklichen Wunsch“ ihrer Großeltern umgegangen wird. 

Ein Grundstück in Weißenbach am Attersee (OÖ) mit freiem Seezugang – eine Seltenheit. Nur mehr 13 Prozent des Attersees sind frei zugänglich. Das „Europabad“ und das dazugehörige „Europacamp“ der Sozialistischen Jugend (SJ) sind ein Teil davon. Seit 1962 kann man dort kostenlos baden, parken und Sportplätze nutzen. Grund dafür ist der günstige Pachtvertrag, den die SJ mit dem Land Oberösterreich einst abgeschlossen hat. Dahinter steht der Wille eines jüdischen Geschwisterpaars, das ihren – unter den Nationalsozialisten enteigneten Grund – den Jungsozialisten für ihre antifaschistische Arbeit überlassen wollten.

Das Europabad der SJ erhält eine kostenlose Bademöglichkeit – an einem der wenigen öffentlichen Seezugänge des Attersees. (Foto: SJ)

Doch genau diese Abmachung will die ÖVP 60 Jahre später brechen. Die rote Jugend-Organisation soll – so will es Thomas Stelzer – 180.000 Euro im Jahr an das Land abliefern. Geld, das die SJ nicht aufbringen kann. Sie müsste das Bad zusperren. Wie Stelzer auf diese Summe kommt, ist unklar.

Oberösterreich kaufte das Grundstück zu einer Bedingung: die günstige Verpachtung an die SJ

Die Geschichte des Grundstücks ist eine fortgesetzte Missachtung des Willens von Holocaust-Überlebenden: Das Grundstück gehörte einst der Familie Pollak. Eine jüdische Familie, Ludwig Pollak war außerdem Sozialdemokrat. Er wurde sowohl von den Austrofaschisten als auch den Nationalsozialisten verfolgt. Die Nazis stahlen der Familie das Grundstück in Weißenbach samt Hotel, „arisierten“ diese – und verkauften es 1939 um 150.000 Reichsmark an eine Versicherungsgesellschaft. Nach der Kapitulation der Nazis 1945 bekamen Juden und Jüdinnen – teilweise – ihre Wohnungen, Häuser oder Grundstücke zurück. Allerdings nicht bedingungslos: Ludwig und seine Schwester Gertrude mussten 90.000 Schilling Ablöse bezahlen, um ihr einstiges Eigentum zurückzubekommen – und das, obwohl das Hotel mittlerweile in einem desolaten Zustand war.

Weil die Pollaks ihre zuvor enteigneten Grundstücke rückkaufen mussten, konnten sie das Grundstück der Sozialistischen Jugend nicht als Geschenk überlassen – so kam es zur der indirekten Konstruktion über das Land Oberösterreich. 1951 kaufte Oberösterreich von den Pollak-Geschwistern die große Wiese am Attersee. Doch die Geschwister knüpften den Verkauf an eine Auflage: Die Sozialistische Jugend sollte ein Bestandsrecht bekommen, „unkündbar auf die Dauer von 99 Jahren gegen einen jährlichen Anerkennungszins von 25 Schilling“. Heute liegt die Jahrespacht bei rund 10 Euro. Das war ihr Wille.

2018 kritisierte der Landes-Rechnungshof die niedrige Pacht. Ein rechtlicher Streit um Vertrag und Pachthöhe startete.  Der unabhängige Parteiensenat findet die 180.000 von Stelzer als zu hoch angesetzt , wertet die Pacht aber selbst als „illegale Parteienfinanzierung“. Das Bundesverwaltungsgericht schreibt der SJ 45.000 Euro Pacht pro Jahr vor. Diese könnte sich die Sozialistische Jugend nicht leisten und müsste das Camp schließen – samt öffentlichem Seezugang. Die Sozialdemokraten bringen nun eine Revision beim Verwaltungsgericht sowie eine Beschwerde beim Verfassungsgericht ein.

Enkel Cohn:

Pollak-Enkel „zutiefst enttäuscht“ über Umgang mit dem Willen der jüdischen Großeltern

„Unsere Großmutter hat zu Lebzeiten immer wieder deutlich gemacht, dass es ihr Wunsch war, dass die Sozialistische Jugend ihr ehemaliges Grundstück für ein Jugendlager mit freiem Zugang zum Attersee für die Öffentlichkeit nutzt“, erklärt Anthony Cohn. Der Enkel der ehemaligen Eigentümerin des Grundstücks am Attersee ist Professor für Computer Science an der englischen Universität Leeds. In einer öffentlichen Stellungnahme kritisiert er, dass der „ausdrückliche Wunsch“ seiner Großmutter, die den Holocaust überlebt hat, jetzt ignoriert wird. Cohn hätte sich von der oberösterreichischen Landesregierung „mehr Sensibilität“ gegenüber dem Willen von Holocaust-Überlebenden erwartet und findet die Vorgehensweise „rechtlich und moralisch“ ungerecht.

Auch für Paul Stich, den Vorsitzenden der Sozialistischen Jugend Österreich, ist die aktuelle Debatte eine „moralische Bankrotterklärung“. “Es ist unerträglich, wie hier der dezidierte und sogar vertraglich festgehaltene Wunsch von Holocaust-Überlebenden missachtet und mit Füßen getreten wird.“

Die Stellungnahme des Enkels der Holocaust-Überlebenden im Wortlaut

Sehr geehrte Damen und Herren!

Mein Bruder und ich sind sehr besorgt über die aktuelle Diskussion um die Zukunft des Europacamps am Attersee. Unserer Meinung nach verabsäumen es die verantwortlichen Politiker in Oberösterreich, das Erbe unserer Familie zu schützen und die Verpflichtungen aus einem gültigen Vertrag einzuhalten. Wir sind auch von der jüngsten Gerichtsentscheidung zutiefst enttäuscht und unterstützen die vorgeschlagene Berufung: Der Wunsch unserer Familie, insbesondere der unserer Großmutter, wird ignoriert.

