Bildung

Machen Noten Kinder erfolgreich oder unglücklich?

Noten tun unseren Kindern nicht gut. Weder den Schüler:innen mit Lernschwächen, noch den „guten“ Schüler:innen. Studien zeigen: Regelmäßiges Feedback bringt mehr als schulische Strenge, kleinere Klassen oder mehr Hausübung. Auch der PISA-Sieger Singapur schafft deshalb die Noten in den ersten beiden Schulstufen ab. 

Im Sommer 2018 ist eine große Regierungsdelegation nach Singapur gereist, um vom „Bildungssieger“ zu lernen. Denn Singapur erreicht in den letzten Jahren stets Spitzenplätze beim Pisa-Ranking der OECD. Der damalige Bundeskanzler Kurz betonte, die besten Ideen nach Österreich mitnehmen zu wollen.

Im Herbst 2018 hat Singapur die Schulnoten in den ersten beiden Volksschul-Stufen abgeschafft. Auch in den späteren Klassen soll der Vergleich zwischen Schülern in den Hintergrund treten: „Lernen ist kein Wettbewerb“, sagt der Bildungsminister von Singapur, Ong Ye Kung. Neben dem Aus für Noten in den ersten beiden Schuljahren sind weitere Schritte geplant, um Kinder zu ermutigen, sich auf ihren eigenen Lernfortschritt zu konzentrieren statt sich mit anderen zu vergleichen.

Singapur ist für sein äußerst strenges Schulsystem bekannt, der Druck auf Schüler ist dort enorm hoch. Der Inselstaat fällt nicht unter den Verdacht der „Kuschelpädagogik“. Er hat einfach erkannt, dass der Fokus auf Noten und den Vergleich Lernfortschritte hemmt. Und Singapurs Jugend nicht optimal auf Anforderungen in der Forschung, am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft vorbereitet – und darum geht es Singapur vor allem.

Die Debatte dreht sich also nicht um die Frage, ob Noten Kindern zumutbar sind oder nicht. Die entscheidende Frage liegt woanders: Fördern Noten den Lernerfolg – oder blockieren sie ihn?

Feedback schlägt Noten – um Längen

Bildungswissenschaftliche Studien zeigen recht eindeutig, wie man das Schulsystem verbessern kann: mit regelmäßigem Feedback während des Schuljahres, nicht mit Noten.

SchülerInnen lernen nachweislich schneller, tiefer und grundlegender, wenn sie Rückmeldungen erhalten. Wenn sie erfahren, wo sie stehen, wo ihre Defizite sind und was ihre nächsten Lernschritte sind.

So hat eine Studie der ForscherInnen Anastasiya A. Lipnevich und Jeffrey K. Smith ergeben, dass Rückmeldungen Lernprozesse beschleunigen. In der Studie sollten Schüler:innen lernen, wie sie einen Essay schreiben – und bekamen dann entweder Feedback und eine Note, nur Feedback, nur eine Note oder gar keine Rückmeldung. Die Ergebnisse sind spannend:

  • Wer keine Rückmeldung bekam, lernte am langsamsten. Wer weder Noten noch Feedback erhält, wird alleine gelassen. Deswegen sind Noten besser als nichts – als gar keine Rückmeldung.
  • Wer Noten ohne Feedback erhielt, hat ein wenig besser gelernt.
  • Bei Noten und Feedback wurde schon deutlich schneller gelernt.
  • Aber wer nur Feedback erhielt, der lernte mit Abstand am meisten. Ja, richtig: Feedback ohne Noten ist besser als Feedback plus Noten.

Feedback schlägt Strenge, kleinere Klassen und Hausübung

Der neuseeländische Wissenschaftler John Hattie hat in einer umfassenden Arbeit tausende Studien analysiert und vergleichbar gemacht. Dabei wurde deutlich, dass es vielfältige Herangehensweisen gibt, die Schulen voranbringen. Hattie stellte fest:

Immer dann, wenn SchülerInnen wissen, was zu tun ist, was sie können und wie sie sich weiterentwickeln können, beschleunigt sich ihr Lernen. Mehr als in kleinen Klassen, mehr als in besonders streng geführten Klassen oder mehr als in Klassen mit viel Hausübung. Fast immer im Zentrum: Feedback.

Erhalten SchülerInnen genaue Rückmeldungen, dann können sie am besten lernen. Denn dann wissen sie genau, wo ihre Schwächen und Stärken sind und woran sie arbeiten müssen. Weder strenge Lehrer oder viel Hausübung leisten dies.

Noten sind Vampire

Warum ergab die Studie nun, dass SchülerInnen mit Feedback und Noten schlechter abschnitten, als SchülerInnen, die nur Feedback erhielten? Die Antwort ist einfach: Noten sind Vampire, sie ernähren sich nur nicht von Blut. Sondern von Aufmerksamkeit.

