Eine Strecke verbindet Graz und Klagenfurt in 41 Minuten, aber ihre eigentliche Kraft liegt tiefer: Nach 27 Jahren Bauzeit ist dieses Jahrhundert-Projekt bereit, den Süden unseres Landes neu zu definieren. Die Koralmbahn verkürzt Wege – und vermehrt Möglichkeiten. Sie verändert nicht nur unser Reiseverhalten, sondern auch Machtverhältnisse zwischen Regionen. Mit der Koralmbahn verfolgt man den Anspruch, strukturschwache Gebiete mitzunehmen. Gleichzeitig zeigt sie, wie ambitioniert der Staat sein kann, wenn er den langen Atem für große Vorhaben aufbringt.
41 Minuten mit dem Zug von Graz nach Klagenfurt statt 90 Minuten mit dem Auto. Der sechstlängste Eisenbahntunnel der Welt. 5,9 Milliarden Euro Kosten. Die Zahlen zur Koralmbahn zeigen: Es handelt sich um ein Jahrhundertprojekt. Im Dezember 2025 geht die neue Bahnstrecke zwischen Graz und Klagenfurt in Betrieb. Doch was bringt die Hochleistungsstrecke wirklich? Wer profitiert – und wer eher nicht?
Wie die fast 100 Jahre alte Idee langsam Realität wurde
Die Idee einer direkten Bahnverbindung zwischen Graz und Klagenfurt ist so alt wie die ÖBB selbst. Schon Mitte der 1920er diskutierte der Kärntner Landtag über eine „Kärntner Ostbahn“ von Klagenfurt nach Graz. Doch erst in den 1990er Jahren nahm das Projekt langsam Form an. Nachdem der niederösterreichische Landeshauptmann Erwin Pröll den Semmering-Basistunnel politisch blockierte, rückte die Vision einer Hochleistungsbahn im Süden wieder in den Fokus der Bundespolitik.
Anfang der 2000er Jahre schichtete die Bundesregierung Mittel um und so konnten die Planungen aus 1995 langsam umgesetzt werden. Insgesamt brauchte das Projekt 27 Jahre bis zur Fertigstellung.
Historisch endet damit eine Durststrecke. Nach 1918 hat Österreich keine durchgehend neue Fernverkehrsstrecke mehr gebaut, nur modernisiert. „Man kann die Koralmbahn gar nicht hoch genug einschätzen“, sagt Stefan Marschnig vom Institut für Eisenbahnwesen der TU Graz.

Politische Blockaden, verpasste Chancen und ein Projekt, das erst spät Fahrt aufnahm
Hinzu kommt, dass kein anderes Bahnprojekt – weder Brenner- noch Semmering-Basistunnel – in den letzten Jahrzehnten so exakt im Kostenplan geblieben ist. Die geplanten 5,4 Milliarden Euro aus dem Jahr 2005 wurden nur leicht überschritten. Es handelt sich um eines der größten Infrastrukturprojekte der Zweiten Republik.
Dabei war der Bau keineswegs einfach. „Wir sind ein paar Mal stecken geblieben, wir haben zwei Jahre Bauzeit verloren“, erinnert sich Bauprojektleiter Klaus Schneider. So kam es etwa 2022 auch zu einem Brand auf der Baustelle und Unfälle zählten zum Alltag, teilweise mit schwer verletzten Arbeitern.
Was sich ändert, wenn zwei Landeshauptstädte plötzlich nur mehr 41 Minuten voneinander entfernt sind
Wenn am 14. Dezember offiziell die ersten Züge mit 250 km/h über die Strecke fahren, wird sich viel ändern. Graz und Klagenfurt rücken plötzlich eng zusammen und bilden mit 1,1 Millionen Menschen den zweitgrößten Ballungsraum Österreichs.

Es gibt dann 29 Direktverbindungen täglich, davon neun als Railjet Xpress. Letzterer ist die schnellste Verbindung mit 41 Minuten. Auch die Verbindung Wien–Klagenfurt wird um 45 Minuten schneller. Neue Verbindungen fahren bis nach Venedig oder Triest, der Nightjet fährt nach Rom und Mailand.
Ist dann 2030 der Semmering-Basistunnel fertig, braucht man von Wien nach Klagenfurt nur mehr zwei Stunden und 40 Minuten – so viel wie aktuell von Wien nach Graz. Die neue Südstrecke verändert damit ganz Österreich.
