Die Strategie der Herdenimmunität ist die neoliberale Antwort auf Corona

In den letzten Tagen fällt immer wieder der Begriff der Herdenimmunität. Was für Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder Schweden eine legitime Strategie zur Bekämpfung des Corona-Epidemie ist, kritisiert die Weltgesundheitsorganisation als ein riskantes Experiment, das zu hohen Todeszahlen und dem Kollaps des Gesundheitssystems führen kann. Nach scharfer Kritik rücken einige Regierungen von diesem Kurs ab. Doch warum wird so eine fahrlässige Strategie überhaupt in Erwägung gezogen? Der Grund dafür ist das politische Paradigma des Neoliberalismus, schreibt Isabel Frey. 

(Dieser Artikel ist zuerst auf Englisch erschienen)

Während die meisten europäischen Länder strikte Ausgangsbeschränkungen einführen, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen, wählen einige Länder eine andere Strategie: Herdenimmunität. Anstatt soziale Kontakte einzuschränken und möglichst viele Tests durchzuführen, setzen sie bewusst auf einen hohen Durchseuchungsgrad in der Bevölkerung. Dadurch soll ein Großteil der Bevölkerung immun werden. Der britische Premier Boris Johnson brachte als erster diese umstrittene Strategie ins Spiel und hat bis vor ein paar Tagen kaum Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie ergriffen.

Auch Schweden und die Niederlande verfolgten trotz harscher Kritik der Weltgesundheistorganisation diesen Plan. Zwar haben sich  sowohl Großbritannien als auch die Niederlande mittlerweile von der Herdenimmunität distanziert; ähnlich rigorose Maßnahmen wie in anderen europäischen Ländern bleiben aber weiterhin aus.  So werden zum Beispiel in den Niederlanden und in Schweden weiterhin nur Menschen aus Risikogruppen getestet, und auch Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen bleiben aus.

Diese Länder argumentieren, dass die Herdenimmunität die einzige langfristig Strategie sei, da bei Lockerung von Ausgangssperren die Epidemie immer wieder neu ausbrechen könnte. Anstatt das ganze Land unter Quarantäne zu setzen und die Wirtschaft herunter zu fahren, sollen nur Risikogruppen von der restlichen Bevölkerung isoliert werden. Allerdings haben unzählige Epidemiologinnen und Epidemiologen die Strategie als unwissenschaftlich, riskant und potenziell tödlich kritisiert. Ein jüngst erschienener Bericht des Imperial College London hat die Zahl der Todesopfer in Großbritannien in diesem Szenario auf 250,000 geschätzt. Dieser Bericht war es letztendlich, der die britische Regierung umdenken ließ. Das liege daran, dass es nicht möglich ist, Risikogruppen so effektiv zu isolieren, ohne die Kapazitäten des Gesundheitssystems zu übersteigen.

Epidemiologischer Neoliberalismus

Warum würden europäische Länder so eine riskante Strategie überhaupt in Erwägung ziehen und gegen die Empfehlungen der WHO handeln? Der Grund dafür ist der Neoliberalismus. Das ist das dominante politische Paradigma seit den 1980er Jahren, das auf Kürzungen im öffentlichen Sozial- und Gesundheitssystem setzt, auf Privatisierungen, Deregulierung und extreme individuelle Verantwortung. Der blinde Glaube an die Gerechtigkeit des freien Markts führt zu einer Politik, die Profit über das Wohlergehen der Menschen stellt. Zudem lässt es Menschen glauben, Armut, Arbeitslosigkeit oder prekäre Leben sind die Schuld der Einzelnen – nicht der Gesellschaft.

