Arbeit & Freizeit

Die gleichen Lügen seit 100 Jahren: Wie ÖVP und Lobbyisten kürzere Arbeitszeiten verhindern wollen

Die ÖVP wehrt sich gegen die Arbeitszeitverkürzung – seit über 100 Jahren. Geht es nach den Christlichsozialen und den Industriellen-Vertretern, wäre es nie zu kürzeren Arbeitstagen gekommen. Hätten sich Gewerkschaften und Arbeitnehmer nicht gegen sie durchgesetzt, würden die Menschen in Österreich noch immer 12, 14 oder gar 16 Stunden am Tag arbeiten – und das an sechs Tagen die Woche.

Die große Nachfrage nach Arbeitskräften könnte in Österreich die Vier-Tage-Woche bringen. Neben den Sozialdemokratischen sind auch die Christgewerkschafter dafür, die Arbeitszeiten zu verkürzen – bei vollem Lohn. Rückenwind kommt aktuell aus Großbritannien, wo ein Pilotversuch mit 61 Unternehmen und 3.000 Beschäftigten positive Ergebnisse äußerst gebracht hat: Die Krankheitstage sanken um zwei Drittel, die Produktivität stieg sogar um 1,4 % – die Beschäftigten fühlten sich wohler und weniger gestresst. 56 von 61 britischen Firmen wollen an der 4-Tage-Woche festhalten. 18 Unternehmen haben die verkürzte Arbeitszeit bereits fix eingeführt. Doch in Österreich kommt Gegenwind von konservativer Seite: ÖVP, Wirtschaftskammer und industrie-nahe Wirtschaftsforscher blasen gegen kürzere Arbeitszeiten. Das ist nichts Neues.

Seit über 100 Jahren fordern die arbeitenden Menschen und ihre Vertreter und Vertreterinnen kürzere Arbeitszeiten – immer wieder mit Erfolg. So kam man 1885 zu einem 11-Stunden-Tag und einer 60-Stunden-Woche mit sechs Arbeitstagen. 1918 wurde der 8-Stunden-Tag in Österreich und Deutschland gesetzlich verankert – bei sechs Arbeitstagen pro Woche bedeute das eine 48 Stunden Woche. In den 1970er Jahren wurden daraus 8 Stunden an fünf Tagen die Woche als normale Arbeitszeit. Auch wenn die Arbeitswelt heute eine völlig andere ist als 1885, 1918 oder 1970 – die Argumente gegen kürzere Arbeitszeiten sind auch im Jahr 2023 die gleichen wie damals.

Dass die 40-Stunden-Woche eingeführt wurde, ist fast 50 Jahre her – seither ist die Arbeitszeit in Österreich nicht mehr generell gesenkt worden, trotz stark gestiegener wirtschaftlicher Leistung und deutlich mehr Arbeitsdruck. Nur einige Branchen haben die Arbeitszeit in Kollektivverträgen gesenkt. 2018 erließ die schwarz-blaue Bundesregierung unter Sebastian Kurz sogar noch eine Arbeitszeitverlängerung: Erstmals ist wieder die 60-Stunden-Woche möglich. Es wäre an der Zeit, über die Arbeitszeit in Österreich zu reden, da sind sich viele Experten, Politikerinnen, Arbeitnehmer und deren Vertreterinnen einig. Doch die ÖVP ist – wie schon vor hundert Jahren – dagegen.

Wir haben uns die wichtigsten Argumente der letzten 100 Jahren angesehen und die konservativen Warnungen mit der Realität verglichen.

Es ist leider nie der richtige Zeitpunkt

Das häufigste Argument der ÖVP gegen eine 4-Tage Woche ist der Zeitpunkt. Gerade jetzt, in Zeiten der Corona-Krise/Teuerung/Arbeitskräfteknappheit, könne man wirklich nicht über eine Verkürzung der Arbeitszeit nachdenken, sagen sie. Doch ein Blick in Parlamentsreden und Wortmeldungen von ÖVP-Politikern aus den letzten 100 Jahren zeigt: Hätten Österreichs Arbeitnehmer auf den Zeitpunkt gewartet, der für die ÖVP und Unternehmervertreter der richtige für kürzere Arbeitszeiten gewesen wäre, hätten sie heute wohl noch den 12-Stunden-Tag und die 6-Tage-Woche.

Die ÖVP und Industrielle haben in einem Punkt Recht: Es gibt keinen naturgegeben Zeitpunkt für eine gesetzliche Reduktion der Arbeitszeit. Arbeitszeitverkürzung fallen nicht vom Himmel. Fast alle Reduktionen mussten der ÖVP und den Wirtschaftsvertretern schwer abgerungen werden – mit Demonstrationen, Streiks, Protesten und Volksbegehren.

Das Standort-Argument: Kein Unternehmen bleibt in Österreich

Auch die Drohung, dass Unternehmen vor kürzeren Arbeitszeiten und „teureren Arbeitnehmern“ ins Ausland fliehen würden, gibt es schon länger als die Globalisierung. Die Abwanderungs-Angst ist seit über hundert Jahren ein beliebtes Argument gegen fast jede Verbesserung für Arbeitnehmer:innen. Das ist bei der Arbeitszeitverkürzung nicht anders.

