In unserer Gesellschaft gilt: Entweder du hast Kapital, oder du musst von deiner Arbeit für jemanden anderen leben. Kapital ist der einzige Weg, um wirtschaftlich unabhängig zu sein – also frei davon, für irgendjemanden anderen irgendeine Arbeitsleistung erbringen zu müssen. Diese Freiheit hat nur eine kleine Minderheit, der viel größere Teil der Menschen muss arbeiten.
Gewerkschaften und Arbeiterparteien haben immer dafür gekämpft, dass die Masse der Menschen eine Art Ersatz für das Kapital hat. Die Arbeitslosenversicherung, die Pensionsversicherung oder das öffentliche Gesundheitssystem sollen die Existenz für Menschen ohne Vermögen erleichtern und im Notfall auch absichern. Das alles ist das Kapital der Leute, die kein Kapital haben. Der Wohlfahrtsstaat ist das Vermögen der Besitzlosen.
Wie es dazu gekommen ist, dass die Menschen von ihrer Arbeit für jemanden anderen leben müssen, erkläre ich in „Kowall redet Tacheles, Folge 13“:
Das nachfolgende Transkript des Videos entstammt dem Blog von Nikolaus Kowall:
- „Sozialleistungen ergaunert: Staat um 20 Millionen geprellt“
- „Soko deckte schier unglaublichen Sozialbetrug auf“
- „Aktion scharf gegen Sozialbetrüger“
Haben es Sozialbetrüger zu leicht in Österreich? Wieso soll ich überhaupt zahlen, wenn jemand nicht arbeiten geht? Was geht mich das an, ob wer anderer über die Runden kommt?
Reden wir einmal Tacheles!
Alle sollen sich selbst ernähren können. Woher stammt eigentlich diese Überlegung? Sie kommt aus der Geschichte. Weil früher, vor 1.000 Jahren, war das so. Im Mittelalter waren die Leute Selbstversorger, das heißt alles, was sie verbraucht haben, haben sie auch selbst hergestellt. Fast alle Menschen waren Bauern und haben sich von dem ernährt, was die Erde hergab. Viele Bauern waren nicht die Eigentümer ihres Landes. Sie haben es gegen eine Abgabe vom Grundherrn geliehen. Faszinierend ist nun folgendes: Der Grundherr konnte ein Stück Land zwar verkaufen oder vererben, aber der Bauer blieb darauf. Das Stück Land war an den Bauern gebunden.
Diese Bauern waren also für ihre Existenz selbst verantwortlich, aber ihre Existenzgrundlage, nämlich ein Stück Land, war ihnen zugeteilt. Im Mittelalter konnte man quasi nicht gefeuert werden. Das darf man sich jetzt nicht romantisch vorstellen: Jede Missernte führte zu Hunger, jeder Brand konnten alles Hab und Gut zunichte machen. Dennoch waren die Menschen von der Logik her wirtschaftlich abgesichert. Dafür waren die Bauern politisch unfrei. Die Bindung an das Land bedeutete umgekehrt, dass sie nicht wegziehen durften. Unfreie durften ohne Genehmigung des Grundherrn nicht einmal heiraten. Im Mittelalter herrschte eine politisch-rechtliche Abhängigkeit. Aber dafür gab es prinzipiell keine wirtschaftlich-existentielle Abhängigkeit.
Im Spätmittelalter verändert sich ausgehend von England die Wirtschaftsstruktur. Größere Landeinheiten wurden nun mit mehreren Menschen bearbeitet, wodurch die Bindung an das Land verschwand und die Lohnarbeit entstand. Und mit der Lohnarbeit entwickelte sich die Arbeiterschaft, die Industrialisierung und schließlich die ganze moderne Gesellschaft.
Lohnarbeiterinnen sind an kein Land mehr gebunden und können arbeiten für wen sie möchten. Im Laufe der Zeit bekamen sie einige Bürgerrechte, etwa die freie Berufswahl und das Recht zu heiraten. Karl Marx sagte treffend, die Menschen wurden doppelt frei. Einerseits politisch frei, andererseits aber auch frei von Besitz. Sie verfügten über kein Land mehr, das sie wirtschaftlich erhalten konnte, sie wurden Besitzlose. Und damit haben wir in der modernen Welt genau die umgekehrte Situation wie im Mittelalter: Es gibt zwar eine politisch-rechtliche Unabhängigkeit, aber eine wirtschaftlich-existentielle Abhängigkeit. Und dieser Status als Lohn-Abhängige betrifft heute 88 Prozent der Bevölkerung.
