Internationales

Wer beherrscht die Welt? Noam Chomsky im Portrait

Noam Chomsky: wegweisender Sprachwissenschaftler, kontroversieller Denker, angesehener Intellektueller und Kapitalismuskritiker. Ein Portrait.

Avram Noam Chomsky feiert am 7. Dezember seinen 90. Geburtstag. Der emeritierte Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gilt als einer der wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit. Neben bahnbrechenden Erkenntnissen in seinem Hauptfeld, der Linguistik, erlangte Chomsky vor allem als Denker, Philosoph und Systemkritiker Weltruhm. Chomsky fällt durch seine messerscharfen Analysen der US-Politik auf und geizt trotz seiner besonnenen Argumentationsweise nicht mit markigen Sagern. So bezeichnete er unlängst Trump als Abrissbirne der Demokratie. Der Arts and Humanities Citation Index listete Chomsky zwischen 1980 und 1992 als die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt, Chomsky wurde mehrfach zum bedeutendsten lebenden Intellektuellen gewählt.

Kind der Krise

Geprägt wurde sein Denken, sein Drang nach kritischem Hinterfragen bereits in seiner frühen Kindheit. Chomsky wuchs als älterer von zwei Brüdern in einer jüdischen Einwanderer-Familie auf. Politisches Engagement bekam er von seiner Mutter, einer aus Weißrussland stammenden Aktivistin, in die Wiege gelegt. Sein ukrainischer Vater, ein Professor für Hebraistik, prägte ihn wiederrum in seinem sprachwissenschaftlichen Interesse.

Chomskys Familie, die selbst eher der Mittelschicht zuzuordnen war, lebte in einem Arbeiterviertel Philadelphias. Dort wurde er erstmals Opfer von Antisemitismus, der unter den irischen und deutschen Einwanderern stark verbreitet war. Sozialisiert wurde er hauptsächlich in der jüdischen Arbeiterklasse. Dadurch bekam er die große Depression der 30er Jahre und das damit verbundene Elend sehr unmittelbar vor Augen geführt. In diese Zeit fällt auch eine seiner prägendsten Erinnerungen: Er war Zeuge als streikenden Fabrikarbeiterinnen von der Polizei niedergeknüppelt wurden. Die Eindrücke der Krise und diese Erfahrung mit staatlicher Repression sensibilisierte ihn früh für Ungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaft und formten sein politisches Denken mit.

Doch nicht nur diese Erlebnisse in seinem unmittelbaren Umfeld beschäftigten den jungen Chomsky. Er schrieb bereits im Alter von 10 Jahren einen Leitartikel für seine Schülerzeitung, über den Aufstieg des Faschismus in Europa nach dem spanischen Bürgerkrieg. Der Artikel war bereits so elaboriert, dass er diesen als Grundlage für ein späteres Essay an der Universität New York verwenden konnte.

Ebenso prägend für Chomskys anarcho-syndikalistisches Weltverständnis war der Kontakt mit seinem Onkel in New York. Ein formal kaum gebildeter Zeitungshändler, der aber ein feines Gespür für die Gesellschaft um ihn herum zu haben schien. Den Onkel bewundernd, lauschte auch Noam Chomsky am Kiosk den Gesprächen der Kunden und deren unterschiedlichen Perspektiven.

Chomsky’s aktuelle politische Ansichten, dass alle Menschen Politik und Wirtschaft verstehen und ihre eigenen Entscheidungen treffen können, scheint in dieser jugendlichen Lebensphase verwurzelt.

Chomsky begann 1945 an der Universität von Pennsylvania mit nur 16 Jahren zu studieren und begeisterte sich dort vor allem für die von Zellig S. Harris gelehrte strukturelle Linguistik. Chomsky faszinierte dabei die Möglichkeit, von der Sprache ausgehend, die Gesellschaft tiefer ergründen zu können.

Politisches Wirken und Denken

Die Erforschung der Sprache war für Noam Chomsky demnach stets Werkzeug, nicht Selbstzweck. Die Mündigkeit und Selbstbestimmung der Bürger gegenüber dem politischen Souverän ist und war eines der Hauptbestreben des libertären Sozialisten.