Dieser Meinung waren nicht nur die Vertreter der Wirtschaft, sondern sogar der Deutsche Kaiser. 1890 war sich Wilhelm II. sicher, dass bessere Arbeitsbedingungen die deutsche Industrie ruinieren und nicht mehr konkurrenzfähig mit dem Ausland machen würden: „In wirtschaftlicher Beziehung ist zu erwägen, daß durch eine zu weitgehende Arbeiter-Schutzgesetzgebung eine unverhältnismäßige Belastung der deutschen Industrie gegenüber der ausländischen herbeigeführt und die erstere in dem Wettbewerb im Weltverkehr beeinträchtigt wird. (…) Wird auf dieser Bahn weiter fortgeschritten, und kann Deutschland nicht mehr die Konkurrenz des Auslandes vertragen, so tritt mit der Schädigung der Industrie auch eine Schädigung im Verdienst der Arbeiter ein.“

@kontrast.at So viele gute Argumente, aber #ÖVP ist beratungsresistent. #4TageWoche #politik #worklifebalance #fyp ♬ Originalton – Kontrast

Dass Unternehmen Österreich nicht den Rücken kehren, ist für viele Experten und Expertinnen klar: Die hohe Qualifikation, die gute Infrastruktur und hohe Lebensqualität ziehen Firmen seit Jahrzehnten an und bleiben ein wesentlicher Standortfaktor:

„In Österreich liegt die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte im europäischen Spitzenfeld. Im europäischen Ausland wird fast überall kürzer gearbeitet. Die ewige Drohung einer Standortverlagerung gehört übrigens zu den übelsten Methoden, um die eigenen Interessen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen“, sagt AK-Wirtschaftsexperte Matthias Schnetzer zu der Diskussion.

Auch der neue „Arbeitsminister“ Martin Kocher bläst ins gleiche Horn und entlockt ihm altbekannte Töne: Kocher lehnt eine Verkürzung der Arbeitszeit ab, denn Arbeitszeitverkürzung „erhöht die Lohnkosten“ und „wäre schlecht für den Standort“. Der Export-Vergleich zeigt auch, wie konkurrenzfähig Österreich im internationalen Vergleich geblieben ist.

Die Konkurrenz aus dem Ausland kann man als Argument gegen eine Arbeitszeitverkürzung nicht gelten lassen.

Woher die Fachkräfte für die offenen Stellen nehmen?

Obwohl Konservative gerne behaupten, eine Arbeitszeitreduktion würde „Arbeitsplätze vernichten“, bringen sie gerne auch das gegenteilige Argument: Dass es nicht genügend qualifizierte Personen gibt, um die neu geschaffenen Stellen zu besetzen.

In Österreich kommen derzeit auf eine offene Stelle zwei Arbeitslose und in manchen Branchen werden dringend Arbeitskräfte gesucht. Das verbessert auch die Verhandlungsposition für Arbeitnehmer:innen – wann sollen Verbesserungen für sie eingeführt werden, wenn nicht bei einer so guten Ausgangslage am Arbeitsmarkt? Als zwischen 1970 und 1975 die 40 Stunden Woche schrittweise eingeführt wurde, kamen in Österreich auf einen Arbeitslosen zwei offene Stellen – der „Arbeitskräftemangel“ war also deutlich größer, nur nannten das damals die meisten Vollbeschäftigung. Das angekündigten Unternehmersterben oder ein Produktionseinbruch blieben natürlich auch damals aus.

Im Gegenteil kann die 4-Tage-Woche sogar helfen, Arbeitskräfte zu finden. Viele Firmen setzen aktuell auf kürzere Arbeitszeiten und generell bessere Arbeitsbedingungen, um mehr Menschen anzuwerben. Die hochtechnologisierte Chemie- und Stahlindustrie setzt zum Teil auf eine 32-Stunden-Woche. Auch der Osttiroler Seifenhersteller „Brüder Unterweger“ setzte wirbt mit kürzeren Arbeitstagen.

„Mittlerweile stellt sich heraus, dass nicht nur das Geld allein der ausschlaggebende Punkt ist, um sich irgendwo zu bewerben, sondern durchaus auch die verfügbare Freizeit“, ist sich Chef Michael Unterweger sicher. „Durch dieses Angebot finden wir eine ausreichende Zahl an guten Mitarbeitern, vor allem auch höhe qualifizierte Mitarbeiter.“

Auch in der Arbeiterkammer weiß man um solche Bemühungen: „Branchen wie Tourismus oder Pflege könnten für viele an Attraktivität gewinnen, wenn die Arbeitszeit verkürzt werden würde“, erklärt Ökonom Schnetzer. „Auch wenn zur Lösung des Fachkräftemangels andere Maßnahmen deutlich wichtiger sind, etwa Investitionen in berufliche Aus- und Weiterbildung.“

Wer soll das bezahlen? Wir kosten zu viel!

