Der Angriff der Türkei auf die syrische Region Afrin ist auch ein Angriff auf ein politisches Experiment einer regionalen Selbstverwaltung, die in vielfacher Hinsicht ein Gegenmodell zu Erdoğans Türkei darstellt. Während man in Ankara immer immer autoritärer herrscht, bauen die syrischen KurdInnen an einem säkularen und demokratischen Gegenmodell.
Als sich die syrische Armee im Sommer 2012 aus den kurdischen Gebieten zurückzog, stellte sich für die syrischen Kurden die Frage nach dem zukünftigen politischen System. Obwohl sich alle kurdischen Akteure zumindest in der Theorie zur Demokratie bekannten, blieb die Frage offen welche Form von Demokratie versucht werden soll. Die Parteien des so genannten Kurdischen Nationalrats, der von der Regionalregierung Kurdistans im Irak unterstützt wurde, bevorzugten die parlamentarische Mehrparteiendemokratie.
Die als Schwesterpartei der türkisch-kurdischen PKK gegründete Partei der Demokratischen Union (PYD) tendierte zum Rätesystem. Der zunächst erzielte Kompromiss einer Machtteilung hielt nicht lange. Im Jänner 2014 rief die PYD ohne die Beteiligung des Kurdischen Nationalrats drei autonome Kantone aus, die mittels Rätesystem verwaltet werden sollte. Dazu wurden in Stadtteilen und Dörfern Volksräte gebildet, die dann jeweils auf Gemeindeebene und dann weiter in den Regionen jeweils wieder die Basis für Räte bildeten.
Solche Rätesysteme wurden in revolutionären Prozessen immer wieder versucht. Räte gab es etwa im Spanischen Bürgerkrieg oder auch in der Russischen Revolution (Sowjet = Rat auf Russisch). Aber auch in Österreich wurden 1918 Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die in einem revolutionären Prozess die Habsburgermonarchie abzulösen. Heute finden wir ähnliche politischen Systeme etwa im Rätesystem der mexikanischen Zapatisten oder eben auch bei den syrischen Kurden.
Von einer parlamentarischen Demokratie unterscheiden sich Rätesysteme dadurch, dass sie die politische Herrschaft nicht an ein Parlament bzw. Abgeordnete delegieren, sondern die Räte selbst und direkt gewählt politisch agieren. Die einzelnen Mitglieder der Räte haben kein freies Mandat, sondern können durch ihre WählerInnen jederzeit wieder abberufen werden, wenn sie sich nicht dem Willen ihrer WählerInnen beugen.
Im Rätesystem sind die WählerInnen zuallererst auf lokaler Ebene organisiert, gewählt werden Vertreter der ArbeiterInnen in einem Betrieb oder Vertreter eines Wohnviertels oder Orte. Diese Räte entsenden wiederum einige Mitglieder als „Deputierte“ in die nächsthöhere, übergeordneten Organisationsebene. Dieser kann etwa alle Arbeiter oder Bewohner eines Bezirks vertreten. Und auch dieser Rat entsendet wieder Vertreter an die nächsthöhere Organisationsebene.
Die politischen Entscheidungen fallen also grundsätzlich immer auf lokaler Ebene. Die übergeordneten Räte auf regionaler oder föderaler Ebene müssen ihre Entscheidungen immer wieder mit den lokaleren Ebenen abklären. In der Theorie entsteht so ein direktdemokratisches System, in dem die einzelnen Mitglieder der Räte lediglich den Willen ihrer WählerInnen weitertragen, diese aber nicht beherrschen.
In Syrisch-Kurdistan basiert das Rätesystem bzw. die Rätedemokratie auf Basisräten in kleinen Dörfern oder Stadtteilen, die dann auf der nächsten Ebene kommunale Räte bilden, die dann
wiederum auf regionaler, kantonaler und Bundesebene zusammengeführt werden. In den Räten sind bestimmte Komitees für bestimmte Politikbereiche zuständig. Grundsätzlich wird in den Räten nach dem Konsensprinzip entschieden.
Auch das Justizsystem funktioniert nach dem Räteprinzip. Auf der Basisebene wurden so genannte Friedens- und Konsenskomitees eingerichtet, die in den Dörfern, Stadtteilen oder sogar Straßenzügen versuchen Konflikte zu schlichten. Auf der kommunalen Ebene gibt es dann eine Doppelstruktur, wo es neben den Friedens- und Konsenskomitees auch noch eigene Frauenkomitees gibt, die für Fälle patriarchaler Gewalt gegen Frauen zuständig sind. Auf jeder Ebene des Rätesystems gibt es auch Komitees, die als Gerichte fungieren.
Praktisch stellte sich allerdings in allen Rätesystemen immer wieder die Frage, ob die Räte tatsächlich das alleinige Entscheidungsgremium sind und wichtige Entscheidungen nicht in anderen, weniger demokratisch legitimierten Gremien getroffen werden. So gab es in der frühen Sowjetunion die Auseinandersetzung zwischen AnarchistInnen und RätekommunistInnen auf der einen und den Parteikommunisten auf der anderen Seite.
Die AnarchistInnen und RätekommunistInnen verlangten „alle Macht den Räten“ und kritisierten die Machtpolitiker der Kommunistischen Partei, weil sie in der Realität die Macht der Partei gegeben hätten. Gerade in Bürgerkriegssituationen, wie es in der frühen Sowjetunion aber auch in Syrien der Fall ist, gewinnt in entscheidenden strategischen Fragen oft die militärische Logik und damit auch die militärische Struktur immer mehr an Bedeutung gegenüber den basisdemokratischen Räten. Mao Zedong sprach deshalb davon, dass die „politische Macht aus den Gewehrläufen“ käme.
