Bevor am 2. März die siebte Verhandlungsrunde der Sozialwirtschaft stattfindet, finden in 300 Betrieben Warnstreiks statt. Die Beschäftigten im Pflege- und Sozialbereich wollen eine 35-Stunden-Woche – bei vollem Lohn. Über die Anliegen der Beschäftigten in der Sozialwirtschaft und den Abläufen in den Verhandlungen, erzählt Chefverhandlerin für die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA-djp) Eva Scherz im KONTRAST-Interview.
„Natürlich beobachten wir das“, sagt der Chefverhandler der Arbeitgeber Walter Marschitz am Mittwoch. Die Streiks sind ein Indiz dafür, wie wichtig den Beschäftigten der Pflege und Sozialberufe das Thema Arbeitszeitverkürzung ist. In 300 Betrieben wird gestreikt, diese Woche traten zum ersten Mal in der Geschichte der Caritas auch dort die Beschäftigten in den Streik – und stündlich kommen neue Betriebe dazu, sagt Eva Scherz, Verhandlerin für die Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA-djp). Auch der Zuspruch aus der Bevölkerung ist groß.
Für die Streikdemo am Donnerstag in Wien erwartet Scherz mehr als 1.000 Teilnehmer. Der Protestmarsch startet um 14 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Praterstern. Danach zieht die Menge mit einigen Zwischenstationen bis vor das Sozialministerium, wo wie schon zuletzt Reden von Streikenden geplant sind.
Scherz: Unsere Branche ist anders als andere Branchen in Österreich. Wir haben einerseits einen extrem hohen Teilzeitanteil – 70% unserer Beschäftigten arbeiten Teilzeit. Außerdem sind über 70% Frauen. Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche kommt übrigens gar nicht von der Gewerkschaft, sondern von den Beschäftigten in den Betrieben und von den Betriebsrätinnen und Betriebsräten. Wir glauben, dass es dringend notwendig ist, die Kolleginnen zu entlasten, die Vollzeit arbeiten. Sie leisten emotionale Schwerstarbeit. Andererseits würde eine Arbeitszeitverkürzung für Teilzeitbeschäftigte eine kräftige Lohn- und Gehaltserhöhung von 8,6% bedeuten.
Scherz: Ein Grund dafür ist die hohe Belastung, die Vollzeitanstellung oft fast gar nicht möglich machtz. Aber diese Branche ist eben eine Frauenbranche. Frauen müssen neben dem Job häufig auch die Kinderbetreuung und die Pflege Angehöriger wahrnehmen. Ein weiterer Grund ist, dass Arbeitgeber fast nur mehr Teilzeitstellen anbieten, denn diese gewährleisten eine Flexibilität im Arbeitsalltag. Ausfälle im Dienstplan können auf diese Weise leichter ausgeglichen werden.
Scherz: Die Gewerkschaft und die Betriebsrätinnen und Betriebsräte aus diesem Bereich verhandeln mit den Arbeitgebern der Sozialwirtschaft Österreich. Um Beispiele zu nennen: Volkshilfe, Lebenswerk, SeneCura.
Scherz: Es gab ein konstruktives Gesprächsklima. Wir waren mit den Arbeitgebern in vielen Punkten einig, nämlich das etwas passieren muss, um den Sozialbereich attraktiver zu gestalten. Leider sind die Verhandlungen gekippt.
Wir waren bereit mit den Verhandlungspartnern einen Stufenplan zu besprechen. In den letzten Runden gab es nur Gesprächsverweigerungen und keine Ideen der Arbeitgeber.
Scherz: Fast jeder von uns hat Angehörige, die in der Sozialwirtschaft arbeiten. Wir haben einen breiten Kollektivvertrag, der reicht von der Wiege bis zur Bare und betrifft jede und jeden von uns. Denn wenn unsere Angehörigen gut versorgt sind, unsere Kinder gut betreut sind, dann hilft das uns allen.
Die Angehörigen sehen, was für tolle Arbeit hier geleistet wird und wieviel Liebe und Herzblut die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in diesem Bereich mitbringen.
Hinter uns stehen auch einige Pensionistenverbände und Jugendorganisationen, die ebenfalls die tolle Arbeit der Kolleginnen und Kollegen wertschätzen. Das motiviert uns natürlich.
Scherz: Die Arbeit im Sozial- und Gesundheitsbereich ist die Arbeit rund um den Menschen. Kolleginnen von mir haben ein Lied gedichtet, in dem sie singen: „Man teilt einfach alles.“ Und so ist es auch. Man teilt Freude, Entwicklungsfortschritte, aber auch viel Leid. Der Umgang damit gestaltet sich schwer, denn man ist ständig damit konfrontiert und kann sich im Arbeitsalltag keine Pause davon genehmigen. Man ist ständig in Kontakt mit Menschen, das unterscheidet diesen Bereich von anderen Branchen.
Scherz: Durch die emotionale Schwerstarbeit entsteht eine enorme psychische Belastung. In dieser Branche haben wir höhere Burnout-Raten als in allen anderen Berufsfeldern. Auch die körperliche Belastung ist nicht zu vernachlässigen – vor allem in der Pflege. Gerade dort ist die körperliche Beanspruchung sehr hoch. Das ist auch der Grund – also die physische und psychische Beanspruchung – warum viele Menschen diesen Bereich schnell wieder verlassen.
