Wir sagen gern und laut, was Zustimmung findet. Wenn wir aber Widerspruch fürchten, werden wir leiser. Kann es also sein, dass den Wettstreit der Meinungen die Gruppe gewinnt, die lauter schreit? Das besagt zumindest die Medien-Theorie der „Schweigespirale“ von Noelle-Neumann. Eine Erklärung zur Entstehung von „öffentlicher Meinung“.
Das kommt daher, weil der Mensch Zustimmung und Anerkennung sucht. Wir sagen und schreiben nicht alles, was wir uns denken. Und wir trachten danach, nicht als Außenseiter dazustehen.
Um das zu vermeiden, beobachten wir ständig unsere Umgebung und versuchen herauszufinden, welche Meinungen und Ansichten bei wem wieviel Zuspruch erhalten. In Gesprächen mit Freunden, Familie, Kollegen, in unseren Timelines und in den Medien versuchen wir zu erfahren, was gerade Mehrheitsmeinung ist.
Mit diesem Wissen entscheiden wir dann, was wir wo und vor wem sagen sollten und was nicht.
Was andere Menschen denken und sagen, ist wichtig für unsere Meinungsbildung und beeinflusst, welche Standpunkte wir vertreten.
Das heißt aber auch, dass den Massenmedien im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung eine entscheidende Rolle zukommt. Denn sie bestimmen wesentlich unsere Wahrnehmung über vorherrschende Meinungen, die wir ja nicht nur in unserem persönlichen Umfeld, sondern auch maßgeblich der Zeitung, dem TV oder den Sozialen Medien entnehmen.
In der von Elisabeth Noelle-Neumann entwickelten Theorie geht es nun darum, begreifbar zu machen, warum gewisse Meinungen in der Öffentlichkeit offensiver artikuliert werden, während andere kaum zu hören sind. Die Prozesse, die dahinterstecken, beschreibt die Wissenschaftlerin als Spirale, die sich selbst antreibt, daher der Ausdruck „Schweigespirale“.
Menschen sind soziale Lebewesen. Darum streben sie nach Anerkennung durch ihr Umfeld. Sie wissen, dass auf sozial unerwünschtes Verhalten Sanktionen der Gesellschaft folgen können. Eine unserer größten Ängste ist die soziale Isolation als Konsequenz für gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten. Folglich bemühen wir uns, innerhalb akzeptierter Normen zu agieren und nicht anzuecken. Wir streben also tendenziell nach gesellschaftlicher Zustimmung für unsere Handlungen und Meinungen.
Weil wir uns also – unbewusst und auch bewusst – ständig davor fürchten, als Außenseiter dazustehen, kommunizieren wir unsere Ansichten eher, wenn wir glauben, dass andere mit uns darin übereinstimmen, so Noelle-Neumann.
Wir haben aber nicht nur Angst vor Isolation, sondern üben auch selbst diesen Druck auf andere Menschen aus. Wenn jemand etwas sagt, mit dem wir nicht übereinstimmen, verziehen wir unseren Mund, verdrehen unsere Augen oder greifen uns gar an den Kopf. Diese Phänomene sind unterschwellig oder auch sehr direkt wirksam. Wir denken nicht über Konsequenzen abweichender Meinung nach, sondern reagieren darauf unbewusst.
Das Modell ist vor allem bei kontroversen und moralisch aufgeladenen Themen anwendbar. Es muss sich also um Diskussionen handeln, bei denen andere Meinungen nicht als faktisch falsch, sondern als moralisch schlecht bewertet werden können. So unterliegt eine Diskussion über den Gefrierpunkt von Wasser nicht im selben Ausmaß der Logik der Schweigespirale wie z.B. Debatten über das tragen von Tierpelzen.
Um herauszufinden, welche Ansichten nun Zustimmung oder Ablehnung bei anderen Menschen oder in der „Öffentlichkeit“ hervorrufen, beobachten wir ständig unsere Umgebung. Der Mensch versucht zu erkennen, welche Meinungen gerade besonders weit verbreitet sind, aber auch welche Ansichten gerade modern werden und in Zukunft Zuspruch erhalten könnten.
Diese Informationen sammeln wir nicht nur in unserem Freundes- und Bekanntenkreis, sondern vor allem auch durch indirekte Erfahrungen aus den Medien. Hier wird auch die entscheidende Rolle der Medien im Meinungsfindungsprozess deutlich.
Menschen passen ihre Kommunikation dem vermeintlichen Meinungsbild an, so die Erklärung von Noelle-Neumann.