Mit dem Vietnam Krieg, den Chomsky selbst stets als „Krieg gegen Südvietnam“ bezeichnete, trat der MIT Professor immer stärker auch mit seinen politischen Ansichten in Erscheinung. Er nahm an zahlreichen Demonstrationen teil und wurde während eines Massenprotests in Washington inhaftiert. Danach verfasste er unter diesen Eindrücken den Essay „Über den Widerstand“. Ab diesem Zeitpunkt wandelte sich Chomsky immer weiter von einem klassischen Universitäts-Intellektuellen hin zu einem politischen Akteur. Er entwickelte sich fortan zu einem der schärfsten Kritiker der US Außenpolitik, der vor allem auch gegen die Instrumentalisierung der Medien zu Propagandazwecken eintrat.

Manufacturing Consent – Die Konsensfabrik von Chomsky und Hernan (Klick zum Artikel)

In „Manufacturing Consent“ (dt. „Die Konsensfabrik“) analysiert er gemeinsam mit Edward (S.) Herman die Rolle der Massenmedien. Die Autoren stellen ein kommunikationswissenschaftliches Propagandamodell auf und legen es auf den US-Medienmarkt um. Ihre provokante These: Welche Themen wir beim Kaffee diskutieren oder am Stammtisch die Gemüter erregen, ist Ergebnis einer behutsamen Vor-Auswahl. Unter dem Einfluss der Regierungen werden Themen gesetzt, oft über mehrere Tage hochgekocht, oder auch unter den Tisch fallen gelassen. Gerade was nicht berichtet wird, sei besonders mächtig. So wird in der Öffentlichkeit ein Konsens erzeugt, der das System stabilisieren soll.

Chomsky und Herman beschreiben in ihrer Medienkritik eine systematische Verzerrung der Berichterstattung. So sollen die Redaktionen News-Geschichten danach einteilen, ob sie von sog. „würdigen“ oder „unwürdigen Opfern“ handeln. Danach wird entschieden, ob ein Ereignis die Titelseiten dominiert, oder ob davon abgelenkt werden soll. Diese Einteilung hänge nicht zuletzt davon ab, ob das „Opfer“ in einem „befreundeten“ oder „feindlichen“ Land zu Schaden gekommen ist. Das Buch erschien 1988 und somit ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer.

Doch wie kann es sein, dass formal unabhängige Redaktionen wie eine gleichgeschaltete Propagandainfrastuktur wirken? Fünf Einflussfaktoren machen Chomsky und Herman aus, die redaktionelle Entscheidungen demnach maßgeblich bestimmen: Die kurzfristige Profitorientierung des Medienunternehmens, die Interessen der Anzeigenkunden, gezielte Beeinflussung durch Staat und Konzerne, Beschwerden (etwa in LeserInnenbriefen) und Klagen, sowie eine antikommunistische Grundhaltung. Der letzte Punkt des Antikommunismus wurde in neueren Auflagen durch den „War on Terror“ ersetzt. Chomsky argumentiert, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die Anstrengung „gegen den Terrorismus“ die neue weltpolitische Leit-Erzählung darstellt und die Welt in „befreundete“ und „feindliche“ Länder einteilt.

Who rules the World?

Bereits in den 60er Jahren profilierte sich Chomsky als scharfer Gegner des Vietnam-Krieges. Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten bezeichnet er bis heute als imperialistisch oder gar neo-kolonialistisch. Für den Ex-Präsidenten George W. Bush hielt er die Bezeichnung „Extremist“ für untertrieben, 2015 nannte er die USA gar einen „Schurkenstaat“ und Europa „extrem rassistisch“. Chomsky greift dafür geschichtlich zurück und stellt die Frage: „Welche Länder entwickeln sich und welche nicht?“. Die Antworten findet er im britischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, den er in der US-Außenpolitik des 20. Und 21. Jahrhundert fortgesetzt sieht. Die Frage der Entwicklung bzw. Unterentwicklung ist für ihn untrennbar mit politischer, ökonomischer und militärischer Macht verbunden, die es ermöglicht, Märkte zu beeinflussen.

Nach seiner Analyse gelingt dem Westen und speziell den USA seit dem zweiten Weltkrieg, schwächeren Staaten ihre Wirtschaftspolitik aufzuzwingen. Demnach würden Entwicklungsländer daran gehindert, Maßnahmen zu setzen, die als „protektionistisch“ gebrandmarkt sind. Chomsky erklärt, dass mit diesem Begriff gezielt Politikmaßnahmen verunglimpft werden, die nur wenige Jahrzehnte zuvor vom Westen erfolgreich eingesetzt wurden und den Aufbau der Volkswirtschaften und breiten Wohlstand ermöglichten.

