Es ist Abend. Vor dem Supermarkt sitzt ein nicht mehr ganz so junger Mann in zerschlissener und schmutziger Kleidung. Er sitzt am Boden, in einer Haltung zwischen Hocken und Knien, am Gehsteig, mitten vor dem Supermarktportal. In seiner rechten Hand hält er einen weissen Pappbecher. Vor seinen Knien liegt ein schulheftgrosses, ungelenk ausgeschnittenes Pappkartonschild. In Großbuchstaben steht da die Botschaft zum nicht mehr ganz so jungen Mann in der schmutzigen Kleidung:

BITTE! steht da,
ICH HABE NICHTS ZU ESSEN.

Mich stört das sehr. Mich stört das allgemein und speziell. Mehr noch, es verstört mich. Aber was sind die Ingredienzien dieser Verstörung? Ich will nicht, dass er da sitzt, ist mein ehrlicher Impuls, der nicht mehr ganz so junge Mann mit dem Pappbecher und der Bitte. Der Mann ist ein Problem für mich. Sein Sitzen vor dem Supermarkt ist ein Problem für mich. Seine schmutzige Haut ist ein Problem für mich, sein Gesichtsausdruck, seine ekelhafte Kleidung, der Pappbecher, das Pappschild. Ich will nicht, dass er da sitzt. Es stört mich. Es verstört mich. Und es stören und verstören mich die Menschen, die ihm ein bisschen Kleingeld in den Pappbecher werfen, oder einen Fünfer. Den Blick gesenkt, jede Möglichkeit vermeidend, Blickkontakt aufzunehmen, oder ein Gespräch zu führen. Sei es noch so kurz.

Und mehr noch. Mich stört und verstört nicht nur sein Anblick, mich stört der Anblick all der andern auch. Der Bettler, der Sandler, der Obdachlosen, der Junkies, der Tablettenzombies. Sie stören mich? Im Ernst? Das wage ich zu sagen? Wie schlecht, wie böse. Sie haben doch unsere Nächstenliebe verdient, sagen die einen, sie sind arm, diese Leute, und verlassen. Wir schulden ihnen Barmherzigkeit, die anderen. Wir sollten Mitleid mit ihnen haben. Mitleid. Nächstenliebe. Barmherzigkeit.

Barmherzigkeit? Nächstenliebe? Mitleid? Das haben sie nicht verdient. Die Männer und Frauen und Kinder mit den Pappschildern, den krummen Beinen, den schmutzigen Anoraks, den schlechten Zähnen, den zerzausten Haaren und verfilzten Bärten.

Mitleid, Nächstenliebe, Barmherzigkeit ist zu wenig. Mitleid, Nächstenliebe, Barmherzigkeit ändert ihre Lage nicht. Die Männer und Frauen und Kinder in bettelnder Not und starrender Armut haben etwas besseres verdient. Es steht ihnen etwas zu, das viel umfassender ist, viel radikaler, viel wirksamer, es steht ihnen

SOLIDARITÄT zu.

Sie ist mehr als das Werfen eines Zweiers, mehr als ein warmherziges Lächeln, eine vorbeigebrachte Jacke, ein Mittagessen im Pfarrhaus. Solidarität ist der Lebens- und Liebesentwurf einer aufgeklärten Gesellschaft. Solidarität ist Hilfe und Unterstützung, Beistand und Rat auf Augenhöhe. Solidarität ist die Gleichzeitigkeit von Sicherheit und Freiheit.

Solidarität ist die Liebe des Menschengeschlechts zu seinesgleichen. Sie ist unverhandelbar und grenzenlos, sie entspringt dem Recht des Menschen auf Freiheit. Und es darf in erinnerung gerufen werden: Freiheit ohne Solidarität ist undenkbar. Und wie die Freiheit vom Staat garantiert werden muss, muss auch die Solidarität Allmende sein, allen gewährt, die sie brauchen. Im Zweifelsfalle überschießend.

