Das Unabhängigkeits-Referendum in Katalonien war vom gewaltsamen Vorgehen der spanischen Sicherheitskräfte überschattet. Trotz des enormen Polizeiaufgebots haben tausende Katalanen an dem verbotenen Unabhängigkeits-Referendum teilgenommen. Wir haben mit dem Ökonomen David Lizoain aus Barcelona über zivilen Ungehorsam, die Strategie von Rajoy und die Zukunft Kataloniens gesprochen.
Warum hat die Bewegung für Kataloniens Unabhängigkeit in den letzten Jahren so an Zustimmung gewonnen?
Die zwei wichtigsten Ursachen sind, dass Kataloniens neues Autonomiestatut 2010 vom Spanischen Verfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt wurde und zweitens, dass im Zuge der Wirtschaftskrise und mehrerer Korruptionsskandale das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen Spaniens schwer erschüttert wurde. Beachtenswert: die Unterstützung der Unabhängigkeit hat in den letzten Jahren stagniert oder ist sogar leicht zurückgegangen.
Die sozialen Medien sind im Moment voll mit Bildern von Polizeigewalt und Menschengruppen, die Polizeibeamte von Wahllokalen vertreiben – was ist genau passiert?
Diese Bilder werden bestimmen, wie wir uns an diesen Tag erinnern. Die Polizei hat die Anordnung bekommen, die Abstimmung zu verhindern – und die Antwort darauf war eine massive Welle des friedlichen zivilen Ungehorsams. Die Polizei hat in vielen Fällen mit exzessiver Gewalt gegen unbewaffnete ZivilistInnen reagiert, Hunderte wurden verletzt. Das hat die friedlichen Proteste weiter angefacht und in einigen Fällen musste die Polizei den Rückzug antreten. Die Regierung unter Ministerpräsident Rajoy hat eine Strategie gewählt, die sowohl repressiv als auch ineffektiv war. Das wird seine Präsidentschaft nachhaltig prägen.
Rajoy hat vollkommen den Bezug zur Wirklichkeit verloren.
Das Spanische Verfassungsgericht hat das Unabhängigkeits-Referendum für illegal erklärt. Warum hat die spanische Regierung die Durchführung nicht zugelassen und die Abstimmung danach einfach für ungültig erklärt?
Es gab tatsächlich bei der Volksbefragung am 9. November 2014 eine ähnliche Situation. Millionen Menschen haben abgestimmt, aber das Resultat hatte keine Rechtskraft. Aber im Nachhinein fühlte sich die Rajoy-Regierung von der katalanischen Regionalregierung betrogen, weil diese die Abstimmung als großen Erfolg verkauft hat. Hardliner in seiner konservativen Partido Popular (PP, Regierungspartei, Anm.) haben ein härteres Vorgehen gefordert. Rajoy hat gestern darauf verwiesen, dass die Abhaltung des Referendums „vorbildlich“ unterbunden wurde und hat so getan, als ob alles in bester Ordnung sei. Diese Bemerkungen waren an seine Wählerschaft gerichtet, nicht an das gesamte spanische Volk. Er hat vollkommen den Bezug zur Wirklichkeit verloren.
Sollte das katalanische Parlament einseitig die Unabhängigkeit erklären, wird die Zentralregierung mit einer Suspendierung der regionalen Autonomie antworten.
Wie kann diese Patt-Situation überwunden werden? Wie können die politischen Akteure die Situation deeskalieren und wie kann eine Verhandlungslösung aussehen?
Die Lage ist äußerst kompliziert, vor allem nach der gestrigen Gewalt gegen ZivilistInnen. Von den beiden konkurrierenden Nationalismen wird keiner so schnell aufgeben. Sollte das katalanische Parlament einseitig die Unabhängigkeit erklären, wird die Zentralregierung mit einer Suspendierung der regionalen Autonomie antworten. Die oppositionelle Sozialistische Partei hat eine föderale Reform der Verfassung gefordert, was aber politisch nicht kurzfristig machbar ist. So die Präsidenten von Katalonien und Spanien nicht willens sind, miteinander Gespräche zu führen, sollten sie zurücktreten und Platz für jene machen, die zu gemeinsamen Lösungen bereit sind.
David Lizoain ist Ökonom und lebt in Barcelona. Er war Berater des Präsidenten Kataloniens (José Montilla) und Direktor für Politik & Forschung in der Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC). Das Interview führte Sebastian Schublach (Karl-Renner-Institut)
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