Österreich hält es mit seinen Schulen wie folgt: Möglichst durchstandardisiert, möglichst zentralisiert, gleiche Vorgaben für alle. Das sei schließlich fair. Doch damit erreicht man gerade das Gegenteil, erklärt Bildungsforscher Stefan Hopmann. Denn Standards verschärfen Ungleichheit.
Statt den Schulunterricht zu standardisieren, sollten wir den Schulen mehr Freiheiten geben, befndet Hopmann. Denn nur so können sie auf die Bedürfnisse unserer Kinder eingehen. Auch beim Personal sollte man viel bunter aufgestellt sein. Warum das so ist und warum er von „Finanzbildung“ und „Pisa“ nicht viel hält, hat uns Experte Hopmann im Gespräch erzählt.
Stefan Hopmann: Österreich hat in der Tat ein massives Gerechtigkeitsproblem. Das kann man nicht wegdiskutieren. Aber es sieht nicht so arg aus, wie uns die PISA-Studien weismachen wollen. Vor allem, wenn es um die Übergänge von Schulen in Berufe geht, steht Österreich international gut da. Also: Man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Aber, natürlich, man muss die Probleme und Schieflagen sehen und ernst nehmen.
Bei der Ungerechtigkeitsfrage geht es nicht um die Oberflächenstruktur – also es geht nicht darum, ständig über Schulformen zu reden. Sondern es geht um das Wie des Lehrens und Lernens und um die Frage: Bekommen die Kinder, die mehr Hilfe brauchen, diese Hilfe auch – und zwar in der Schule, nicht anderswo. Bei dieser Frage schneidet Österreich schlecht ab. Weil dafür zu wenig Ressourcen verwendet werden.
Das Ziel von Schule müsste sein, die ungleiche außerschulische Ressourcen-Verteilung auszugleichen. Mehr Hilfe für die, die es brauchen statt alle Kinder über einen Kamm scheren und wer den Stoff nicht verstanden hat, muss sich halt um Nachhilfe kümmern, falls das Geld dafür da ist.
Stefan Hopmann: Nicht so wie es gehandhabt wird, nein. Die Individualisierung jetzt bedeutet ein Fördern von Talenten und Interessen. Aber es geht nie um dieses Ausgleichen von ungleich verteilten Möglichkeiten. Doch genau das wäre wichtig.
Stefan Hopmann: Es gibt keinen empirischen Beleg, dass das Problem Bildungsungleichheit in Gesamtschulen oder Ganztagsschulen weniger häufig auftritt. Denn die wichtigere Frage ist: Was wird in den Schulen gemachten von wem? Welches Personal ist dort? Kann ich als Schule darauf reagieren, dass Kinder z.B. psychische Probleme haben, antriebslos sind? Kann ich damit umgehen, dass in einer Klasse eine Handvoll Kinder sprachlich nicht mitkommt? Nehme ich das also als Schule, als Schulleitung wahr und bemühe mich um eine Lösung? Darauf kommt es an.
Stefan Hopmann: Wir müssen weg von der Vorstellung, dass es für alles Lehrer und Lehrerinnen braucht, die 13 Semester studiert haben (lacht). Wenn wir an offene Unterrichts-Räume denken, an Team Teaching, gemeinsame Sport- oder Musikeinheiten, Projekte und Blockeinheiten, an das Bearbeiten von Krisen bei SchülerInnen, da braucht es nicht überall LehrerInnen. Da braucht man ganz andere Leute. AssistentInnen, Leute, die aus der Sozialarbeit kommen. Und das muss alles nicht zwangsläufig mehr kosten.
Es ist doch absurd, in so vielen anderen Bereichen hat eine Differenzierung stattgefunden. In den Krankenhäusern gab es vor 30 Jahren nur ÄrztInnen, PflegerInnen und Reinigungskräfte. Heute gibt es viel mehr, von der Pflegefachassistenz bishin zur PsychologInnen und dergleichen. Aber in der Schule? Da halten wir an einem System fest, dass wir vor hundert Jahren schon gehabt haben.
