Afghanistan ist nun in den Händen der Taliban. Dr. Magdalena Kirchner ist die Leiterin eines Projekts der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung und war bis vor zwei Monaten in Kabul vor Ort. Sie gibt uns einen Einblick in ein verzweifeltes Land. Das Interview wurde vor der Übernahme der Taliban am 13. August 2021 geführt und wurde zuerst auf der Seite der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht.
Die Lebensbedingungen innerhalb des Landes variierten schon immer, Afghanistan ist ein sehr diverses Land und von starker sozialer Ungleichheit geprägt. Die Pandemie und die anhaltende Gewalt, die zehntausende Zivilist:innen getötet oder verwundet hat, aber auch die Folgen des Klimawandels haben die Armut im Land verschärft. Für Frauen und Mädchen sind die Lebensbedingungen noch einmal schwieriger. Nach Schätzungen von Expert:innen haben 90% der afghanischen Frauen schon einmal häusliche Gewalt erfahren. Dazu kommt die schon immer instabile Sicherheitslage, die natürlich alle trifft. Doch Frauen und Mädchen werden auch gezielt angegriffen: So gab es in Kabul 2020 und 2021 zwei besonders brutale Anschläge auf eine Geburtsstation und eine Mädchenschule mit weit über 100 Toten. Gleichzeitig gab es in den letzten Jahren aber natürlich auch Erfolgsgeschichten, wie die Ernennung der ersten Wirtschaftsministerin oder eine stetig steigende Zahl von Uniabsolventinnen.
Dass der Abzug schnell gehen muss, war klar, denn die Abzugsfrist, zu der sich die USA verpflichtet hatten, ist ja eigentlich am 1. Mai abgelaufen und die NATO-Staaten hatten große Sorgen vor Angriffen auf ihre eigenen Soldat:innen. Mich hat allerdings überrascht, dass der Abzug nun plötzlich bedingungslos – also unbenommen der Gewalt oder der ausbleibenden Fortschritte im Friedensprozess – vollzogen werden sollte. Damit wurde der Regierung in Kabul auch ein psychologischer Schlag versetzt. Auf einmal konnte sie sich nicht mehr der bedingungslosen Unterstützung der internationalen Gemeinschaft sicher sein.
Bei den Unterstützern der Taliban sicher mit Genugtuung. Auf der Seite der Unterstützer der Republik:
Unglauben, Realitätsverweigerung, Schockstarre und Enttäuschung darüber, von der „Schutzmacht“, die viele in der ja sehr jungen afghanischen Bevölkerung schon ihr ganzes Leben begleitet hat, verlassen worden zu sein.
Viele haben nun Angst, dass sich die Sicherheitslage in Kabul dramatisch verschlechtert, einige fürchten, als Mitarbeitende der NATO-Streitkräfte oder internationaler Organisationen ihre Existenz oder gar ihr Leben zu verlieren. Viele versuchen, das Land zu verlassen.
Ich sehe eine Zwei-Phasen Entwicklung. Die Hürden für Afghan:innen überhaupt erst einmal das Land zu verlassen, haben sich in den Monaten extrem erhöht. Viele Grenzübergänge werden von den Taliban kontrolliert, allein die türkische Botschaft in Kabul hat Berichten zufolge von mehreren zehntausend Anträgen gesprochen. Um die 3.000 Menschen stellen sich jeden Morgen bei der Passstelle an, um Reisedokumente zu bekommen. Schwarzmarktpreise für Visa gehen in die Tausende US-Dollar und mit dem Verweis auf die Corona-Pandemie haben die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien und die Türkei Einreisebestimmungen weiter verschärft. Meine Annahme ist, dass viele, die jetzt das Land verlassen, zunächst in den Transitstaaten Iran, Pakistan und Türkei bleiben werden, bis sie das Geld für die Weiterreise zusammen bekommen. Inwieweit es dann zu einem Anstieg der afghanischen Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln kommt, wird auch davon abhängen, welchen Kurs die EU und die Türkei in ihrer weiteren gemeinsamen Migrationspolitik einschlagen.
Ich habe den Eindruck, wir laufen hier in ein ähnliches Dilemma wie 2015. Die verzweifelte Situation der afghanischen Schutzsuchenden in den Anrainerstaaten ist bekannt und eine Rückkehr nach Afghanistan bis auf Weiteres nicht absehbar. Wenn wir nicht aktiv die Resettlement-Quoten erhöhen, wird sich dies auch – auf dem Rücken der Schutzsuchenden – an unserer Außengrenze bemerkbar machen.
Ich stelle es mir, ehrlich gesagt, sehr schwer vor, in einem der brutalsten Gewaltkonflikte derzeit mit wechselnden Fronten überall im Land, aktuell von außen Zukunftsperspektiven schaffen zu können, die Emigration verhindern sollen. Wir wissen ja nicht einmal, wie lange und unter welchen Bedingungen es eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit mit Afghanistan noch geben wird. Ja, viele Menschen verlassen das Land wegen fehlender Perspektiven, aber jetzt wollen auch viele weg, die noch ein sicheres Einkommen und Jobs haben, aus Angst um das eigene Überleben. Meiner Meinung nach sollte die Bundesregierung viel stärker, als bisher, mit den Transit- und Aufnahmestaaten kooperieren und sowohl Schutzsuchende als auch Aufnahmegesellschaften dort unterstützen. Innerhalb des Landes ist jetzt vor allem humanitäre Hilfe nötig, aber auch im Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur.
Unsere lokalen Mitarbeiter:innen teilen natürlich die Ängste der meisten Afghan:innen in Kabul – seit 2019 ist die Büroleitung nicht mehr dauerhaft in Kabul präsent und Corona hat regelmäßige Aufenthalte noch schwieriger gemacht. Unser Büroalltag ist also meistens virtuell, doch manchmal kämpfen wir auch mit Stromausfällen, weil Stromleitungen angegriffen wurden. Obwohl es in Kabul noch keine Gefechte gibt, haben unsere Mitarbeiter:innen die Konsequenzen der Gewalt täglich vor Augen: Ein Park unweit unseres Büros ist seit ein paar Tagen Anlaufstelle hunderter Familien, die vor der Gewalt z.B. in Kunduz geflohen sind und dort Schutz suchen. Veranstaltungen außerhalb Kabuls haben wir bis auf Weiteres einstellen müssen, gleichzeitig wollen wir – so lange es geht – zivilgesellschaftlichen Austausch ermöglichen und unsere Präsenz und Ressourcen vor Ort nutzen, um beispielsweise auf die dramatische sozio-ökonomische Lage im Land hinweisen zu können. Doch natürlich machen wir uns auch viele Gedanken um die Sicherheit unserer Kolleg:innen. Sie haben nicht nur Angst, dass ihre Arbeit für uns – zum Teil schon von den ersten Schritten der FES in Kabul 2002 an – nun ein großes Risiko für ihr Leben, aber auch das ihrer Familien darstellt, sollten die Taliban die Hauptstadt einnehmen und sich an vermeintlichen „Spionen“ rächen wollen. Sie sind auch in Sorge um ihre Söhne und Töchter, in deren Ausbildung sie jeden Afghani, also all ihr Geld, gesteckt haben, um ihnen eine bessere Zukunft bieten zu können. Jede:r unserer Mitarbeiter:innen hat in der Vergangenheit bereits Fluchterfahrung sammeln müssen und gehofft, eine solche Situation nicht noch einmal zu erfahren. Angesichts der dramatischen Lage bemühen wir uns als Stiftung derzeit natürlich aktiv darum, unsere Mitarbeiter:innen in Sicherheit zu bringen.
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