Scherz: Zahlenwerte wurden bisher noch nicht erhoben, doch die durchschnittliche Verweildauer in sozialen Berufen liegt weit unter dem Durchschnitt vieler anderer Branchen. Das ist natürlich sehr schade, denn diese Menschen bringen wichtige Kompetenzen mit, die wir in diesem Bereich brauchen.
Deswegen ist es uns wichtig die Arbeitsbedingungen in der Sozialwirtschaft so zu gestalten und zu verbessern, dass Kolleginnen und Kollegen, die sich für eine Ausbildung in diesem Bereich entschieden haben, in diesem Bereich gut arbeiten können.
Scherz: Das ist eines der größten Probleme. Vor allem die mobile Pflege ist davon stark betroffen. Es gibt Bemühungen die Dienste besser einzuteilen, aber das Problem ist die Beständigkeit der Dienstpläne. Oft müssen Kolleginnen einspringen, diese bewältigen dann einen zusätzlichen Dienst – meistens noch am selben Tag. Die Zeit zwischen solchen Diensten reicht kaum aus um Persönliches oder Privates zu erledigen. Mir ist auch bekannt, dass manche Kolleginnen zwischen den Diensten im Auto schlafen, um die kommenden Stunden bewältigen zu können.
Scherz: Das kommt noch dazu. Beschäftigte in der Sozialwirtschaft arbeiten oft rund um die Uhr, das ganze Jahr lang. Dementsprechend ist das Privatleben eingeschnürt. Das ist auch der Grund für die hohen Teilzeitbeschäftigungen.
Scherz: Durch unsere Forderungen wollen wir den besagten Pflegenotstand abwenden. Die Bevölkerung wird immer älter, deswegen wächst der Bedarf an Pflegekräften enorm. Es braucht einen Mix an verschiedenen Maßnahmen, um Beschäftigte für diesen Bereich zu gewinnen. Sehr wichtig ist es außerdem, die Kolleginnen und Kollegen, die heute schon in diesem Bereich arbeiten, zu halten.
Der erste Schritt dafür ist die Einführung der 35-Stunden-Woche als Anerkennung für die tolle geleistete Arbeit.
Scherz: Ich glaube es scheitert nur am Willen der Umsetzung. Die 35-Stunden-Woche ist machbar und finanzierbar. Das im Sozialbereich ein Wandel dringlich Notwendig ist, erkennt mittlerweile ein Großteil der Bevölkerung.
Scherz: Keine politische Partei hat mit den Verhandlungen zu tun. Natürlich gibt es Interessen, die im Hintergrund eine Rolle spielen. Am Verhandlungstisch sitzen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter.
Scherz: Die WKO vertritt nicht unseren Bereich. Unsere Betriebe sind nur zur einem geringen Anteil in der Wirtschaftskammer präsentiert.
Der WKO-Präsident Mahrer ist ahnungslos, wenn er über unsere Branche spricht und er sollte sich da auch nicht einmischen.
Scherz: Wir haben einen großen Zuspruch von Angehörigen, aber auch von unseren Klientinnen und Klienten. Uns wird gesagt: „Kämpft weiter, ihr habt es Euch verdient. Ihr macht eine tolle Arbeit!“. Sie stehen hinter dem Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen. Teilweise übernehmen Angehörige Aufgaben, um den Kolleginnen den Streik reibungslos möglich zu machen, denn der Betrieb soll nicht gefährdet werden.
Scherz: Das größte Problem ist, dass die Arbeitgeber mit uns in den Verhandlungen nicht konstruktiv reden wollen. Sie sagen lediglich ,dass die 35-Stunden-Woche nicht finanzierbar und umsetzbar wäre. Einerseits ist sie finanzierbar, weil das Angebot der Arbeitgeber für heuer und nächstes Jahr eine Gehaltserhöhung von 2,7% vorsieht. Das entspricht genau einer Stunde Arbeitszeitverkürzung. Mit ein bisschen Willen könnte man die dritte Stunde auch realisieren. Andererseits beharren sie auf dem Argument, dass diese Arbeitszeitverkürzung alleine durch den Pflegekräftemangel nicht umsetzbar wäre.
Dem können wir nur entgegenwirken: Wir haben ein sehr großes Pflegekräftepotential, weil in der Sozialwirtschaft ca. 70% Teilzeit arbeiten und wir dieses Potential weiter heben wollen. Berechnungen für ein Pflegeheim mit etwa 100 Beschäftigten ergeben, dass es ungefähr 5 zusätzliche Arbeitskräfte benötigen würde oder die Kolleginnen würden diese Arbeit übernehmen. Die Beschäftigten arbeiten im Schnitt schon zur Hälfte Vollzeit und zur Hälfte Teilzeit.
Es ist machbar, umsetzbar und finanzierbar.
Scherz: Wir werden am 2. März weiterverhandeln und hoffen, dass sich die Arbeitgeber für weitere Gespräche bereiterklären und uns entgegenkommen. Sollte das nicht der Fall sein, werden wir uns weitere Maßnahmen überlegen.
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