Für Unternehmen würde es eine unleistbare Mehrbelastung darstellen, wenn für die gleichen Löhne weniger gearbeitet würde. Eine Kostenexplosion und ein Rückgang der Produktion wären die Folge – der Untergang aller Unternehmen, sind sich ÖVP und Industrielle sicher.

Auch hier zeigt die Geschichte, dass die Befürchtungen umsonst waren. Die österreichische Textilindustrie, die sich vehement gegen die Einführung des 11-Stunden-Tages eingesetzt hat, verarbeitete 1913 24 Mal mehr Baumwolle als noch 1841 mit Arbeitstagen von 12 Stunden. Von einem Produktionseinbruch aufgrund der Arbeitszeitverkürzung 1885 kann also keine Rede sein.

Noch auffälliger hat sich die ökonomische Lage nach der etappenweisen Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1970er Jahren entwickelt. Das Wirtschaftswachstum der 1970er Jahre mit jährlichen Wachstumsraten von fünf bis sieben Prozent konnte Österreich bis heute nie wieder erreichen. Auch die Lohnstückkosten haben sich in der österreichischen Industrie außerordentlich günstig entwickelt. Im Vergleich zu den anderen Ländern, die damals schon in der EU waren, verzeichnete Österreich zwischen 1964 und 1997 jährlich einen Lohnkostenvorsprung von 0,8%.

Das angekündigten Unternehmersterben oder ein Produktionseinbruch lassen sich also historisch nicht belegen – im Gegenteil.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Unternehmer allerdings einen immer größeren Anteil aus den steigenden Erträgen der Firmen genommen. Die Arbeitnehmer haben immer weniger von dem gesehen, was sie erwirtschaftet haben. Das zeigt sich in der Lohnquote, die langfristig gesunken ist und der Gewinnquote, die gleichzeitig gestiegen ist. Währenddessen mussten wir uns anhören, dass sich Unternehmen arbeitnehmerfreundliche Maßnahmen nicht leisten können.

Die Lohnquote ist langfristig gesunken und die Gewinnquote gestiegen.

Dabei weiß man, dass kürzere Arbeitszeiten die Konzentration und Produktivität der Mitarbeiter fördern. Sie reduziert Arbeitsunfälle und auch Krankenstände, weil Mitarbeiter weniger oft psychisch und körperliche überlastet sind. Das betont auch AK-Wirtschaftsexperte Schnetzer, gibt aber zu bedenken: „Eigentlich ist die zentrale Frage weniger, was der Wirtschaft schadet, sondern was gut für die Menschen ist. Dabei spielen wirtschaftliche Interessen natürlich eine Rolle, aber eben nicht ausschließlich“. Aber das ist auch dem neuen „Arbeitsminister“ Martin Kocher egal, er lehnt Arbeitszeitverkürzung auch mit dem Argument der „höheren Lohnkosten“ ab, die Arbeitenden sind für ihn primär ein Kostenfaktor.

Schreckgespenst Arbeitszeitverkürzung

Die Geschichte zeigt, dass die Argumente vor allem dazu dienen, Angst zu schüren und jede Verbesserung für Arbeitnehmer als unmöglich darzustellen. Doch der befürchtete Untergang hat sich nicht bewahrheitet. Die österreichische Volkswirtschaft hat sich in jedem Fall gut entwickelt, trotz – oder gerade wegen – der historischen Arbeitszeitverkürzungen: Wirtschaftswachstum, Exporte und Produktivität sind über die Jahre stetig gestiegen. Bei der Arbeitsproduktivität liegt Österreich im EU-Schnitt im Spitzenfeld und liegt mit 116,6 Prozent der Bruttowertschöpfung pro Beschäftigten vor Industrienationen wie Frankreich, Deutschland, Italien oder Großbritannien. Ausschlaggebend dafür sind vor allem die qualifizierten und motivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Die Frage ist, wer von diesem Fortschritt profitiert. Spätestens seit den 1990er Jahren hinken die Löhne der steigenden Produktivität hinterher. Es wird zwar schneller, besser und mehr produziert, aber die Löhne steigen nicht entsprechend mit. Auf der anderen Seite sieht man, dass sich die Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr aus den Gewinnen sicherten. Es wäre höchste Zeit, mit einer Arbeitszeitverkürzung eine faire Aufteilung dieses gemeinsam erwirtschafteten Fortschritts zu erreichen.

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 59%, 1547 Stimmen
    59% aller Stimmen 59%
    1547 Stimmen - 59% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 15%, 404 Stimmen
    15% aller Stimmen 15%
    404 Stimmen - 15% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 12%, 327 Stimmen
    12% aller Stimmen 12%
    327 Stimmen - 12% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 241 Stimme
    9% aller Stimmen 9%
    241 Stimme - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 5%, 120 Stimmen
    5% aller Stimmen 5%
    120 Stimmen - 5% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 2639
12. März 2024
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Kontrast Redaktion

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