Warum stört mich der Anblick des nicht mehr ganz so jungen Mannes in seinem zerschlissenen Anorak und den schmutzigen Zähnen? Der Anblick ist es, der mich stört, und der Grund für sein dort sitzen, nicht der Mann. Der Mann selbst, er stört mich nicht. Jedenfalls nicht mehr als der Familienkutschenbesitzer, der an ihm vorbeigeht, um im Supermarkt den Portwein für den Tarockierabend zu besorgen, oder die Zahnpasta fürs Landhaus oder den Parmesan und die Pinienkerne.

ER stört mich nicht, der bettelnde Mann, ganz und gar nicht.

ES stört mich, es stört mich, dass er dort sitzt. Jeden Abend. Jeden Tag. Es stört mich, dass er dort sitzen muss, am Gehsteig vor dem Supermarkt. Es stört mich, dass er nicht zu Hause sitzt, kartenspielend von mir aus, mit Freunden, im Landhaus, und nachher vor dem Badezimmerpiegel steht, gesunde Zähne putzend, in die sich Pestokrümel verirrt haben.

Nun gut, könnte ich mir sagen lassen, so ist die Welt, die einen haben es besser getroffen, die anderen schlechter und in wessen Herz das Erbarmen schlägt und in wessen Seele das Mitleid schmerzt, der möge dem armen Teufel einen Zweier geben, der armen Seele, da kommt schon was zusammen, vielleicht macht er das ganze ja sogar professionell.

Das ist gut möglich, sage ich. Aber das ist mir egal. Ich will die Gründe für die Unfreiheit des Mannes mit dem Pappschild und dem Bettelbecher nicht kennen, ich will sie beseitigt wissen. Professionell beseitigt wissen. Deswegen fordere ich Solidarität für diesen Herrn. Ich fordere medizinische Behandlung, für die er sich nicht bei seinem Behandler bedanken muss, oder beim Almosenausschütter oder bei einem Gott, dessen Personal ihn in spiritueller Unfreiheit hält. Ich fordere Bildung für ihn und seine Kinder, die beste und meist umfassende, die sich denken lässt und ein Einkommen, das ihm Sicherheit gibt. Selbst wenn er für dieses Einkommen nicht arbeiten muss. Weil er vielleicht nicht arbeiten kann, weil er aus dem System gefallen ist, indisponiert ist, erkrankt oder verhindert. Ich fordere Solidarität für diesen Herrn, dem es nicht gut geht, sonst würde er sich nicht erniedrigen müssen, vor dem Supermarkt zu sitzen und um Geld zu betteln, keine leichte Arbeit übrigens, eine echte Leistung, für die der unfreie Herr mit der schlechten Kleidung übrigens auch Steuern zahlt, Mehrwertsteuern zum Beispiel, jedesmal, wenn er sich ein Red Bull oder anderes Zuckerwasser kauft um den Inhalt seines Pappbechers.

Ich fordere für diesen Herrn auf der Strasse und für uns alle, denn es kann jeden von uns treffen, wenn das Netz reisst, das größte Gut, das eine aufgeklärte Gesellschaft in Freiheit bieten kann:

SOLIDARIITÄT.

Barmherzigkeit und Nächstenliebe gelten als edle Tugenden, aber sie sind nicht uneigennützig. Sie erfüllen die Gebenden mit Freude. Und diese erwarten, dass die Empfangenden diese Freude mit ihnen teilen. Das aber ist kein Teilen auf Augenhöhe. Dieses Teilen ist dem Moment geschuldet. Es ist kein Recht, es ist ein Geschenk. Geschenke verpflichten. Zu Demut, zu Dank, zu Bescheidenheit. Zu Unfreiheit.

Errichten wir daher eine Gesellschaft der Solidarität. Alle haben in dieser Gesellschaft Platz. Jede und jeder nach ihren und seinen Fähigkeiten. Jede und jeder nach ihren und seinen Bedürfnissen.

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 59%, 1482 Stimmen
    59% aller Stimmen 59%
    1482 Stimmen - 59% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 15%, 382 Stimmen
    15% aller Stimmen 15%
    382 Stimmen - 15% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 13%, 315 Stimmen
    13% aller Stimmen 13%
    315 Stimmen - 13% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 222 Stimmen
    9% aller Stimmen 9%
    222 Stimmen - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 4%, 110 Stimmen
    4% aller Stimmen 4%
    110 Stimmen - 4% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 2511
12. März 2024
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Andrea Maria Dusl

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