Stefan Hopmann: Wenn wir uns die Flächenschulsysteme anschauen, haben wir eines der teuersten Schulsysteme in ganz Europa. Alles in den Schulen bei uns wird von akademisch ausgebildeten, gut bezahlten Lehrkräften gemacht. So müsste man das Geld aber nicht verwenden. Das System: 1 Lehrer, 1 Fach, 1 Klasse ist sehr teuer – und es lässt keinen Spielraum, um auf die Kinder, die unterschiedlich sind, auch unterschiedlich einzugehen. In anderen Ländern setzt man sehr wohl auf Differenzierung – aber Österreich hat das völlig verpennt.
Stefan Hopmann: Dort gibt es genauso eine Selektion. Wenn Familien umziehen, fragen Makler, ob man Kinder hat und erzählen, welche Schulen es in der Nähe gibt. Wer es sich leisten kann, wählt auch dort Privatschulen, weil man sich möglichst abheben möchte.
Stefan Hopmann: Man kann eine gänzliche Durchmischung nicht erzwingen. Da müsste man jede freie Schulwahl unterdrücken und das geht in freien Gesellschaften nicht. Und auch dann: Ein Schulsystem kann – an der Oberfläche – noch so nivellierend sein. Was zu Hause passiert, kann man nicht beeinflussen. Ob da die Eltern bei den Hausübungen mithelfen, am Mittagstisch über Politik diskutieren oder Sport- und Kulturerlebnisse ermöglichen können. Wenn ich da in der Schule nicht ausgleiche, bleibt es ungleich von den Möglichkeiten her.
Stefan Hopmann: Ich habe viele Jahre meins Lebens in Norwegen verbracht. Dort wirst du zum Beispiel als Lehrer wirklich daran gemessen, ob du es schaffst, alle Kinder mitzunehmen und niemanden auf der Strecke zu lassen. In Österreich ist das meist anders. Hier ist man stolz auf Leistungsansprüche – wer etwas nicht schafft, hat halt Pech gehabt oder sich nicht genug angestrengt. Es ist also keine Struktur- sondern auch eine Kulturfrage. Es geht darum, das Kerngeschäft Unterricht zu verändern.
Oder ein anderes Beispiel: In Norwegen setzt man sich vielerorts am Beginn eines Schuljahres in Teams zusammen und überlegt, was man im kommenden Jahr organisieren möchte. Man diskutiert, wo es in Klassen Schwierigkeiten gibt. Überlegt, ob man Mathe-Intensivwochen in Kleingruppen organisiert. Schaut, wo es eine höhere Lehrdichte braucht. Man schaut, was pädagogische Assistentinnen und Assistenten übernehmen können. Oder wo es Hilfe von Logopäden und Sozialarbeiterin braucht. Man organisiert gemeinsame Musikausbildung – auch etwas, das gleichheitsfördernd ist. Außerhalb der Schule ist das ja eine Frage des Geldes. Ein Instrument und Musikstundenkosten viel Geld.
Stefan Hopmann: Ja. Denn Standardisierung und Zentralisierung verschärfen soziale Ungleichheit nur weiter. Denn man nimmt keine Rücksicht auf verschiedene Bedürfnisse von Kindern. Man lässt Schulen auch gar keinen Handlungsraum, um auf die Herausforderungen bei Kindern zu reagieren. Man stellt auch nicht mehr die Frage: Was könnte man alles lernen? Sondern es wird eingeengt.
Alles richtet sich an standardisierten Tests aus. Sogar die Hausübungen. Das ist ja auch so eine Sache: Hausübungen haben in Österreich so eine hohe Stellung. Dabei schaffen normal begabte Kinder die oft gar nicht ohne Backup – also ohne zusätzliche Hilfe. Etwa durch Eltern oder Nachhilfelehrer. Da läuft doch etwas massiv falsch!
Statt Standardisierung brauchen wir mehr professionelle Differenzierung und mehr Umverteilung von Ressourcen. Aber ja, da legt man sich auch mit Interessensvertretern an – unter anderem.