Nach Einschätzung des Meinungsklimas überlegen wir nun manchmal mehr, manchmal weniger, ob unsere eigene Meinung in gewissen Themenbereichen wahrscheinlich sozial akzeptiert wird oder nicht. Wenn wir in unserem Umfeld und auch in den sekundären Informationsquellen (Online-Kommunikation, Medien usw.) Zustimmung zu unserer Haltung entdecken, werden wir in unseren Meinungen bestärkt und kommunizieren sie offensiver nach außen. Glauben wir jedoch in der Minderheit zu sein, schweigen wir tendenziell und verbreiten unsere Ansichten seltener.
Der eben beschriebene Prozess kann im Extremfall dazu führen, dass lautstark geäußerte und medial bevorzugte Minderheitsmeinungen zur Mehrheitsmeinungen werden. Denn die gefühlte Mehrheitsmeinung muss in der Realität nicht wirklich die Mehrheitsmeinung sein. Es genügt, dass sie lauter, häufiger vertreten wird. Damit erscheint die Gruppe größer als sie ist.
Der Prozess beschleunigt sich noch, weil die Vertreter der Minderheitsmeinung aus Furcht vor Isolation immer leiser werden. Dann erscheint diese Gruppe kleiner als sie ist.
Die vermehrte Präsenz einer Meinung steht also nicht unbedingt im Zusammenhang mit der tatsächlichen Größe ihrer Fürsprechergruppe, sie erscheint aber als akzeptierter.
Einerseits wirkt das durch die Schweigespirale produzierte öffentliche Meinungsbild für Gesellschaften stabilisierend und integrierend. Konflikte werden durch sie zugunsten der vermeintlichen Mehrheitsmeinung weniger intensiv geführt und die Entstehung von Konsens beschleunigt. Die öffentliche Meinung wirkt somit als soziale Haut für die Gesellschaft, die uns zusammenhält.
Andererseits können eben im Extremfall Minderheitenmeinungen zu Mehrheitsmeinungen werden – wenn sie nur laut genug artikuliert werden. Und der Effekt kann von mächtigen Eliten etwa mit dem Einsatz von Massenmedien genutzt werden, um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu drehen.
Noelle-Neumann geht davon aus, dass Medien sehr stark dafür verantwortlich sind, welches Bild wir vom Meinungsklima haben. Sie vermitteln – aus welchen Gründen auch immer – gewisse Positionen, bevorzugen Themen, hypen Meinungen oder Personen. Die Massenmedien sind nicht allein verantwortlich für das Entstehen einer Schweigespirale, sie können diesen Prozess aber maßgeblich auslösen und verstärken.
Dazu gehört als sichtbarer Extremfall ein mehr oder weniger offen betriebener Kampagnen-Journalismus von Medien, für eine bestimmte Partei oder Meinung. Und es stille sich die Frage nach der Objektivität der Medien – Wie neutral können Medien sein?
Durch diese entscheidende Rolle von vermittelten Erfahrungen in unserer Umfeldanalyse, entscheiden Medien wesentlich mit, welche Meinungen wir nun als die gesellschaftlich verbreitetste ansehen und damit in weiterer Folge auch, in welchen Ausmaß wir unsere Positionen öffentlich vertreten. Sie produzieren ein vermeintliches Bild der öffentlichen Meinung, das dann durch die oben geschilderten Effekte der Schweigespirale sogar Realität werden kann.
Das Internet, die Sozialen Medien gelten auch als Plattform für alternative Meinungen. Tatsächlich wirkt die Schweigespirale auch in der Online-Welt, wie etwa eine Studie zur Snowden-Affäre zeigt. Dabei erklärt sich, dass die Menschen zu kontroversiellen Themen zwar verbal ihre Meinung kundtun, aber seltener öffentlich in den sozialen Netzwerken.
Die Angst, eine von der Mehrheit abweichende Meinung öffentlich zu machen, wirkt also auch auf die Inhalte in Facebook, Twitter und Co. Das ist auch eine Erklärung für den Sogeffekt von Shitstorms und auch Flowerrains.
Die oben beschriebenen Prozesse können aber sehr wohl durchbrochen werden, doch dazu braucht es vor allem eines: mutige, mündige Bürgerinnen und Bürger, die ihre Meinung artikulieren. Treten diese auf und stehen offensiv für ihre Positionen ein, kommt die Spirale ins Stocken, weitere Personen werden sich anschließen, bis die Drehung schließlich zum Erliegen kommt. Um einen Beitrag zur demokratischeren Meinungsbildung zu leisten, ist Wissen der entscheidende Faktor.
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