Europa

10 Gründe für Orbáns Wahlerfolg

In den letzten Jahren wurde Ungarn häufig als Beispiel für demokratischen Rückschritt genannt. Die Fidesz-Partei von Viktor Orbán hat nicht nur den Rechtsstaat zurückgedrängt, sondern auch den den Wohlfahrts-Staat ausgehöhlt. So bekommt die Bevölkerung täglich zu spüren, wie die Standards im Schul- und Gesundheitssystem schlechter werden. Außerdem findet seit 2011 eine beispiellose Auswanderungswelle statt. Beweise für systematische Korruption und Unterschlagungen von EU-Geldern mehren sich. Kein Wunder also, dass die ungarische Wirtschaft im Vergleich zu Ländern wie Polen, der Slowakei oder Rumänien zurückliegt.

Normalerweise führen solche Entwicklungen in demokratischen Systemen zu einem Regierungswechsel. Doch statt abgewählt zu werden, erzielte Orbáns Partei bei den allgemeinen Wahlen am 8. April 2018 ihren dritten Sieg in Folge – noch dazu einen massiven. Um zu verstehen, warum Fidesz so stark ist, muss man eine Reihe von Schlüsselfaktoren und eine längerfristige historische Perspektive berücksichtigen.

1. Des Mitte-Rechts-Lager geeint

Orbán ist seit dem Jahr 2000 Chef der stärksten politischen Partei. Er war von 1998 bis 2002 Premierminister einer Koalition aus seiner Fidesz und mehreren kleineren Mitte-Rechts-Parteien. In dieser Zeit übernahm er größtenteils die Wählerbasis seiner Koalitionspartner. Danach war die Fidesz acht Jahre lang Oppositionspartei (2002-2010). Die SozialistInnen gewannen die Wahlen 2002 und 2006. Doch wenige Monate nach diesen Wahlsiegen war die Fidesz wieder die stärkste Partei in den Umfragen. Anfang und Mitte der 1990er-Jahre war das ungarische Mitte-Rechts-Lager zersplittert. Orbán vereinte die Fragmente und fügte sie mit der sozialen Basis der Rechten (die konservative Ober- und Mittelschicht) zusammen.

2. Wirtschaftspolitische Agenda

Viktor Orbán konnte die Rechten aufgrund seiner wirtschaftspolitischen Agenda vereinen: Das Übergewicht an ausländischen Beteiligungen an der ungarischen Wirtschaft, das durch den Übergang zu Marktwirtschaft entstanden war, sollte korrigiert werden. Da dies ein langfristiges Programm ist, das noch nicht abgeschlossen ist bzw. auch nie vollkommen abgeschlossen werden kann, trägt es zu einer stabilen Unterstützung für Orbán bei. Ursprünglich war es das Programm der Rechtsextremen, doch die Fidesz eignete es sich an. Wirtschaftlicher Nationalismus ist nun das Kernthema dieser Partei. In den letzten Jahren hat Orbán die Erwartung in ihn, die ausländischen Beteiligungen in verschiedenen Sektoren zurückzudrängen, erfüllt. Für die Nutznießer dieser Politik ist das wichtiger, als die Einhaltung demokratischer Standards.

3. Kulturelle Hegemonie

Orbán schuf sich kulturelle Hegemonie, indem er bei, für viele UngarInnen zentralen Punkten, die Themenführerschaft übernahm. So setzte er sich für die ungarischen Volksgruppen in den Nachbarländern ein, unterstützte den Sport (vor allem den Fußball und die Olympischen Spiele) und vereinnahmte die Erinnerung an 1956 auf eine manipulative Art und Weise für sich. Außerdem spielt Religion eine große Rolle: Viele, die an Gott glauben, glauben auch an Orbán. Das war mit ein Grund, warum die Wahlen nach Ostern angesetzt wurden.

4. Wirtschaftskrise

Orbán hatte Glück, dass 2010 eine Parlamentswahl stattfand, als die Auswirkungen der globalen Finanzkrise von 2008/09 spürbar wurden. Das war überall auf der Welt ein Nachteil für die Machthaber. Orbán nutzte diese Situation und erreichte eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Diese erlaubte es ihm, die Verfassung zu ändern. Darüber hatte er im Wahlkampf nie gesprochen. Es war also nichts, dass sich die UngarInnen erwartet haben. Orbán begann die Regeln des politischen Spiels zu ändern und beseitigte jene Werkzeuge, die ihm selbst geholfen hatten, an die Macht zu kommen. So wurde es z.B. fast verunmöglicht, Referenden ohne Unterstützung der Regierung abzuhalten.

5. Die Schwäche der Linken

Die Niederlage von 2010 hatte die Freien Demokraten praktisch zerstört und die Sozialistische Partei (MSZP) schwer beschädigt. Die MSZP war davor die stärkste Partei in gleich vier Wahlen hintereinander (94, 98, 02, 06) gewesen. Sie verlor vor allem in ländlichen Gegenden ihre WählerInnen, die bei den weniger gut ausgebildeten und ärmeren Schichten lag, an die Fidesz und die rechtsextreme Jobbik. 2011 wurden die SozialistInnen durch eine Spaltung weiter geschwächt. Außerdem wurden sie (teilweise zurecht) mit wirtschaftlicher Inkompetenz und Korruption in Verbindung gebracht. Die Zersplitterung des Zentrums und der Linken (die Grünen haben sich ebenfalls gespalten und einige „Start-up-Parteien“ entstanden in der politischen Mitte) verhalf Orbán 2014 zu einer weiteren, wenn auch sehr knappen, Zwei-Drittel-Mehrheit.

