Digitalisierung, Freizeit-Stress, Corona-Krise: Unser Arbeits- und Freizeitleben hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. „Wir müssen über neue Arbeitsmodelle diskutieren“, sagt Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt. Welche Rolle die Vier-Tage-Woche dabei spielt und wie sich die Work-Life-Balance dadurch verändert, bespricht er mit Kontrast.
Ulrich Reinhardt: Ich konzentriere ich mich auf die Bevölkerung und analysiere, wie sich die Wünsche, Bedürfnisse, Ängste und Verhaltensweisen entwickeln. Dabei untersuche ich nicht nur, wie wir morgen leben werden, sondern auch stets, wie wir morgen leben wollen, denn vieles mag – gerade technisch – durchaus möglich sein, die Frage muss aber immer lauten: Wollen wir das auch?
Wissenschaftlich betrachtet ist Freizeit die Zeit, in der man etwas tut, weil man es möchte, nicht, weil man es muss oder sich dazu verpflichtet fühlt. Wie diese dann ausgestaltet wird, ist individuell ganz unterschiedlich. Für den einen steht die körperliche Erholung im Vordergrund, für andere der soziale Kontakt, ein Hobby oder eine körperliche Aktivität.
Die letzte größere Arbeitszeitverkürzung in Österreich fand vor rund einem halben Jahrhundert mit der Einführung der 5-Tage-Woche statt. Seitdem ist nicht mehr wirklich viel passiert. Im technischen Bereich hingegen hat sich in den vergangen 50 Jahren enorm viel getan.
Man könnte daher fragen, was nützt die Weiterentwicklung von Maschinen und Prozessen und die Steigerung der Produktivität, wenn wir genauso viel arbeiten wie die vorigen Generationen.
Aber es geht nicht nur um die Quantität der freien Zeit, sondern auch die Qualität. Derzeit wird auch die Freizeit zunehmend optimiert. Wir springen von einer Aktivität zur nächsten, versuchen überall dabei zu sein und es jedem recht zu machen. Freizeit wird da schnell zur Stresszeit.
Der Ursprung der Freizeit ist die Regeneration – von und für die Arbeit. Wenn wir nicht genügend Erholungszeit haben bzw. uns nehmen, leidet unsere Gesundheit und auch unsere Zufriedenheit. Genauso nimmt übrigens auch unsere Produktivität ab. Insofern sind genügend Auszeiten enorm wichtig für unsere Leistungsfähigkeit, unser Wohlbefinden und unsere Lebensqualität.
In den vergangenen Jahren hat in der Gesellschaft die Tendenz zur stetigen Optimierung von Körper und Geist stark zugenommen. Demnach müssen nicht nur die Arbeit und der eigene Körper optimiert werden, sondern auch die Freizeit muss – zumindest gefühlt – so effizient wie möglich gestaltet und jede zeitliche Lücke gefüllt werden. Sinnvoll wäre es jedoch, an einem zusätzlichen freien Tag genau das zu machen, wozu man Lust hat, und damit seinen eigenen persönlichen Bedürfnissen nachzugehen, ohne sich von Verpflichtungen leiten zu lassen. Hierzu gehört u.a. auch wieder mehr Spontanität und weniger Planung.
Jedes Jahr befragen wir die Bürger nach ihrem Freizeitverhalten. Ganz oben landen stets die Medien – von Fernsehen über das Smartphone bis zum Internet. Gleichzeit fragen wir aber auch, was die Bürger gerne häufiger in ihrer freien Zeit machen würden. Hier tauchen Medien fast gar nicht auf, sondern nahezu nur soziale Aktivitäten – wie mehr Zeit für Freunde und Familie, öfter Einladungen aussprechen, mehr Zeit für die Nachbarn oder Gleichgesinnte. Kritisch kann man daher fragen, wieso wir in unserer Freizeit eigentlich nicht das machen, was wir tatsächlich wollen. Die Verantwortung trägt hierfür in erste Linie jeder selbst.
Es gibt Fallbeispiele, bei denen Arbeitnehmer aus wirtschaftlichen Gründen ihre Arbeitszeit zeitweise von fünf auf vier Tage reduzieren mussten. Als diese Verkürzung nicht mehr nötig war, wollten die Allermeisten nicht mehr zurück zur Vollzeit-Stelle, sondern hatten sich mit zum Beispiel 80 Prozent Einkommen zurechtgefunden und wollten lieber mehr Zeit für sich und die Familie haben.
Der individuelle Zeitgewinn war demnach wichtiger als das höhere Gehalt. Lohneinbußen von 20 Prozent könnte sich aber sicherlich nicht jeder leisten.
Die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, dass zahlreiche Möglichkeiten der Vernetzung und Kommunikation gegeben sind und viele Tätigkeiten auch unabhängig vom Standort erfolgen können. Wichtig dabei ist, Organisation, Ort und Zeit der Arbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern flexibel zu vereinbaren – bei gleichzeitiger Sicherung des Arbeitsplatzes.
Für die Arbeitgeber bedeutet dies mehr Vertrauen gegenüber den Arbeitnehmern bei gleichzeitiger Chance auf mehr Produktivität, mehr Engagement, mehr Loyalität und ggf. sogar weniger Ausfallzeiten der Angestellten. Für Arbeitnehmer geht diese Vertrauens-Arbeitszeit mit mehr Flexibilität und dem Wegfall von Wegezeiten einher, fordert gleichzeitig aber auch mehr Eigenverantwortung.
Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Jedoch gibt es Untersuchungen, die eindeutig belegen, dass zufriedene Mitarbeiter produktiver sind. Denken Sie nur an die zahlreichen Zusatzleistungen, die Tech-Unternehmen im Silicon Valley ihren Angestellten gewähren. Diese dienen auf der einen Seite dem Wohl der Mitarbeiter, führen auf der anderen Seite aber auch zu mehr Leistungsbereitschaft. Zudem spielen auch Anerkennung, Gestaltungsmöglichkeiten oder die Sinnfrage eine zentrale Rolle bei der Motivation und damit am Ende auch bei der individuellen Produktivität.
Machbar sicherlich, aber ob diese auch sinnvoll und realistisch sind, ist eine andere Frage.
In Zeiten von veränderten Rahmenbedingungen entstehen schließlich ebenso neue Möglichkeiten, wie aber auch neue Herausforderungen. Daher ist es richtig und wichtig, neue Ideen zu entwickeln, diese auszuprobieren, ggf. anzupassen, zu verwerfen oder zu verbessern. Pauschal-Lösungen wird es dabei kaum geben, muss es ja aber auch nicht.
Am Ende sollte jedoch stets sichergestellt sein, dass die Wirtschaft dem Menschen dient und nicht umgekehrt.
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