Was macht jemand, der eine benotete Arbeit zurückbekommt? Genau, er sieht sich seine Note an. Und dann? Dann blickt er zu seinen Nachbarn und vergleicht sich. Bei schlechten Noten ist man unzufrieden, aufgewühlt oder wütend – und es gehört schon eine Portion Überwindung dazu, sich jetzt noch mit dem Feedback auseinanderzusetzen. Bekommt man hingegen keine Note, kann man seine ganze Aufmerksamkeit auf die Rückmeldung richten. Man kann sich in Ruhe ansehen, was man gut und was schlecht gemacht hat und sich die nächsten Lernschritte überlegen.

Noten sind auch für die „guten“ SchülerInnen nachteilig

Kinder sind im Normalfall zu Beginn ihrer Schullaufbahn motiviert zu lernen. Sobald Noten im Schulleben eine Rolle spielen, verändert sich die Motivation. Aus dem inneren Bedürfnis, zu lernen, wird schnell der Wunsch, gute Noten zu bekommen.

Erhält ein Kind mehrere schlechte Noten, sinkt infolge die Motivation zu lernen. Schlechte Noten spornen nur die Wenigsten an – auch wenn wir ständig das Gegenteil hören. Stattdessen verbinden sich Unlust und Angst mit dem Lernen.

Aber auch auf gute SchülerInnen wirken Noten nachteilig: Wenn das Ziel eine gute Note ist, gehen auch sehr gute SchülerInnen die einfachsten Wege. Warum sollten sie beim Aufsatz Fremdwörter oder komplexere Argumentationen riskieren, wenn sie eine gute Note haben möchten?

Infolge sinkt auch bei ihnen das Lerntempo. Und sie können ihre Potentiale nicht ausschöpfen.

Schulen ohne Noten: Längst Realität

Ob aus all dem folgt, dass Noten abgeschafft werden sollten, ist eine andere Frage. Realistisch gesehen, braucht eine tiefgreifende Veränderung der Schulen Zeit. Feedback kann Noten ersetzen, aber nicht von heute auf Morgen. Zuerst muss in die LehrerInnenausbildung investiert werden und in den politischen Diskussionen müssen wissenschaftliche Erkenntnisse Raum bekommen.

Und dabei darf man nicht vergessen: Schulen ohne Noten sind in vielen Ländern bereits Realität. In Finnland, einem der europäischen Vorzeigeländer in Sachen Bildung, bekommen SchülerInnen mit 15 das erste Mal Noten. Auch in Schweden gibt es in den Grundschulen keine Noten. Beide Länder schneiden bei internationalen Vergleichstests besser ab als Österreich – Finnland ganz besonders deutlich.

[veröffentlicht am 14. Dez 2017, aktualisiert am 3. Februar 2023] 

Die 4-Tage-Woche - Pro oder Contra?
  • Recht auf 4-Tage-Woche sofort starten 73%, 73 % der Stimmen
    73 % der Stimmen 73%
    73 % der Stimmen
  • Für ein repräsentatives Pilotprojekt als Test 18%, 18 % der Stimmen
    18 % der Stimmen 18%
    18 % der Stimmen
  • Bin gegen die 4-Tage-Woche 9%, 9 % der Stimmen
    9 % der Stimmen 9%
    9 % der Stimmen
397 Abstimmungen
21. März 2023
×
Von deiner IP-Adresse wurde bereits abgestimmt.

Neue Artikel

Du willst keine 13. Monatsmiete zahlen? Dann sag es der ÖVP – gleich hier!

Die ÖVP will keine Mietpreisbremse. Mieten sind an die Inflation gebunden und steigen deshalb ab…

23. März 2023

SPÖ-Mitgliederbefragung: Wer bis Freitag Mitglied ist, darf mitstimmen

Am Mittwoch einigte sich das SPÖ-Präsidium auf ein Verfahren für die Mitgliederbefragung zum Parteivorsitz. Jedes…

23. März 2023

Wer zur Miete wohnt, sollte nicht die ÖVP wählen – 5 Gründe

Die ÖVP könnte sich in "Österreichische Vermieter Partei" umbenennen - die Buchstaben würden passen, die…

22. März 2023

Immo-Lobby setzt sich durch: ÖVP verhindert Mietpreisbremse endgültig

Nach wochenlangem Hin- und Her ist jetzt klar: Die ÖVP hat eine Mietpreisbremse verhindert. Das…

22. März 2023

Die gleichen Lügen seit 100 Jahren: Wie ÖVP und Lobbyisten kürzere Arbeitszeiten verhindern wollen

Die ÖVP wehrt sich gegen die Arbeitszeitverkürzung – seit über 100 Jahren. Geht es nach…

22. März 2023

Wegen ÖVP Klientelpolitik droht 8,6% Mieterhöhung

Passiert nichts steigen die Mieten im Altbau ab 1. April abermals - und zwar um…

21. März 2023