6. Umbau des politischen Systems

Orbán war sich 2010 bewusst, dass er mit der Zeit an Unterstützung verlieren würde. Darum baute er mit seiner Zwei-Drittel-Mehrheit das politische System um. Er änderte das Wahlgesetz und machte es durch die Abschaffung der ersten Runde von Wahlen und die Änderung von Wahlkreisen noch unverhältnismäßiger als zuvor. Er brachte auch die Staatsmedien unter seine Kontrolle, gab UngarInnen in Nachbarländern die Staatsbürgerschaft und damit die Möglichkeit, per Briefwahl zu wählen (andere UngarInnen, die z.B. im Ausland arbeiten, haben dieses Recht nicht). Außerdem wurden die Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Regierung verringert und finanzielle Anreize für die Neugründung von (Schein-) Parteien geschaffen. Damit sollte erreicht werden, dass sich die regierungskritischen Stimmen weiter aufteilen und damit vergeudet werden. Das geschah auch tatsächlich bei den Wahlen 2014 und 2018.

7. Kontrolle über die Medien und schmutzige Tricks

Nach seiner Wiederwahl 2014 ging Orbán noch einen Schritt weiter. Er sprach offen über den „illiberalen Staat“ als Zukunftsmodell. Seine Gefolgsleute haben große Teile an privaten (gedruckten und elektronischen) Medien gekauft. Oppositionelle Ansichten sind dadurch kaum mehr bis zur ländlichen Bevölkerung durchgedrungen. Mit der Hilfe eines zwielichtigen österreichischen Investors schaffte es Orbán, die wichtigste linksliberale Zeitung des Landes Népszabadság zu schließen. Er startete eine Hexenjagd gegen jene Teile der Zivilgesellschaft, die sich gegen Korruption engagierten. Mit dieser medialen Hexenjagd werden die politischen GegnerInnen eingeschüchtert. So können OppositionskandidatInnen oder deren Angehörige schon mal ihre Jobs verlieren. Außerdem werden astronomische Summen des Staats-Budget in Fidesz-Propaganda gesteckt. Auf der anderen Seite verhängt der Rechnungshof willkürlich Strafen an Oppositionsparteien. In anderen Ländern können schmutzige Tricks schon mal vorkommen – unter der Fidesz sind aber sie zur Norm geworden.

8. Instrumentalisierung der Fluchtbewegungen

Die Fluchtbewegungen von 2015 nutzte Orbán, indem er die Angst vor den MigrantInnen instrumentalisierte. Die Hysterie gegen MigrantInnen in den letzten drei Jahren war beispiellos und spielte eine wichtige Rolle dabei, die Wählerbasis von Orbán zusammenzuhalten. Jene, die gegen die unmenschliche Behandlung von Flüchtlingen protestierten, galten als Feinde. Orbán begann, die zivilgesellschaftlichen Initiativen aus Gründen der nationalen Sicherheit zu unterdrücken. Laut Fidesz-Propaganda wird Ungarn von Brüssel, George Soros, den Vereinten Nationen usw. angegriffen: Ungarn werde von (muslimischen) Einwanderern überflutet und der nur gestoppt werden könne, wenn Orbán an der Macht bleibt.

9. Die EVP sieht weg

Die Europäische Volkspartei (EVP) steht weiter hinter Orbán. Sie blicken über die Demontage der ungarischen Rechtsstaatlichkeit hinweg, um den Verlust eines EVP-Mitglieds zu vermeiden. Außerdem erwarten sie sich im Austausch wirtschaftliche Vorteile und politische Gefälligkeiten. Gerade deutsche Konzerne wie Audi und die Telekom haben ein wirtschaftliches Interesse an Ungarn. Die deutsche CSU spielte auch eine Schlüsselrolle dabei, die autokratische Herrschaft von Orbán zu rechtfertigen. Sie wies ihn nur dann zurück, wenn er deutlich über die Strenge schlug: beispielsweise als er die Wiedereinführung der Todesstrafe forderte. Seinen deutschen Verbündeten gefiel Orbáns Handeln auch in der Fiskalpolitik. Im Gegensatz zu früheren Perioden, in denen Ungarn mit hohen Defiziten zu kämpfen hatte, setzte er Sparmaßnahmen durch.

10. Die Opposition ist zersplittert

Viele in Ungarn haben die Hoffnung verloren. Auch die OppositionspolitikerInnen, die in den letzten Jahren nur noch um das bloße Überleben und einen Platz im Parlament kämpften, anstatt Wege zu suchen einen Regierungswechsel zu schaffen. Orbán hat erfolgreich seine „teile und herrsche“ Strategie gegen die Opposition eingesetzt und viele neue und alte AkteurInnen haben ihm dabei in die Hände gespielt. Gelegenheiten eine geeinte Opposition zu bilden, wurden verpasst und so traten die Zentrums- und mittelinks Parteien bei den Wahlen in einem zersplitterten Zustand an. Darum war vielen WählerInnen nicht klar, wen sie in ihrem Wahlkreis und auf der Parteiliste wählen sollten. Eine gewisse Konsolidierung der Linken hat es durch eine sozialistisch-liberal-links-grüne Allianz mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten gegeben. Wenn es diese „Allianz für den Wandel“ zwischen der sozialistischen MSZP und den grünen Párbeszéd unter der Führung von Gergely Karácsony und Ágnes Kunhalmi schafft, bei den Europa- und Kommunalwahlen 2019 erfolgreicher zu sein, kann das die Grundlage für die Erneuerung des Mittelinkslagers sein – trotz des schlechten Wahlergebnisses bei diesen Wahlen.

László Andor ist leitender Wissenschaftler an der Herti-School of Governance und war von 2010 bis 2014 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration.

Das Original ist im Englischen auf der Website der Herti-School of Governance erschienen.

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Orbáns 8 Schritte zur Umwälzung Ungarns (Kontrast.at)

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12. März 2024
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