Gesellschaft

Menschen mit Herz statt Ellbogen – unser Jahresrückblick 2018

Die letzte Redaktionssitzung vor Weihnachten. Jeder von uns mit dem halben Kopf schon woanders. Aber wir wollen einen Jahresrückblick machen. Ein Jahr schwarz-blau. Wir hätten viel zu erzählen. Wie in kleinen Dosen der Sozialstaat abgebaut wird. Was die Menschen am meisten getroffen hat. „Aber es ist Weihnachten. Unsere Leser wollen auch mal Ruhe von Innenpolitik. Sogar ich will mal Ruhe von Innenpolitik“. Verstehen alle. Aber wir wollen trotzdem einen Rückblick wagen.

Also beginnen wir über das letzte Jahr zu reden. Darüber, welche Geschichten uns persönlich am besten gefallen haben. Was ist uns vom Jahr 2018 in Erinnerung geblieben? Und dann erzählt jeder von seinen Begegnungen mit beeindruckenden Menschen. Menschen, die Großes leisten, die aber niemand kennt. Menschen, die jeden Tag kämpfen. Menschen, die zeigen, dass sie Herz haben, nicht nur Ellbogen. Die zeigen, dass man sich füreinander einsetzen und sich um andere kümmern muss, wenn es schwierig wird. Ihre Geschichten haben uns erinnert, wie eine Gesellschaft aussehen müsste, die ihre Leistungen anerkennt. Eine Gesellschaft, in der wir Menschlichkeit, Vertrauen und Zuversicht kultivieren. Wir sind sicher: Diese Gesellschaft ist da. Man sieht sie nur schlecht unter dem Nebel von Feindseligkeit, Härte und Boshaftigkeit.

Und eben weil uns diese Menschen so beeindruckt haben, widmen wir ihnen unseren Jahresrückblick. Wir wollen sie nochmal vor den Vorhang holen!

Danke für alles: Euer Engagement, eure Zeit, eure Erzählungen und eure Kraft! Wir wünschen euch das Allerbeste für die Zukunft!

Eure Kontrast-Redaktion

Andreas, der trotz jahrelanger Jobsuche seinen Optimismus behalten will

Andreas B. erzählt von seiner jahrelangen Jobsuche und den 150 Bewerbungen, die er abgeschickt hat.

Als wir Andreas treffen, ist das neue Jahr noch keine 48 Stunden alt. Als die „Aktion 20.000″ im Mai 2017 vorgestellt wird, meldet er sich sofort bei seinem AMS-Betreuer. Er möchte „wieder gebraucht“ werden, will beweisen, dass er hart arbeiten kann. Wir fahren nach Mistelbach, dort lebt er mit seiner Frau in einer sehr kleinen Wohnung. Er erzählt uns seinen Niedriglohn-Jobs. Von seinem Burnout und davon, wie sehr er sich aufs Arbeiten freut. Leider hat Andreas nie die Chance bekommen, in der Aktion 20.000 zu arbeiten. Nur wenige Tage nach unserem Gespräch im Jänner 2018 erfährt er, dass die Regierung die Aktion eingestampft hat.

Mehr Glück hatte Gerd. Nach sechs Jahren und hunderten Bewerbungen hat er über die Aktion 20.000 wieder Arbeit gefunden. Seinen ersten Arbeitstag als Bürokraft in einem Wiener Verein hat er „ein bißchen wie den ersten Schultag“ erlebt. Gerd arbeitet auch heute noch in dem Verein, ihm geht es gut und das Team ist zufrieden.  „Für mich ist es gut ausgegangen. Mir geht es gut, aber natürlich hätte ich mir gewünscht, dass andere auch die Chance bekommen.“

Die Fahrer des BIS-Mobil in Ebensee

Ein Fahrer des BIS-Mobils in Ebensee erzählt vom Projekt und welchen Nutzen es für die BewohnerInnen hatte.

Im April sind wir nach Ebensee gefahren. Ebensee ist flächenmäßig die zweitgrößte Gemeinde in Oberösterreich. Zum nächsten Nahversorger können es schon mal zehn Kilometer sein, wenn man Pech hat. Ohne Auto kommt man nicht weit. Das BIS-Mobil hat Ebensee zu einem anderen Ort gemacht. Es fährt ältere Damen zum Arzt, zum Kaffee, zu Nachbarn. Statt alleine zuhause zu sitzen, finden sie wieder zusammen: „Wir haben sogar schon Pläne für den Sommer gemacht. Zu viert oder zu fünft an den See fahren und uns am Abend wieder abholen lassen“, erzählt eine ältere Dame. Doch daraus wurde nichts. Die Regierung hat das „Sozial-Taxi“ gestrichen. „Dass sie uns sowas noch antun, hätten wir uns nie gedacht“, sagt eine Kundin beim Aussteigen zu uns, als wir sie auf der letzten Fahrt begleiten.