Stefan Hopmann: Die Frage ist doch: Was ist Schule und warum funktioniert diese Einrichtung überhaupt. Schule ist nicht: Kinder sitzen in einem Raum und jeder lernt individuell für sich. Sondern Schule funktioniert, weil man gemeinsam lernt. Weil man sich mit anderen über Sachverhalte verständigt.
Schule ist der einzige Ort, wo wir die Voraussetzung für Demokratie und Zusammengehörigkeit erzeugen können. Weil man lernt, sich zu verständigen, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Das ist eine Idee, die immer da war.
Und eine idiotische Standardisierung erschwert nur, auf unterschiedliche Bedürfnisse einzugehen. Man muss Schulen die Möglichkeit geben, unterschiedlich zu sein – weil sie auf die unterschiedlichen Kinder bestmöglich eingehen können sollen.
Aber wie ist es stattdessen jetzt? Gymnasien suchen sich die Kinder nach Volksschul-Noten aus, machen es sich so also einfach, weil ohnehin nur die kommen, die vermutlich auch zu Hause Zusatzhilfe bekommen. Da muss man sich als Schule auch nicht mehr anstrengen. Und die anderen Schulen? Die dann Kinder mit vielleicht schwierigeren Familiensituationen haben? Die bekommen weder mehr Geld noch mehr Freiheiten, um darauf einzugehen. Das ist nicht sinnvoll.
Stefan Hopmann: Wir haben jetzt zwanzig Jahre lang Pisa-Tests durchgeführt. Was ist besser geworden dadurch? Nichts. Da muss man sich schon die Frage stellen: Wenn ich zwanzig Jahre nichts erreiche, sollte ich es dann nicht sein lassen?
Es ist eine sehr aufwendig durchgeführte Forschung. Ich habe großen Respekt vor den Leuten, die in diesem Bereich arbeiten, es ist sehr komplex. Aber: Pisa war und ist in erster Linie ein politisches Projekt der OECD. Es ging darum, ein Instrument zu finden, um westliche Industrieländer vor sich hertragen zu können.
Diejenigen, die den Test gestalten, wissen schon beim Formulieren der Frage, welchen Ländern das am meisten nützt. Und diese ganzen Liga-Tabellen und Pauschalvergleiche sind doch reinstes Voodoo. Statistischer und empirischer Quatsch.
Aber Pisa ist ein großes Projekt. Da hängen Institute dran, angesiedelt in Ministerien. Und dort schaut man sehr genau, was im Pisa-Bericht steht. Da ist jede Zeile wohlüberlegt formuliert. Bei Pisa gab es schon immer volle Message Control.
Stefan Hopmann: Es ist dasselbe wie immer. Es gibt ein gesellschaftliches Problem – in diesem Fall: Es gibt Armut, Überschuldung. Und statt das Problem selbst zu lösen, sprich, Umverteilung zu betreiben, schiebt man das an den Schulbetrieb hat und sagt: Die Jungen kriegen eine neue Kernkompetenz vermittelt und damit ist es erledigt. Und was bleibt übrig? Die Schülerinnen und Schüler lernen nur, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Man bringt den Kindern bei, wie sie Kreditverträge unterschreiben und Aktien kaufen können. Aber an niedrigen Einkommen und Armut ändert man nichts. Die einzige: Man macht aus einem gesellschaftlichen Problem eine individuelle Eigenverantwortung oder eben individuelles Unglück.
Beim Pisa-Test gab es auch eine Aufgabe, bei der ein Mädchen mit den Eltern verhandelt, wie viele diese monatlich sparen sollen, damit sie später studieren kann. Das vermittelt ein Bild fern der Realität vieler Kinder – wo die Eltern schlicht zu wenig verdienen, um monatlich etwas weglegen zu können. Und es wird zur Moralfrage obendrein.
Bei dieser Finanzbildung wird es wohl nicht um Gerechtigkeitsfragen gehen. Doch genau diese wären wichtig. Denn nur so können junge Menschen später die Welt um sich herum verstehen.
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