Wir hätten uns von der Landesregierung mehr Sensibilität und die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen erwartet, vor allem eingedenk der österreichischen Geschichte.

Ich bin Anthony Cohn, ein Enkel von Gertrude Webern, geborene Pollak. Ihr Bruder wurde von den Austrofaschisten inhaftiert, weil er die sozialdemokratische Partei unterstützte. Unter der Nazi-Diktatur wurde die Familie Pollak, unsere Familie, enteignet, weil sie jüdisch war. Alle übrigen Mitglieder unserer Familie mussten fliehen. Das Europacamp befindet sich heute auf einem Grundstück, das von den Nazis beschlagnahmt wurde.

Glücklicherweise überlebten unsere Großmutter (sowie ihre Kinder, darunter unsere Mutter) und ihr Bruder den Holocaust. Nach der Befreiung Österreichs versuchten sie, ihren Besitz zurückzuerlangen. Aufgrund eines gerichtlich angeordneten Vergleichs mussten sie jedoch eine sehr hohe Summe an jene Personen zahlen, die in der Zwischenzeit in den Besitz der Liegenschaft gelangt waren. Um dies bezahlen zu können, verkaufte unsere Familie einen Teil ihres Besitzes, darunter auch das Grundstück, auf dem sich heute das Europacamp befindet, das an das Land Oberösterreich verkauft wurde.

Im Kaufvertrag wurde klargestellt, dass das Grundstück nur dann zum vereinbarten Preis an das Bundesland verkauft wird, wenn die Sozialistische Jugend Österreichs darauf ein Jugendlager errichten dürfe. Auch der symbolische Pachtzins, der dem Vernehmen nach in letzter Zeit in Österreich viel diskutiert wurde, wurde dort festgelegt.

Die Bedingungen dieses Vertrages, einschließlich der symbolischen Pacht für einen Zeitraum von 99 Jahren, waren der ausdrückliche Wunsch unserer Großmutter und unseres Großonkels. Ohne diese Bedingungen hätte das Land Oberösterreich nicht die Möglichkeit gehabt, Eigentümer des Grundstücks zu werden.

Unsere Großmutter hat zu Lebzeiten immer wieder deutlich gemacht, dass es ihr Wunsch war, dass die Sozialistische Jugend ihr ehemaliges Grundstück für ein Jugendlager mit freiem Zugang zum Attersee für die Öffentlichkeit nutzt. Dieser Wunsch wurde in einem Vertrag, den meine Großmutter, mein Großonkel und das Land freiwillig abgeschlossen haben, rechtlich festgehalten, wobei letzteres diesen jedoch nun einseitig bricht.

Dies können wir nicht stillschweigend hinnehmen, und wir möchten auf das Schärfste dagegen protestieren, weil es ungerecht ist – nicht nur im rechtlichen, sondern auch im sozialen und moralischen Sinne.

Unsere Familie wurde von den Machthabern in der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs sehr schlecht behandelt. Jetzt wird der Nachlass unserer Großmutter von den örtlichen Behörden in Frage gestellt. Jener Nachlass, den zu schützen und zu respektieren, sich die örtlichen Behörden in der Vergangenheit verpflichtet haben.

Wir hoffen und erwarten inständig, dass die oberösterreichische Landesregierung ihre unklugen Absichten überdenkt und von ihren geplanten Schritten gegen das Europacamp absieht. Dieses Camp in seiner jetzigen Nutzung und mit der nominellen Pacht ist der ausdrückliche, vertraglich festgehaltene Wunsch unserer Vorfahren; mein Bruder und ich erwarten, dass dieser Wunsch auch in Zukunft respektiert wird, zumindest bis zum Auslaufen der Bestimmungen des Kaufvertrags.

Hochachtungsvoll

Anthony Cohn

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 60%, 1421 Stimme
    60% aller Stimmen 60%
    1421 Stimme - 60% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 15%, 359 Stimmen
    15% aller Stimmen 15%
    359 Stimmen - 15% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 12%, 297 Stimmen
    12% aller Stimmen 12%
    297 Stimmen - 12% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 205 Stimmen
    9% aller Stimmen 9%
    205 Stimmen - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 4%, 105 Stimmen
    4% aller Stimmen 4%
    105 Stimmen - 4% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 2387
12. März 2024
×
Von deiner IP-Adresse wurde bereits abgestimmt.

Neue Artikel

SPÖ-Chef Andreas Babler will gratis Öffis für alle unter 18

SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler präsentiert am Samstag in seiner „Herz-und-Hirn“-Rede 24 Projekte, die Österreich wieder gerechter…

25. April 2024

ÖVP gegen EU-weites Grundrecht auf Abtreibung

Das EU-Parlament hat das Recht auf Abtreibung zum Grundrecht erklärt - gegen die Stimmen der…

25. April 2024

Die FPÖ in Brüssel: Gegen Mindestlöhne, Lohntransparenz und bessere Arbeitsbedingungen

Das Europäische Parlament hat in den vergangenen fünf Jahren zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen…

25. April 2024

ÖVP für mehr Überwachung: Geheimdienste sollen im Messenger mitlesen dürfen

Die ÖVP will mehr Befugnisse für die Geheimdienste, sie soll auch die Nachrichten in den…

24. April 2024

Gaspreise in Österreich 3-mal stärker gestiegen als im EU-Schnitt

In keinem EU-Land sind die Gaspreise so stark angestiegen wie in Österreich. Das zeigt eine…

18. April 2024