Das war die letzte Fahrt im BIS-Mobil!

Michaela, die Krisenpflegemama: „Man muss schon sehr sozial veranlagt sein, um das zu machen.“

Michaela Muttenthaler ist Krisen-Mama in Wien. Sie hat zwei Söhne, eine Pflegetochter und 25 Kleinkinder betreut.

Im Oktober haben wir Michaela Muttenthaler kennen gelernt. Sie ist eine von Wiens engagierten Krisenpflege-Mamas. Sie versorgt Kleinstkinder, die aus einem krisengebeutelten Elternhaus stammen. Michaela kümmert mehrere Monate um die Kleinen, bis man eine passende Pflegefamilie findet. Die Kinder kommen in allen Zuständen: Manche kommen ohne Gewand, nur in der Windel bei Michaela an. Andere muss sie aus dem Krankenhaus holen, weil sie Schäden von Gewalt oder Drogenmissbrauch der Eltern davongetragen haben. Michaela nimmt die Kinder auf, gibt ihnen Nähe und arbeitet mit Geduld daran, dass die Kinder wieder Vertrauen fassen.

Wir haben im Gespräch schnell gemerkt: Krisenmama sein ist viel mehr als „ein bisschen Kinder hutschen“. Es ist ein anstrengender und verantwortungsvoller Job. Aber einer, der sehr schlecht entlohnt ist. „Man muss schon sehr sozial veranlagt sein, um das zu machen“, findet Michaela.

Hier geht’s zum Gespräch mit Michaela!

Hanna, die 6 Jahre ihren dementen Mann gepflegt hat

Hanna hat jahrelang ihren dementen Mann gepflegt.

Hanna Fiedler hat sechs Jahre lang ihren dementen Mann gepflegt. Vier Jahre davon ganz alleine – 24 Stunden am Tag. Sie hat aufgehört zu arbeiten, die Einsamkeit ertragen, um für ihn da zu sein. Hanna Fiedler hat ein paar Wünsche: Den Betroffenen zuhören und pflegende Angehörige unterstützen. Finanziell, aber auch durch Begleitung, Hilfe und Coaching.

Hier geht’s zum Gespräch mit Hanna!

Katarina, die von einer Pflege-Agentur ausgebeutet wurde

Zum Interview im November kommt Katarina direkt aus dem Dienst. Heute ist sie diplomierte Krankenpflegerin und hat einen Job, der gut bezahlt ist, wie sie sagt. Als sie das erste Mal nach Österreich kommt ist, ist sie 24h-Betreuerin. In ihren erstem Turnus hat sie „nur geweint“. Sie war schlecht ausgebildet und überfordert. Die Pflege-Agentur hat sie nicht unterstützt. Dafür gut an ihr verdient. Während die Familie 2.500 Euro bezahlt hat, hat sie 300 oder 400 Euro bekommen. Für 14 Tage, 24 Stunden, ohne Unterbrechung.

Hier geht’s zum Gespräch mit Katarina!

Günther, der für seinen 12-Jährigen Sohn mit Down-Syndrom sorgt: „Matthias braucht immer wen, der für ihn da ist“

Günther Weilinger hat einen 12-jährigen Sohn mit Down Syndrom.

Im Dezember haben wir Günther Weilinger in der Arbeit besucht. Er hat uns über seine Familie erzählt: Er und seine Frau haben zwei Kinder. Der Sohn, Matthias, ist 12 und hat Down Syndrom. Sie alle wohnen in Niederösterreich. Die Eltern leiden darunter, dass es für den Sohn keine ausreichende Nachmittagsbetreuung gibt. Weil seine Frau Matthias betreut, findet sie keinen Job, der mit der Betreuung vereinbar ist. Die Kürzungen bei der Mindestsicherung, die Abschaffung der Notstandshilfe, zu wenig Betreuung, überbordende Bürokratie, fehlende Ansprechpartner: Bei Familie Weilinger kommt alles zusammen. Die Wünsche, die die Weilingers haben, sind nicht groß. Soziale Sicherheit und mehr Inklusion stehen aber ganz oben auf der Liste.

Hier geht’s zum Gespräch mit Günther!

