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Verfassungsexperte Matzka: Die Mehrheit vertraut dem Krisenmanagement nicht mehr

Für wen gilt der Lockdown? Wer entscheidet? Wer ist hier zuständig? Und woran sollen sich die Menschen orientieren? Verfassungsexperte Manfred Matzka stellt vier Fragen, die zeigen, wie die Regierung Kurz Vertrauen in Staat und Verwaltung zerstört und Rechtsstaat und Demokratie beschädigt.

Große Inszenierung. Es ist der 27.12., 9.30, große Impfshow an der MedUni Wien. Kanzler, Gesundheitsminister, Kammerpräsident sind anwesend, während die ersten Impfungen des Landes verabreicht werden. Sonntagsreden werden gehalten. Aber die Alltagsrealität stellt danach ganz andere Fragen:

Für wen gilt der Lockdown?

Erstens: Warum eigentlich dürfen die drei überhaupt dabei sein? Seit 26.12. gilt doch die strenge Lockdown-Verordnung. Welche Ausnahme vom Ausgangsverbot liegt hier vor: Abwendung einer Gefahr? Die drei können keine Gefahr beim Probeimpfen abwehren. Hilfeleistung? Das kann die Ärztin gut allein. Deckung des Lebensbedarfs? Sie haben doch hoffentlich kein Serum mitgenommen. Berufliche Zwecke? Sie Ausnahme gilt nur, wenn der Ausgang wirklich erforderlich ist – das medizinische Personal kann sicher auch ohne die Politiker impfen. Aufenthalt zur psychischen Erholung? Kurz und Co brauchen das wohl für ihre Psyche, aber die Ausnahme gilt nur im Freien. Und es war auch keine dringende politische oder berufliche Zusammenkunft, die sie nicht auch digital absolvieren hätten können.

Fazit: Es handelt sich ganz offensichtlich – in der Terminologie Nehammers – um eine illegale Corona-Party, weil eine größere Zahl von Personen verbotenerweise ausging, um sich in einem geschlossenen Raum zu Egopflege und Lustgewinn zu treffen. Die Party wurde nicht aufgelöst, Anzeigen erfolgten nicht. Wen wundert es da, wenn auch die Bevölkerung die Vorschriften nicht ernst nimmt. Wenn die drei, einfach weils ihnen Freude macht, rausgehen und mit anderen zusammenkommen dürfen, dann darf das wohl jeder andere auch.

Wer ist hier zuständig?

Zweitens: Ist der mediale Impfstart auch für die Realität der Gesundheitsverwaltung relevant? Noch am Abend dieses Tages liest man im Kapitel „Impfung“ auf der Homepage des Ministeriums staunend: „Momentan steht in Österreich noch kein COVID-19 Impfstoff zur Verfügung.“ Man wird weiters informiert, dass ein Impfplan vom Nationalen Impfgremium erarbeitet werden wird. Wann das sein wird, steht am 27.12. noch nicht fest. Es gibt ihn bis heute nicht. Das kann auch nicht so schnell gehen, denn laut Homepage trifft sich das Gremium „drei bis fünfmal jährlich“. Zwar wäre für Transparenz gesorgt, weil man „Ergebnisprotokolle der Sitzungen des Impfgremiums offenlegen“ wird. „Die Protokolle können, sobald sie zur Verfügung stehen, hier abgerufen werden“. Bislang stehen keine zur Verfügung.

Na, dann dürfte es aber Zeit werden, mal eine Sitzung zu halten, einen konkreten Plan zu machen und vorzulegen.
Was haben eigentlich Gesundheitsminister Anschober und die dem Kanzler politisch nahestehende neue „Chief Medical Officer“ seit Dezember getan? In dieser Sache jedenfalls anscheinend nichts, was für die Realität sinnvoll wäre. Sie hält seit ihrer Bestellung nur an einem Zeitplan fest, der von der Wirklichkeit überholt ist, und bestaunt gebannt die logistischen Herausforderungen des Alltags.

Verordnungschaos ohne Plan B

Warum sind drittens Reich und Anschober in den Folgetagen der Erstimpfungen nur in Sachen politische Trickkiste hyperaktiv?

Es muss einem erst einmal einfallen, einen Gesetzentwurf am Freitag vor einem Feiertag spätabends zur Begutachtung auszusenden und die Frist mit dem folgenden Sonntag zu begrenzen. Dafür gibt es kein Sachargument mehr, das ist wirklich nur blanke, absichtliche, lächelnde Provokation. Obendrein ist der Inhalt verfassungswidrig, unlogisch, und keine Zahlenbasis kann vorzeitiges Öffnen nach radikalem Sperren erklären.

Zudem verkündet der Kanzler noch öffentlich Details, die gar nicht im Gesetz stehen. Bei den Betroffenen, nämlich allen Menschen in Österreich, bleibt der Eindruck: Es ist eh egal, ob man einen Lockdown ausruft oder nicht.