Herdenimmunität ist epidemiologischer Neoliberalismus. Die Strategie beruht auf der Annahme, dass eine Epidemie am besten bekämpft wird, indem man nicht eingreift, sie also dereguliert – genauso wie der freie Markt. Doch so wie auch der Neoliberalismus, trifft die Strategie der Herdenimmunität letztendlich die Schwachen und die Armen am härtesten: Ältere Menschen, Menschen mit Beeinträchtigungen, Obdachlose, Flüchtlinge oder Menschen mit schweren Vorerkrankungen werden einer großen Gefahr ausgesetzt. Das sind die Menschen, die das höchste Risiko haben, an COVID-19 zu sterben – insbesondere wenn das Gesundheitssystem überlastet ist und Ärzte und Ärztinnen abwägen müssen, wem sie das Leben retten und wen sie sterben lassen, wie das heute in Italien der Fall ist.

Gesundheits- und Sozialsystem zusammengekürzt

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Großbritannien und die Niederlande auf diese Strategie setzen wollten, denn diese Staaten fahren schon lange Jahre einen neoliberalen Kurs. Sie haben systematisch im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystem gekürzt und eine Politik betrieben, die wirtschaftliche über soziale Interessen stellt. Daher ist es wenig überraschend, dass sich diese Regierungen gegen Quarantäne-Maßnahmen stellen, auch wenn sie Leben retten – schlicht weil sie der Wirtschaft Verluste bringen würden. Allerdings ist Schweden ein etwas anderer Fall: Es ist ein Land, das weltweit für gute Sozialpolitik und einen großzügigen Wohlfahrtsstaat bekannt ist. Doch sogar eine traditionsstarke Sozialdemokratie wie Schweden ist nicht von neoliberaler Politik verschont geblieben; auch der schwedische Wohlfahrtsstaat ist in den letzten Jahrzehnten systematisch abgebaut worden.

Die Kürzungen im Gesundheitssystem führen dazu, dass die Ausgangsbedingungen in diesen Ländern sehr schlecht sind: Wenige Intensivbetten und wenig Personal. Die größte Herausforderung der Corona-Epidemie ist es, die Ausbreitungskurve so flach zu halten, dass die Kapazitäten der Intensivstationen nicht erschöpft werden. Aber die Kapazitäten dieser drei Länder sind so niedrig, dass sie auch mit strikten Quarantäne-Maßnahmen nicht ausreichen würden. Großbritannien und die Niederlande haben nur halb so viele Intensivbetten pro Person wie Italien; und Schweden, der vermeintlich beste Sozialstaat, hat sogar weniger als die Hälfte.

https://www.researchgate.net/figure/Numbers-of-critical-care-beds-corrected-for-size-of-population-per-100-000-inhabitants_fig1_229013572

Kapazitäten würden trotz Quarantäne nicht genügen

Hätten diese Länder verhindern wollen, dass die Grenzen ihres Gesundheitssystems überschritten werden, hätten sie schon längst handeln müssen. Doch jetzt stehen sie nach Jahren der Kürzungen vor den Trümmern ihrer Politik. Würden sie jetzt strikte Quarantänemaßnahmen einführen, würde das nicht nur die Wirtschaft schwer belasten, sondern auch zeigen, wie kaputtgespart ihre Gesundheitssysteme sind.

Indem neoliberale Regierungen auf Herdenimmunität setzen, können sie nicht für das Scheitern des Gesundheitssystems zur Rechenschaft gezogen werden.

Denn genauso wie arme Menschen selbst verantwortlich gemacht werden, weil sie nicht hart genug zu arbeiten, können auch kranke Menschen beschuldigt werden, sich nicht konsequent genug isoliert zu haben. So kann die Politik die Verantwortung für hohe Todeszahlen von sich weisen.

Herdenimmunität ist keine riskante epidemiologische Strategie, sondern biologische Kriegsführung. Sie führt zum Tod vieler Menschen, ohne dass Regierungen dafür Verantwortung übernehmen müssen. Aber diese Strategie kommt nicht überraschend, nach Jahrzehnten neoliberaler Politik. Denn wenn man an einen unregulierten Markt glaubt, ist auch eine unregulierte Epidemie nicht abwegig – auch wenn sie für Hunderttausende tödlich endet.

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7. August 2024
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