Die meisten Menschen arbeiten heute nicht mehr in der Landwirtschaft, sondern in einer sehr spezialisierten Branche. In der modernen Gesellschaft ist nicht jeder für sich selbst verantwortlich, sondern Bestandteil eines extrem komplizierten Netzwerks. Und in diesem Netzwerk gilt die Regel: Entweder du hast Kapital, oder du musst von deiner Arbeit für jemanden anderen leben. Der überwiegende Teil der Menschen ist also wirtschaftlich unfrei.
Ein Bauer hat heute noch Land. Kann er sich selbst versorgen? Auch nicht! Alle Landmaschinen kommen aus der Industrie und der Rest des Bedarfs kommt aus dem Lagerhaus. Richtige Selbstversorgung gibt es in der modernen Gesellschaft nicht mehr. Aber ein Landwirt kann, wenn er genug Grund hat, mit der Bearbeitung seines Besitzes genug erwirtschaften, um eine Familie zu ernähren. Und ein richtiger Großgrundbesitzer kann von seinem Besitz sogar leben, ohne ihn selbst bearbeiten zu müssen. Das können nicht nur Großgrundbesitzer, sondern auch Leute, die viele Immobilien besitzen, Begünstigte einer Privatstiftung sind oder Finanzinvestoren.
Es gibt also einen einzigen Weg, um im Kapitalismus wirtschaftlich unabhängig zu sein und das ist Kapital. Wenn man genug Vermögen hat, um sein Leben lang davon leben zu können, oder noch besser: um sein Leben lang von den Erträgen des Vermögens leben zu können, dann ist man wirtschaftlich frei. Also frei davon, für irgendjemanden anderen irgendeine Arbeitsleistung erbringen zu müssen.
Diese Freiheit hat nur eine kleine Minderheit in der Gesellschaft. Der viel größere Teil der Menschen muss arbeiten. Leute, die ein Haus oder eine Wohnung erben, haben es ohne Miete oder Kredit zwar deutlich leichter, aber auch sie müssen arbeiten, um sich zu erhalten. Und wer nicht für den Staat arbeitet, der arbeitet in aller Regel für jemanden, der das Kapital hat, um Leute beschäftigen zu können. Das ist das grundsätzliche Ungleichgewicht in einer kapitalistischen Gesellschaft: Die, die von wirtschaftlichen Zwängen tendenziell frei sind beschäftigten die, die wirtschaftlich unfrei sind.
Genau das ist der Grund, weshalb Gewerkschaften und Arbeiterparteien immer dafür gekämpft haben, dass die Masse der Menschen eine Art Ersatz für das Kapital hat. Etwas, das ihre wirtschaftliche Existenz, also ihr Überleben sichert. Und zwar unabhängig davon, ob ihre Arbeitskraft gerade gebraucht wird oder nicht. Unabhängig davon, ob sie gerade arbeitsfähig sind oder nicht. Die Arbeitslosenversicherung, die Notstandshilfe, die Sozialhilfe, die Pensionsversicherung, das öffentliche Gesundheitssystem, das Schulsystem und der gemeinnützige Wohnbau: All das soll die Existenz für Menschen ohne Vermögen erleichtern und im Notfall auch absichern. Das alles ist das Kapital der Leute, die kein Kapital haben. Der Chefökonom der Arbeiterkammer Markus Marterbauer bringt es auf den Punkt: „Der Wohlfahrtsstaat ist das Vermögen der Besitzlosen“.
Und jetzt schauen wir uns einmal die 20 Millionen Euro Sozialbetrug an, über die sich die Kronenzeitung so aufregt. Der Staat hat 2019 sieben Milliarden aus der Arbeitslosenversicherung eingenommen. Aus der Pensionsversicherung 33 Milliarden. Wir sehen also, der Sozialbetrug ist verglichen mit dem Gesamtsystem lächerlich klein. Alleine mit den Inseraten, die die Kronenzeitung von der öffentlichen Hand bekommt, gehen dem Steuerzahler jährlich 25 Millionen verloren, also mehr als durch Sozialbetrug. Und durch Steuerhinterziehung verliert der Steuerzahler 13 Milliarden, also das 650-fache von Sozialbetrug.
Den Sozialbetrug groß aufzublasen, dient dazu, dass die Menschen das Vertrauen in den Wohlfahrtsstaat verlieren. Aber für alle Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen, gilt: Wer den Wohlfahrtsstaat abbaut, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Wieso das so ist, werden wir uns im Detail nächstes Mal ansehen.
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