Dementsprechend ist dann auch die Reaktion: Endlich gibt’s es eine Chance, Unsinn nicht zu erdulden, sondern zu verhindern. Unzählige nehmen aus dem Home Office Stellung. Die Website des Parlaments bricht zusammen. – Waren wir nicht einst E-Government-Europameister? Da hat diese Regierung aber seither viel Boden verloren. – Nicht nur die Zivilgesellschaft, auch die Opposition nimmt ihre verfassungsmäßigen Rechte wahr – was die Regierung vorab einkalkulieren müssen hätte, aber mit der Verfassung hat sie es nicht so. Das Gesetz scheitert diesmal nicht erst vor dem VfGH, sondern schon vor der Entstehung. Der Kanzler und sein Minister haben keinen Plan B.

Verantwortung abschieben und hinterher alles besser wissen

Viertens: Warum duckt die Regierung weg und schickt ihre politisch ausgewählte und daher fachlich überforderte Spitzenbeamtin unvorbereitet in die Medien, als der Öffentlichkeit klar wird, dass der Impfstart vermurkst wurde? Ihr verstörendes ZIB-Interview am 5. Jänner lässt erkennen, wie wenig man sich in der Zentrale um Menschen schert. Der gültige Plan stammt vom 21.12.2020, an dem hält sie auf Befehl von ganz oben stur fest. Später wird inmitten der aufbrandenden Kritik publik, dass schon vor ihrem Auftritt der Plan geändert wurde, um das Impfdosen-Bunkern doch noch zu beenden.

Regierung untergräbt Glauben in Rechtsstaat

Was diese vier Fragen verbindet? Sie betreffen die Fortsetzungsgeschichte, wie man Vertrauen in Staat und Verwaltung zerstört und Rechtsstaat und Demokratie beschädigt. Das sind sehr sensible Konstruktionen.

Eine Regierung muss wissen, dass das Recht nicht deshalb lebt, weil ein Text angeordnet wird, sondern weil der Inhalt von der großen Mehrheit freiwillig und überzeugt befolgt wird.

Mit Ereignissen wie den vier dargestellten wird diese Bereitschaft nachhaltig untergraben. Das hat sich schon bei den ersten verpfuschten Verordnungen und Akten der Hybris der Regierungsspitze (wie etwa Kritik von Verfassungsexperten „juristische Spitzfindigkeiten“ zu nennen) angekündigt. Da die Regierung Kurz daraus keine Lehren gezogen hat, haben sich das Misstrauen und die Nichtakzeptanz verbreitert und verfestigt.

Die Mehrheit vertraut dem Krisenmanagement nicht mehr. Es ist offenbar endgültig vorbei. Der nächste Lockdown mag verordnet werden oder nicht – es wird so irrelevant sein wie das Besuchsverbot zu Silvester oder der Impfplan.

Man wird sich allseits nicht mehr an unverständliche Anordnungen halten und daher werden diese nicht mehr kontrollierbar und durchsetzbar sein. Wo man dennoch Polizeimaßnahmen setzt, werden diese weithin von den Gerichten angesichts der patscherten Rechtssprechung behoben werden. Nach der Parlamentshomepage bricht dann der Vollzug des Rechts unter der großen Zahl von „Denial“-Fällen zusammen.

Das ist die Folge, wenn Vermarktung die überlegte reale Politik ersetzt und der Spin die Fokussierung auf die wirklichen Probleme. Wenn Verantwortung nicht übernommen wird, sondern man ihr ausweicht, wenn nicht die ganze Kraft und alles Können, die man kriegen kann, dem Wohl des Landes gewidmet wird, sondern die schwache Kraft und das begrenzte eigene Können der Regierung bloß der Medienperformance und den Schlagzeilen.

 

Dr. Manfred Matzka war ab 1999 bis 2016 Präsidialchef des Bundeskanzleramtes und zuletzt persönlicher Berater der Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein. Der promovierte Jurist war seit 1980 im Bundesdienst und für Personal, Recht, e-Government, Verwaltungsreformprojekte und die Koordinierung des Bundeskanzleramts ebenso zuständig wie für ressortübergreifende Organisation. Derzeit ist Matzka Aufsichtsratsvorsitzender der Bundestheater-Holding und Vizepräsident von Austrian Standards. Für Kontrast kommentiert er das innenpolitische Geschehen.

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 59%, 1451 Stimme
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    1451 Stimme - 59% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 15%, 369 Stimmen
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    369 Stimmen - 15% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 12%, 304 Stimmen
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    304 Stimmen - 12% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 210 Stimmen
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    210 Stimmen - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 4%, 107 Stimmen
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    107 Stimmen - 4% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 2441
12. März 2024
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