Claudia Sengeis und Waltraud Bäumel, die eine Selbsthilfegruppe für Eltern behinderter Kinder gegründet haben

Zwei Mütter erzählen wie es ist ein Kind mit Behinderung zu pflegen.

Waltraud und Claudia erzählen, wie es ist, ein Kind mit Behinderung zu betreuen und zu pflegen, und wenig Unterstützung zu bekommen.

Ebenfalls im Dezember haben wir Claudia und Waltraud getroffen. Sie haben beide Kinder mit Beeinträchtigungen. Die Pflege ist ein Vollzeitjob, der auch belastet. Sie leben vom Pflegegeld, das das Kind bekommt. Ob sie Anspruch auf Mindestsicherung haben, ist derzeit in jeden Bundesland anders. Während Wien pflegenden Angehörigen, ab der dritten Pflegestufe, „erlaubt“ zu Hause zu bleiben und trotzdem Mindestsicherung auszahlt, bekommt man in Niederösterreich nur die halbe Mindestsicherung. In Oberösterreich gar nichts.

Claudia und Waltraud erzählen, wie sie eine Selbsthilfe-Gruppe für andere Eltern gegründet haben. Und dass der Alltag für viele anstrengend ist. Für manche ist es ein Wunschtraum, einmal in der Woche zwei Stunden für sich zu haben, weil sie immer für ihre Kinder da sein müssen. „Wir haben Mütter in der Gruppe, die können nicht einmal einkaufen gehen, ohne dass jemand sich um ihr Kind kümmert, weil ihr Kind an der Beatmungsmaschine hängt“, erzählt Claudia.

Hier geht’s zum Gespräch mit Claudia und Waltraud!

Christine Nöstlinger, an die sich so viele in Österreich immer erinnern werden

Christine Nöstlinger bei unserem Interview im Frühjahr 2018 in Wien.

Als wir Christine Nöstlinger treffen, geht es ihr nicht gut. Sie ist sichtlich von Schmerzen geplagt, nimmt sich aber Zeit für ein Gespräch. Die wohl bekannteste Kinderbuch-Autorin des Landes ist in diesem Jahr im Alter von 81 Jahren verstorben. Mit uns hat sie eines ihrer letzten Interviews geführt. Wir haben mit ihr über seltene Glücksmomente, ihre Kindheit, die letzten Kriegstage in Wien, ihre „segelnde Oma“, ihr Dasein als junge Frau im konservativen Österreich, über ihre Bücher und über Resignation im hohen Alter gesprochen.

Hier geht’s zum Interview mit Christine Nöstlinger!

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Christa Winter
Christa Winter
23. Dezember 2018 15:17

Ja, einmal Ruhe von der Innenpolitik wäre schön. Aber gerade wenn der Bundeskanzler zu Weihnachten zu Punsch und Maroni lädt und alle darüber reden das christliche Abendland zu verteidigen, wird einem ganz kalt ums herz. Ich habe natürlich ganz konkret Angst, da mein Lebensgefährte und ich beide schwer körperbehindert sind und trotzdem selbstbestimmt leben. Nach all diesen Gemeinheiten 2018 Frage ich mich natürlich auch zu Weihnachten und gerade zum Jahreswechsel“wie lange werden sie uns noch so leben lassen?“ Ja, ich habe Angst.
Trotzdem habe ich 2018 einige ermutigende Erlebnisse gehabt. Liebes Redaktionsteam, wenn es euch interessiert erzähle ich sie nach und nach.

Gerald Demmel
Gerald Demmel
Reply to  Christa Winter
28. Dezember 2018 13:33

Liebe Frau Winter!

Schreiben Sie gern an redaktion@kontrast.at

Liebe Grüße, das Kontrast Team

Liebe Frau Winter,
Liebe Frau Winter,
Reply to  Christa Winter
1. Januar 2019 16:45

eigentlich habe ich mir fürs neue Jahr vorgenommen, niemandem mehr etwas Gutes zu wünschen. Tausende Stunden habe ich für andere kostenfrei gearbeitet (in meiner Freizeit) und nicht einen einzigen Gruß erhalten, was die

Verrohung der Gesellschaft

besser zeigt als alles andere. Aber Ihnen beiden wünsche ich nun doch das Beste, und dass ihnen diese Regierung nichts anhaben kann. Zum Glück bin ich jemand, der diesen Schmutz nicht gewählt hat und von solchen weiten Abstand nimmt.

Ein gut verlaufendes 2019 in allen Lebenslagen an Christa und ihren Lebensgefährten!

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