Dieses Grundproblem von Rätesystemen und Demokratie in Kriegssituationen stellt sich auch in den selbstverwalteten kurdischen Gebieten Syriens. Parallel zum Rätesystem bilden die militärischen Einheiten der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ einen wichtiger Machtfaktor. Dazu blieben die Parteien weiterhin politisch aktiv. Während die Mitgliedsparteien des Kurdischen Nationalrats das neue System bis heute boykottieren, gelang es der PYD, einige kleinere linke Parteien aus dem Nationalrat abzuwerben und einige weitere Parteien zur Mitarbeit am Rätesystem zu gewinnen. Die allermeisten dieser Parteien sind allerdings politisch weitgehend irrelevant und bestehen oft aus lediglich einer Großfamilie. Wirklich relevant sind neben der PYD eigentlich nur die beiden größeren christlich-assyrischen Parteien, also Parteien der aramäischsprachigen Minderheit, die Assyrische Demokratische Partei und die Suryoyo Unionspartei.
Eine gemeinsame Struktur gaben sich die kurdisch verwalteten Gebiete eigentlich erst 2016 unter dem Namen „Demokratische Föderation Nordsyrien“. Im September 2017 fanden schließlich auch Kommunal- und und im Dezember Regionalwahlen statt, bei denen nicht nur Einzelpersonen gewählt wurden, sondern auch drei Listen antraten. Der allzu überwältigend ausgefallene Wahlsieg der von der PYD geführten „Liste Demokratische Nation“ und der Boykott durch die Parteien des Kurdischen Nationalrats wirft allerdings eine Reihe von Fragen bezüglich der demokratischen Legitimation dieser Wahlen auf. In Afrin gewann die von der PYD geführte „Liste Demokratische Nation“ 89,8% und in der Cizîrê gar 93,7%.
Gemessen an europäischen Demokratien herrscht auch in der „Demokratischen Föderation Nordsyrien“ ein deutliches Demokratiedefizit. Verglichen mit der offenen Diktatur des syrischen Regimes einerseits und diverser zu mehr oder weniger dschihadistischen Bandenherrschaften mutierten Gebieten der arabischen Opposition, ist die „Demokratische Föderation Nordysyrien“ allerdings doch eine vergleichsweise zivile Herrschaft, die einen gewissen Pluralismus zulässt.
Bemerkenswert am politischen System der Region ist, dass versucht wird den Frauenanteil in allen Gremien auf die Hälfte zu heben, sondern auch jeder Ratsvorsitz unter einer Doppelführung einer Frau und eines Mannes steht. Damit wird versucht, den in allen Schwesterorganisationen der PKK verbreiteten feministischen Anspruch auf Geschlechtergerechtigkeit umzusetzen. Solche Schritte verändern selbstverständlich nicht sofort eine patriarchal geprägte Gesellschaft, spielen aber auf einer politisch-symbolischen Ebene eine wichtige Rolle.
Und zumindest in der Theorie werden in der Demokratischen Föderation Nordsyrien auch Menschen- und Bürgerrechte garantiert, wurde die Todesstrafe abgeschafft und die Gleichheit aller vor dem Gesetz im so genannten „Gesellschaftsvertrag“ – einer Art Verfassung der Region – festgeschrieben. Nicht alle diese Vorsätze wurden bislang auch umgesetzt. Immerhin gibt es aber keine Todesurteile mehr und auf Kritik von Menschenrechtsorganisationen wurde bislang auch nicht nur mit Abwehr und Gegenvorwürfen reagiert, sondern mit dem Eingeständnis, noch weiter an den selbstgesteckten Zielen arbeiten zu müssen.
Vor vier Wochen hat die Türkei mit dem Angriff auf Afrin den Versuch begonnen dieses Experiment militärisch zu beenden. Bislang nehmen sich die militärischen Erfolge der hochgerüsteten NATO-Armee gegen die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten bescheiden aus. Im Wesentlichen gelang es einer der stärksten Armeen des Nahen Ostens ausschließlich einige Grenzdörfern zu erobern. Von der Stadt Afrin sind die türkischen Truppen auf allen Seiten noch mindestens 18 km entfernt. Entscheidend für die militärisch schwache Performance der türkischen Armee dürfte sein, dass diese v.a. schlecht trainierte und wenig disziplinierte syrischen Hilfstruppen einsetzt, um eigene Verluste zu minimieren. Die massive Kriegspropaganda im Land, zu der allerdings auch türkisch-islamische Institutionen in Österreich und Deutschland herangezogen werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Türkei gegen die hochmotivierten VerteidigerInnen Afrins mehr als nur ihre syrischen Kollaborateure und ihre Luftwaffe einsetzen müsste.
Die Angriffe der Türkei führen jedoch dazu, dass die Kurden von Afrin wieder näher an das syrische Regime heranrücken. Derzeit finden Verhandlungen zwischen den kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten und der syrischen Armee statt, wonach eine begrenzte Rückkehr der syrischen Regierungsarmee zur gemeinsamen Verteidigung des Gebietes gegen den türkischen Angriff ermöglicht werden soll, ohne die Stadt Afrin wieder dem Regime zu übergeben. Bereits länger lässt das Regime Nachschub über Regierungsgebiet zu. Die kurdischen Behörden in Afrin versuchen so eine Verteidigung der Region zu ermöglichen ohne die bisherigen politischen Erfolge völlig dem Regime zu opfern. Bei diesem Drahtseilakt bleibt den Kurden wenig politischer Spielraum. Es wird sich zeigen wie viel von ihrem politischen Experiment sie so in eine Nachkriegsordnung hinüberretten werden können. Gerade in einer Kriegssituation kommt die Macht eben doch auch aus den Gewehrläufen.
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