Neue Fahrtzeiten auf der Strecke im Überblick
| Wien-Klagenfurt | Graz-Klagenfurt | Graz-Weststeiermark | Weststeiermark- Klagenfurt | Klagenfurt-Lavantal |
| 2:40 Stunden (1:16 Stunden schneller) | 45 Minuten (2:13 Stunden schneller) | 17 Minuten | 37 Minuten | 22 Minuten |
Die Weststeiermark und Südkärnten wurden zu heimlichen Gewinnern der Koralmbahn-Strecke
Die Weststeiermark und Südkärnten sind mit kürzeren Fahrzeiten und mehr Taktungen besser miteinander verbunden. Die ÖBB fährt jetzt schneller und öfter vom Osten in den Süden. Dafür hat man 23 Bahnhöfe neu gebaut oder umfassend modernisiert. Das Einzugsgebiet reicht von der südlichen Obersteiermark bis nach Villach. Zwischen 1996 und 2032 hat man insgesamt 74.000 Arbeitsplätze im Zusammenhang mit der Koralmbahn geschaffen oder gesichert. Denn: Nun sind ganz neue Pendeldistanzen möglich.

Der Bahnverkehr bringt mehr Wertschöpfung als viele denken
Insbesondere für Südösterreich ist die Koralmbahn ein großer wirtschaftlicher Gewinn.
Laut einer ÖBB-Studie erzeugt jeder in die Koralmbahn investierte Euro rund 1,44 Euro an Wertschöpfung – allein während der Bauphase. Drei Viertel der Wertschöpfung gehen an Klein- und Mittelbetriebe, 55 Prozent sogar an Kleinst- und Kleinunternehmen.
Doch auch für den Rest Österreichs ist das Projekt ein wichtiger Standortfaktor. Die AK-Studie „Mobilitätswende produzieren“ zeigt: Bahnverkehr ist insgesamt ein zentraler Faktor für Österreichs Gesamtwirtschaft. Erstens, weil er hochwertige Arbeitsplätze schafft – allein am Bahnsektor hängen direkt und indirekt rund 28.000 Jobs.
Zweitens, weil die Bahn eine hohe inländische Wertschöpfung bringt. Die Ausbaustrategie Zielnetz 2040 für Österreichs Eisenbahninfrastruktur erzeugt eine Wertschöpfung von 24,4 Milliarden Euro.
Und drittens, weil Investitionen in die Bahn immer auch damit verbundenen Branchen zugutekommen, etwa dem Bausektor oder der Stahlindustrie oder Elektrotechnik.
Infrastrukturprojekte wie die Koralmbahn wirken deshalb nicht nur verkehrspolitisch, sondern auch regionalökonomisch stabilisierend – gerade in wirtschaftlich schwächeren Regionen.
Besonders deutlich formuliert es der Regionalökonom und Joanneum-Research-Experte Eric Kirschner: „Durch die Koralmbahn entsteht ein neuer, international sichtbarer Ballungsraum“, so Kirschner in seiner Analyse. Er spricht von einer großen Chance, „den negativen demographischen Trend in der Region Südösterreich zu brechen“.
Orte wie Wolfsberg oder Deutschlandsberg würden bald einen massiven Aufschwung erleben, weil sie in das Einzugsgebiet von zwei Landeshauptstädten rücken. Der Aufschwung würde aber nicht automatisch passieren. „Die Rahmenbedingungen müssen sehr wohl im Vorfeld entsprechend gestaltet und Synergien genutzt werden.“
Die Obersteiermark droht den Anschluss zu verlieren – und kämpft um neue Verbindungen
Gestaltung braucht aber auch die Obersteiermark. Denn während sich die Achse Graz–Klagenfurt beschleunigt, droht die Obersteiermark ins Abseits zu geraten. So verliert etwa Leoben etwas an Bedeutung als Knotenpunkt im Fernverkehr – Kärnten und Italien sind nur mehr per Umstieg in Graz oder Bruck an der Mur erreichbar. Vom Murtal nach Wien kommt man allgemein nur mehr per Umstieg in Bruck an der Mur.
Um das auszugleichen, kündigt die ÖBB ein neues Fernverkehrsangebot an: Die sogenannten Interregio-Linien verbinden zukünftig Graz-Bruck-Leoben-Klagenfurt, Graz-Leoben-Linz und Graz-Leoben-Innsbruck. Hinzu kommen Taktverdichtungen im Regionalverkehr: Im Murtal fährt die S-Bahn zukünftig im Halbstundentakt.
„Wenn der Semmering-Basistunnel dann eröffnet ist, braucht es aber wieder mehr Direktverbindungen von Villach über die alte Südbahnstrecke nach Wien. Die Aufwertung des Südens darf nicht auf Kosten der Obersteiermark passieren“, sagt Wolfgang Moitzi, SPÖ-Abgeordneter aus der Steiermark und Bereichssprecher für Verkehr und Infrastruktur. Von Seiten der ÖBB steht fest: Die alte Südbahn über den Neumarkter Sattel bleibt auch langfristig erhalten und das Unternehmen bekennt sich dazu, die „bestehende Strecke als wichtige Achse weiterhin auszubauen“.