Ökonomisch werde konkret über die Institutionen des „Washington Konsens“ Druck ausgeübt, also über den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Beide stehen unter starkem Einfluss der USA. Sie üben Einfluss aus, indem sie Entwicklungskredite vergeben, daran jedoch strenge wirtschaftliche Bedingungen knüpfen. Um politischen Druck aufzubauen scheue sich die US-Administration andererseits nicht, Konflikte zu schüren oder selbst militärisch zu intervenieren. Im Zusammenhang mit den kriegerischen Aktivitäten der USA nach dem Zweiten Weltkrieg prangert er die Doppelmoral an, dass die USA sowohl im Kalten Krieg als auch heute als Verteidiger der Freiheit auftreten, gleichzeitig aber autoritäre Regime unterstützen.

Profit over People

Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der USA sieht Noam Chomsky untrennbar mit den Ideen des Neoliberalismus verbunden. Und er schlägt Alarm: Diese Ideen zerstören nicht nur die Demokratie, sondern das gesamte soziale und politische Gemeinwesen und nicht zuletzt auch Umwelt und Natur.

In die größere Erzählung des Neoliberalismus gliedern sich seine detaillierten Betrachtungen ein: Jene Betrachtungen über Propaganda und Massenmedien, das Prägen bestimmter Begriffe, die Ordnung des internationalen Wirtschafts- und Geldsystems sowie die Außenpolitik und die militärischen Aktivitäten der USA und ihrer Verbündeten.

So zeichnet er nach, wie die Politik zum Werkzeug einer Elite aus Wirtschaft und Finanzinstitutionen verkommen konnte. Dieser Elite sei es gelungen, die Idee des Individualismus für ihre Zwecke einzuspannen und eine dichte Ideologie zu konstruieren, in der sich verdächtig macht, wer an der Vorherrschaft der Konzerne rüttelt, weil das „die Mechanismen des freien Marktes, der einzig vernünftigen, fairen und demokratischen Instanz für die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen, gefährden könnte.“

Andererseits bietet er auch Lösungsansätze. Seiner Analyse zufolge kann nur breite politische Partizipation der Bevölkerung diese Entwicklung aufhalten. Für einen starken Staat, der sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt, sei es nötig, dass sich BürgerInnen nicht auf die Rolle von KonsumentInnen reduzieren ließen, sondern sich organisieren, ihrer Interessen gewahr werden und diese koordiniert artikulieren.

Dokumentationen:

Die Konsensfabrik. Noam Chomsky und die Medien (1992)

Auf Netflix findet man die 2015 produzierte Dokumentation Requiem for the American Dream.

Interviews

Zitate

„Mutwilliges Töten unschuldiger Zivilisten ist Terrorismus und kein Krieg gegen den Terrorismus.“

„Der schlaueste Weg, Menschen passiv und folgsam zu halten, ist, das Spektrum akzeptierter Meinungen strikt zu limitieren, aber innerhalb dieses Spektrums sehr lebhafte Debatten zu erlauben.“

„Wenn wir nicht an die freie Meinungsäußerung für diejenigen glauben, die wir verachten, glauben wir überhaupt nicht an sie.“

„Für eine privilegierte Minderheit hält die westliche Demokratie die Muße, die Einrichtungen und die Ausbildung bereit, die es ihr erlauben, die Wahrheit zu suchen, die sich unter dem Schleier von Verzerrung und Verdrehung, Ideologie und Klasseninteresse verbirgt. Die Intellektuellen haben die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und Lügen aufzudecken.“

„Wenn ich nicht vom Mainstream ausgeschlossen wäre, müsste ich annehmen, einen Fehler gemacht zu haben.“

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 58%, 1790 Stimmen
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    1790 Stimmen - 58% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 16%, 477 Stimmen
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    477 Stimmen - 16% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 12%, 368 Stimmen
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    368 Stimmen - 12% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 286 Stimmen
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    286 Stimmen - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 5%, 151 Stimme
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    151 Stimme - 5% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 3072
12. März 2024
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