Estland gehört zu den ärmeren Ländern der EU, hat aber die besten Schulen Europas. Estnische Schülerinnen und Schüler sind Europas PISA-Sieger – in Mathematik, Lesefähigkeit und Naturwissenschaften liegen sie jedes Mal auf Platz 1. Dabei hat Estland ein Bildungsbudget, das deutlich unter dem OECD-Schnitt liegt. Was ist das Geheimnis hinter dem estnischen Erfolg?
Estlands Schulsystem setzt vor allem auf Gleichheit: Jedes Kind soll die gleichen Bildungserfahrungen machen. Egal ob arm oder reich, zur russischen Minderheit gehörend oder mit Migrationshintergrund. Jürgen Ligi, der ehemalige Bildungsminister Estlands, betont: „Wir konnten Bildung für alle gleich halten. Es hat funktioniert.“
Die Ergebnisse der PISA-Studie geben ihm recht: In Estland gibt es deutlich weniger schwache SchülerInnen als in anderen europäischen Ländern. Darunter leidet aber keineswegs die Qualität bei den ausgezeichneten Schülern. Denn auch von denen gibt es deutlich mehr als anderswo.
Gerade einmal 5% der estnischen SchülerInnen fallen in die Kategorie der leistungsschwachen SchülerInnen. Dem stehen mehr als 20% leistungsstarke Schüler entgegen. Zum Vergleich: In Österreich erreichen nur 16% Top-Niveau, knapp 14% sind jedoch leistungsschwach.
Daneben ist der Unterschied zwischen Buben und Mädchen kleiner und auch ärmere Kinder schaffen weit bessere Ergebnisse als etwa in Österreich. Nur wenn es um Menschen mit Migrationshintergrund geht, schneidet Estland nur durchschnittlich ab.
Estlands Schulsystem ist sehr effizient. Das Land gibt lediglich 2,7% seines Brutto-Inlands-Produkts (BIP) für Schulen aus – und liegt damit ein Drittel unter dem OECD-Schnitt. Auch die Bildungsausgaben pro Kopf sind erstaunlich niedrig: Mit rund 7.000 Dollar betragen sie nur etwas mehr als die Hälfte der österreichischen Ausgaben. Und trotzdem liegt Estland in der PISA-Studie vor Österreich.
Fast alle Kinder besuchen den Kindergarten, der mit einem verpflichtenden Vorschuljahr abschließt. Daran schließen die Grundschule und später die weiterführenden Schulen an. Die meisten Schulen sind ganztägig.
Eine Trennung ab der 5. Schulstufe wie in Österreich kennt man in Estland nicht. Im Gegenteil: In den neunziger Jahren versuchte man, SchülerInnen in manchen Schulen entsprechend ihrer Leistungen in Leistungsgruppen aufzuteilen, in denen in unterschiedlichem Tempo gelernt wurde. Eine Idee, von der man bald wieder abkam, denn: Die schwächeren Schüler entwickelten sich kaum mehr weiter. Und die besseren SchülerInnen profitierten nicht sonderlich von diesem System.
„Wenn man sie nach Leistung trennt, nimmt man vielen Schülern die Chance, sich weiter zu entwickeln. Warum sollte man das in einer Schule machen?“, erklärt der Direktor des Jakob Westholmi Gumnaasium in Tallinn, Rando Kuustik.
Bis 16 werden die estnischen Kinder gemeinsam unterrichtet. In Österreich gibt es das nur bis 10.
In Estland gibt es zwar Noten, aber auch individuelles Feedback über die Entwicklung. Schafft ein Schüler die Anforderungen nicht, ist die Schule am Zug: Sie muss Förderprogramme, Sozialarbeit und psychologische Betreuung anbieten, um den Schüler beim Lernen zu unterstützen.
Schulbücher, Schulbus, Freizeit- und Lernangebote und das Mittagessen gehören in Estland zu Schule. Und das bedeutet: all das ist gratis. Dabei ist Estland eines der ärmsten Länder in der OECD. Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf beträgt dort knapp 20.000 US-Dollar. Zum Vergleich: in Österreich sind es mit 47.000 US-Dollar mehr als doppelt so viel.
Entscheidend für die Entwicklung des estnischen Schulsystems waren die 1990er Jahre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion setzten Länder wie Ungarn oder Tschechien auf Schulsysteme, die den Wünschen der Eliten entsprachen. Anders Estland: Hier setzte man auf Gleichheit und Fairness. Die Idee, dass es gute Bildung nicht nur für die Oberschicht geben soll, wurde von einer modernen Schulstruktur ergänzt: Seither können Direktoren ihre Lehrer selbst aussuchen (und entlassen), Einfluss auf die Entwicklung der Schule nehmen und Schwerpunkte setzen.
Estlands Erfolg schlägt sich nicht nur in Wertungen wie PISA nieder. Das estnische Schulsystem setzt auf Gleichheit und geht gleichzeitig davon aus, dass jeder Schüler und jede Schülerin in der Lage ist, den Stoff zu lernen und zu beherrschen. Wer langsamer lernt, wird nicht zurückgelassen. Stattdessen setzt man auf Prävention: Mittels Sozialarbeit oder psychologischer Lernbetreuung versucht man, Lernprobleme frühzeitig zu erkennen und umfassend gegenzusteuern – bevor die Probleme nur mehr schwer zu lösen sind.
Gleichzeitig zeigt Estland aber auch: Ein Schulsystem, das auf Gleichheit aufbaut, das alle fördert, funktioniert besser – und auch die ausgezeichneten Schüler profitieren davon.
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