Auch das Ennstal sieht sich als Verlierer, weil internationale Verbindungen für den Tourismus wegfallen. Somit ist die Obersteiermark ein Prüfstein für das Projekt: Nur mit den richtigen Ausgleichsmaßnahmen kann sie den Anschluss halten. Ob die geplanten Maßnahmen richtig sind und ob es vielleicht noch mehr braucht – das wird die Zukunft zeigen. „Es wird in den Zügen ohnehin Kapazitätsprobleme geben, allein deswegen wird es vier Gleise in den Süden brauchen“, ist sich Moitzi sicher.

Auch der Güterverkehr ist ein entscheidender Gewinner der Koralmbahn-Strecke
Apropos Zukunft: Für den Klimaschutz ist die Koralmbahn entscheidend, denn sie bringt nicht nur Personen, sondern auch Güter auf die Schiene. Im Mobilitätsmasterplan 2030 bekennt sich Österreich zum Güterverkehr auf der Bahn.
Eine Tonne, die auf der Bahn transportiert wird, benötigt im Schnitt weniger als ein Drittel der Energie, die mit einem maximal effizienten E-LKW mit Oberleitung benötigt wird. Hierfür ist die Koralmbahn ein wichtiger Hebel – vor allem für die vielen grenzüberschreitenden Transporte.
Wie aus zwei Bundesländern ein neuer, international sichtbarer Raum entstehen könnte
Was manchmal vergessen wird: Die Koralmbahn ist nicht nur ein österreichisches Projekt. Sie ist Teil der „Baltisch-Adriatischen-Achse“: Die Strecke verbindet Italien schneller mit dem Baltikum. Die EU förderte die Strecke mit knapp 600 Millionen Euro. Die EU-Kommission bezeichnet die Koralmbahn sogar als „eines der wichtigsten europäischen Infrastrukturprojekte“.
Auch militärisch hat das Projekt für Europa eine Bedeutung. Im Ernstfall ermöglicht die neue Strecke den Transport von Truppen und schweren Panzern ins Baltikum. Unabhängig davon: Für Österreichs Wirtschaft öffnen sich Türen zu aufstrebenden Märkten wie Polen. Zudem verbessert sich die Anbindung an die Adriahäfen Triest, Koper und Rijeka.
Das Herzstück der Strecke bildet der Koralmtunnel. Er ist der sechstlängste Eisenbahntunnel der Welt – und manche bezeichnen ihn gar als sichersten der Welt. Rund 15 Prozent der Kosten flossen in dessen Sicherheit. Dazu gehören Notausgänge, Löschwasserleitungen, Belüftungen, Notrufsäulen, Branddetektoren, Zufahrtsmöglichkeiten für Einsatzkräfte und Kommunikationssysteme. Der Tunnel besteht aus zwei Röhren, die im Abstand von rund 40 Metern verlaufen und alle 500 Meter durch Querschläge verbunden sind. Zusätzlich wurde in der Mitte eine dritte Rettungsröhre gebaut. Dort können Fahrgäste auf Einsatzkräfte und Rettungszüge warten, die auf beiden Seiten für den Notfall stehen.
Vom politischen Streitfall zum seltenen Moment nationaler Einigkeit
All dieser Erfolgsmeldungen zum Trotz: Politisch war das Projekt lange umkämpft. Nach der Blockade des Semmering-Basistunnels wurde um die Jahrtausendwende auch die Koralmbahn zum Objekt des politischen Kalküls zwischen Bund und Ländern. Vier Monate nach dem Baustart in Kärnten stoppte der Verwaltungsgerichtshof den Bau wegen einer fehlenden Umweltverträglichkeitsprüfung. Erst als sich die Bundesländer Steiermark und Kärnten 2005 bereit erklärten, jeweils 140 Millionen Euro zu übernehmen, kam richtig Bewegung in das Projekt.
Inzwischen hat sich der politische Wind gedreht: Es herrscht in allen politischen Lagern weitgehend Konsens, dass die Koralmbahn ein wichtiger Fortschritt ist. Trotz Pandemie, Teuerung und geopolitischer Krisen wurde das Projekt pünktlich und im finanziellen Rahmen abgeschlossen.
Die Koralmbahn ist nur der Anfang einer viel größeren Neuordnung des Bahnnetzes
Die Koralmbahn ist allerdings „nur“ der erste große Meilenstein der neuen Südstrecke. 2030 ist die 470 Kilometer lange Strecke endgültig modernisiert. Dazu zählen: der Nordbahnausbau, die Strecke Wien – Mödling, das Güterzentrum Wien Süd, die Pottendorfer Linie und der Semmering Basistunnel. Damit ist die Südstrecke bald wie die Weststrecke Wien – Salzburg eine echte Alternative zum Auto, weil man mit dem Zug deutlich schneller unterwegs ist. 3,5 Millionen Menschen profitieren von der neuen Bahnstrecke in ihrem Einzugsgebiet.
Die Koralmbahn leitet also vor allem eine Entwicklung ein. Sie ist damit mehr als ein Tunnel. Sie ist ein Symbol für fortschrittliche Infrastrukturpolitik, ein Impulsgeber für den Süden und auch ein Stück europäische Zukunft.
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