Die SPD hat turbulente Wochen hinter sich. Eine orientierungslose Partei hadert auf offener Bühne mit sich selbst. Andrea Nahles hat dazu in ihrer inzwischen berühmten Rede, die ihr letztlich das Amt des SPD-Parteivorsitzes eingebracht haben dürfte, einen sehr interessanten Satz gesagt:
„Und die Wahrheit ist auch, dass viele unserer europäischen nachbar-sozialdemokratischen Parteien, ob sie nun regiert haben oder nicht, in der selben Malaise hängen, denn offensichtlich, und das ist das, was wir an Erneuerung brauchen, ist es uns bisher nicht gelungen, genügend Antworten auf die Zukunft zu geben, den Leuten die Ängste zu nehmen und mehr Vertrauen zu generieren.“
Tatsächlich hat die SPD-Führung 15 Jahre nach der Agenda 2010 und zehn Jahre nach dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise immer noch nicht die nötigen Weichen gestellt. Die Partei tut sich auch deshalb so schwer mit der Regierungsbeteiligung, weil sie – wie viele ihrer Schwesterparteien in Kontinentaleuropa – gar nicht weiß, für welche Kernanliegen sie das verbleibende politische Gewicht überhaupt in die Waagschale werfen soll.
Die SPD hat keinen attraktiven und plausiblen Entwurf einer gesellschaftlichen Alternative zur Hand. Mittlerweile ist das keine Klage im Feuilleton, sondern die Diagnose der designierten Vorsitzenden der größten sozialdemokratischen Partei auf dem Kontinent.
Das ist umso verblüffender, als viele relevante Themen eigentlich auf der Straße liegen. Man könnte überspitzt sagen: Die großen Fragen der Zeit werden überall heißer diskutiert als in der sozialdemokratischen Parteienfamilie (wobei die SPÖ hier noch eine verhältnismäßig löbliche Ausnahme bildet 1). Was sind die Themen, aus denen Antworten für die Zukunft generiert werden müssen, um Ängste zu nehmen und Vertrauen zu gewinnen? Hier der Versuch eines thematischen Aufrisses ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Weil die Produktivität jährlich steigt, verliert manuelle Arbeit seit Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung. Darum müssen permanent neue Bedürfnisse geschaffen werden, um Wirtschaftswachstum und hohe Beschäftigung zu garantieren. Gleichzeitig ist der volkswirtschaftlich notwendige Reichtum, um ein materiell würdevolles Leben für alle zu ermöglichen, in den Industriestaaten spätestens seit den 1970er-Jahren Realität. Trotzdem wird der Statuswettbewerb mittels Steigerung von Konsum (und damit Produktion) weiter vorangetrieben.
Dabei könnten die Menschen durch die Automatisierung einfach weniger arbeiten anstatt mehr zu konsumieren – mit positiven Rückwirkungen auf Stresslevel, Lebensqualität, Gesundheit und Familienleben.
Das Thema hat auch eine ökologische Komponente: Bisher führten z.B. günstigere Strompreise etwa zu mehr Flugreisen (Rebound-Effekt). Bei mehr Freizeit anstelle von mehr Konsum führen Steigerungen der Energieeffizienz aber effektiv zu weniger Verbrauch. Um den Verbrauch der Europäer von derzeit 2,6 Erden pro Jahr auf eine Erde pro Jahr zu reduzieren und den Wohlstand damit über Generationen abzusichern, bedarf es einer effektiven Reduktion des Verbrauchs.
Es gibt viele gute Ideen, um die bisherigen Ziele umzusetzen:
Das Problem dabei ist, dass viele Ideen für einzelne Staaten schwer durchsetzbar sind. Eine große und wohlhabende Volkswirtschaft mit einem starken Binnenmarkt und einer durchsetzungsfähigen Regierung wie Deutschland kann einiges davon verwirklichen. Eine kleine aufstrebende Volkswirtschaft mit einem wenig bedeutsamen Binnenmarkt und einer Regierung, die sehr stark auf internationale Investoren angewiesen ist wie die Slowakei, kann weniger umsetzen.
Der Grund dafür ist die Standortkonkurrenz, die transnationalen wirtschaftlichen Akteuren die Möglichkeit gibt, national organisierte Demokratien zu erpressen. Wer Steuern und Löhne erhöht oder arbeitsrechtliche und ökologische Standards verbessert, dem drohen Abfluss von Kapital und Abwanderung von Unternehmen. Wenn aber Demokratien gar nicht mehr bestimmen können, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickeln soll, dann verkommt der politische Prozess zu einer Farce.
Die Politik braucht Gestaltungskraft um aus einem entfesselten Kapitalismus eine soziale Marktwirtschaft zu machen. Um dieses „Primat der Politik“ über die Wirtschaft wieder zu erlangen bedarf es zweierlei Strategien: Einer politische Regulierung des externen außereuropäischen Handels nach sozialen, ökologischen und arbeitsrechtlichen Standards, sowie einer Entwicklung der EU (oder einer Koalition der Willigen) in Richtung eines sozialen Binnenmarktes mit intern einheitlichen sozialen, steuerlichen und ökologischen Mindeststandards. Erst eine über die Nation hinausgehende Koordination von Politik ermöglicht, dass im Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft der Hund mit dem Schwanz wedelt und nicht umgekehrt.
Niemand kennt eine Antwort auf alle aufgeworfenen Fragen, wenngleich es auf alle diese Fragen Antworten gibt. Manche sind mehr, manche weniger ausgefeilt. Gewerkschaften und und keynesianisch orientierte Volkswirte beschäftigen sich mit Arbeitszeit und Lebensqualität, die gesamte Postwachstumsszene mit ökologischer Nachhaltigkeit, eine ganze Generation von ÖkonomInnen beschäftigt sich mit der Verteilungsfrage, das Thema „Regulierung der Globalisierung“ wird von ATTAC bis hin zu Harvard-Ökonom Dani Rodrik diskutiert.
Die Diskussion um die Zukunft findet statt, in der Zivilgesellschaft, in der Wissenschaft, in den Medien. Das Problem der SPD ist nur, sie ist nicht dabei. Und das obwohl die dortige Sozialdemokratie vor 150 Jahren fast das Monopol auf alternative Diskurse im deutschen Kaiserreich hatte. Heute ist die Gesellschaft zum Glück ausdifferenzierter und bunter. Es gibt keinen Grund diese Vielfalt zu beklagen. Es gäbe aber die Möglichkeit, der Vielfalt Raum im parteipolitischen Spektrum zu verschaffen, von ihr zu profitieren und aus ihrem Ideenreichtum eine attraktive politische Programmatik zu schmieden.
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