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Der deutsche Journalist Deniz Yücel war ein Jahr inhaftiert

Deniz Yücel wird von der türkischen Justiz „Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“ vorgeworfen. Tatsächlich war sein Vergehen wohl, dass er, wie andere Journalisten auch, über eine Affäre um Berat Albayrak, den Energieminister und Schwiegersohn des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, berichtet hat. Als Reaktion auf die Berichterstattung ließ die türkische Regierung mehrere JournalistInnen und angebliche HackerInnen der Gruppe Redhack festnehmen und inhaftieren. Er sitzt seither ohne Anklage im Gefängnis, die Haftbedingungen grenzen an Folter.

UPDATE 16. Februar 2018:
Deniz Yücel wurde aus der Haft entlassen, das Verfahren wurde allerdings nicht eingestellt, wie unter anderen DerStandard.at berichtete.

Am 14. Februar 2017 ging Deniz Yücel zu einer Befragung der Polizei in Istanbul. Er kam dort in einen zweiwöchigem Polizeigewahrsam und ist seit 1. März 2017 ohne Anklage im Gefängnis Silivri inhaftiert.

Der 1973 in Deutschland geborene Deniz Yücel hat türkische Wurzeln, studierte in Berlin Politikwissenschaft und schreibt für mehrere deutsche Zeitungen wie die Welt, Jungle World, konkret,  Tagesspiegel, die Jüdische Allgemeine, taz, Süddeutsche Zeitung, WDR, NDR, BR. Nun wird er gemeinsam mit anderen JournalistInnen, Intellektuellen und bekannten Oppositionellen in der berüchtigten Haftanstalt Silivri gefangen gehalten. Gesinnungshaft und Missachtung der Pressefreiheit ist in der Türkei heute weit verbreitete Praxis.

Anders als viele seiner Mitinsaßen wurde Deniz Yücel von März 2017 bis Dezember 2017 in vollständiger Einzelhaft bzw. Isolationshaft gehalten. In diesen sieben Monaten hatte er keinen Kontakt zu anderen Gefangenen. Seit Dezember 2017 hat er über einen gemeinsamen kleinen Hof zu dem Journalisten Oğuz Usluer von der Tageszeitung „Habertürk“ Kontakt.

Isolationshaft ist Folter

Isolationshaft bedeutet konkret, dass den Häftlingen jeder zwischenmenschliche Kontakt, jede soziale Interaktion verboten ist. Lediglich seltene Anwalts- und Arztbesuche sowie wöchentliche Besuche seiner Frau Dilek sind gestattet. Wie aus anderen Fällen längerer Isolationshaft bekannt ist,  führte eine solche Behandlung zu erheblichen psychischen und physischen Schäden. So etwa verlieren die Augen die Fähigkeit nah und weit zu fokussieren, weil sie nichts sehen, was in der Ferne liegen würde. Weder Vögel im Himmel noch weit entfernte Bäume.

Fachbegriffe aus dem Gefängniswesen wie „Toter Trakt“, „sensorische Deprivation“ oder „Camera Silence“ verweisen darauf, dass Isolationshaft eine wissenschaftlich erforschte Methode ist, um die Psyche der Inhaftierten zu treffen, schreibt Peter Nowak auf telepolis. Isolationshaft wird in der Türkei systematisch angewandt, Häftlinge haben immer wieder mit Hungerstreik gegen diese Form von Folter in der Haft protestiert.

Ein Jahr Haft, keine Anklageschrift

Obwohl Deniz Yücel seit einem Jahr inhaftiert ist, hat die Staatsanwaltschaft bis heute keine Anklageschrift präsentiert. Weil das Verfahren von der türkischen Justiz als „Geheimverfahren“ eingeordnet wurde, erhalten die Anwälte von Deniz auch keinen Einblick in die Ermittlungsunterlagen. So wissen weder die Anwälte noch Deniz selbst, was ihm in einem Gerichtsprozess genau vorgeworfen werden würde.

Gegen diese Inhaftierung, die man als „Strafe vor der Strafe“ bezeichnen könnte und gegen die Isolationshaft im besonderen, haben die Anwälte von Deniz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Beschwerde eingelegt. Darin ging es auch um die Vorwürfe, mit denen die Inhaftierung gerechtfertigt wird. Am 28. November wiederholte die türkische Regierung die gleichen Vorwürfe, mit denen der Haftrichter im Februar 2017 die Untersuchungshaft beantragte hatte.

„Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“

Die Vorwürfe lauten „Terrorpropaganda“ und „Volksverhetzung“. Der erste Vorwurf basiert darauf, dass Deniz Yücel für die Tageszeitung „Die Welt“ Cemil Bayık, einen PKK-Anführer, interviewte. Die Fragen, die Yücel stellte, sind gegenüber der PKK durchaus kritisch gehalten, es handelt sich bei dem Interview um einen journalistischen Text, wie er tagtäglich in aller Welt veröffentlicht wird. Der zweite Vorwurf ist noch absurder: weil Deniz den folgenden bekannten kurdischen Witz in einem Text zitierte, soll er die Volksgruppen in der Türkei gegeneinander aufgehetzt haben:

Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt. ‚Was ist dein letzter Wunsch?‘, wird der Kurde vor Vollstreckung gefragt. Er überlegt kurz und sagt dann: ‚Ich liebe meine Mutter sehr. Bevor ich aus dieser Welt scheide, möchte ich noch einmal meine Mutter sehen.‘ Dann darf der Türke seinen letzten Wunsch äußern. Ohne zu zögern antwortet er: ‚Der Kurde soll seine Mutter nicht sehen‘.

Mit der Freilassung des Menschenrechtlers Peter Steudtner am 26. Oktober 2017 und der Freilassung der Journalistin Meşale Tolu am 18. Dezember 2017 entstanden gewisse Hoffnungen, dass die Inhaftierung von Deniz Yücel auch ein Ende finden könnte. Allerdings war bereits die Freilassung von Tolu davon überschattet, dass die Journalistin nach dem Verlassen des Gefängnisses über mehrere Stunden von Polizisten festgehalten wurde. In anderen Fällen, wie etwa dem des bekannten Publizisten Mehmet Altan und dem des Journalisten Şahin Alpay wurden die gerichtlich angeordneten Freilassungen von untergeordneten Gerichten wieder revidiert – ein bis dahin undenkbarer Vorgang.

Ein Jahr nach der Festnahme von Deniz Yücel hat sich die allgemeine politische Lage in der Türkei insgesamt verfinstert. Das autokratische Präsidialsystem wurde inzwischen per Referendum abgesegnet und die Zahl der Inhaftieren steigt jeden Tag. Seit dem Beginn der türkischen Offensive gegen Afrin in Nordsyrien am 20. Januar 2018 wurden 449 Menschen wegen kritischen Äußerungen in den Sozialen Medien festgenommen. Andere Festnahmewellen gegen vermeintliche Gülen-Anhänger oder Sympathisanten der linken Oppositionspartei HDP gehen ebenso ungebremst weiter. Die Angehörigen, FreundInnen und KollegInnen von Deniz kämpfen trotzdem weiter, um seine Freilassung zu erreichen.

Weiterlesen:

Der Text ist ursprünglich auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen.

 

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 58%, 1616 Stimmen
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12. März 2024
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