Die Situation für unbegleitete Flüchtlingskinder in Österreich ist besonders prekär. Jedes Jahr verschwinden hunderte Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern nach Österreich gekommen sind, spurlos. Mehr als jedes zweite unbegleitete Flüchtlingskind verschwindet aus den Unterkünften. Die Behörden schauen machtlos zu.
Gerade erst zeigte eine Anfragebeantwortung des Innenministeriums, dass weitaus weniger Kinder im vergangenen Jahr in Österreich aufgenommen wurden als von ÖVP-Ministerien behauptet. Was die Asylkoordination schon lange befürchtet, scheint sich nun bewahrheitet zu haben: Mehr als die Hälfte der Flüchtlingskinder, die ohne erwachsene Begleitung in Österreich einen Asylantrag gestellt haben, verschwindet spurlos, bevor sie noch zum Verfahren zugelassen werden. Von den 1.467 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF), die 2020 einen Asylantrag gestellt haben, sind nur 432 zum Asylverfahren zugelassen worden. 265 wurden für volljährig erklärt, zwei in andere EU-Länder überstellt.
764 unbegleitete Flüchtlingskinder sind nicht mehr auffindbar.
Laut Asylkoordination verschwinden besonders viele, wenn die Überstellung aus dem Erstaufnahmelager Traiskirchen in westlichere Bundesländer ansteht. Dass das an der Attraktivität der Bundeshauptstadt liegt, bezweifelt Herbert Langthaler, Sprecher der Asylkoordination im Gespräch mit Kontrast.
Ein Erstaufnahmezentrum ist kein Ort für Kinder
Die Suche nach Angehörigen oder die Angst vor einem negativen Asylbescheid könnten Gründe für das Verschwinden sein. Aber auch Menschenhandel und Zwangsarbeit kann man nicht ausschließen, sagt Lisa Wolfsegger, Expertin für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge von der Asylkoordination. Expertinnen und Experten befürchten, dass die Kinder aufgrund der mangelnden Betreuung in die Kriminalität abrutschen und untertauchen.
Eine ehemalige Streetworkerin aus Niederösterreich erzählt gegenüber Kontrast, wie sie durch ihre Arbeit auf den Spielplätzen und in Parks auf Jugendliche trifft, die mit ihren Problemen allein gelassen werden. Ein junger Mann hatte solche Zahnschmerzen, dass sie ihn kurzerhand ins Taxi setzte und mit ihm in die Zahnambulanz in Wien fuhr, um ihn behandeln zu lassen.
Für Probleme Einzelner, vor allem der Jüngeren, gibt es in einem Erstaufnahmezentrum keine Ressourcen. Auch wenn die Betreuerinnen und Betreuer vor Ort ihr Möglichstes versuchen.
„Erstaufnahmezentren des Bundes sind keine Orte für Kinder“, weiß der NGO-Sprecher Langthaler. Endlose Tage ohne Struktur und Betreuung, ohne Möglichkeiten einer alters- und kindgerechten Beschäftigung. Das ist der Alltag für Flüchtlingskinder in den Zentren wie Traiskirchen und der Außenstelle in Reichenau an der Rax. In den isolierten Massenquartieren gebe es weder Platz zum Lernen noch Privatsphäre.
Jugendliche und Kinder, die ohne Eltern oder Verwandte nach Österreich kommen, vermissen erwachsene Bezugspersonen und fühlen, dass sie in Österreich nicht erwünscht sind, so die NGO.
“Innenministerium will Flüchtlingskinder vertreiben”
Eigentlich sollten unbegleitete Flüchtlingskinder nur einige Tage in den Erstaufnahmezentren bleiben und dann in spezialisierte Betreuungseinrichtungen der Länder ziehen. Stattdessen bleiben sie monatelang in Bundesverwahrung, wo nicht ausreichend für sie gesorgt werden kann.
“Es ist nicht nachvollziehbar, warum unbegleitete Flüchtlingskinder monatelang in der Bundesbetreuung ausharren müssen”, kritisiert Lisa Wolfsegger. 2020 waren demnach etwa 240 unbegleitete Kinder und Jugendliche in Traiskirchen und Reichenau/Rax, das entspricht 30 Prozent aller UMF. 2017, einem besonders asylantragsstarkem Jahr, waren es hingegen nur zwei Prozent (91). “Von den Bundesländern hören wir, dass so gut wie alle bereit wären, sofort UMF aus Traiskirchen und Reichenau aufzunehmen”, erläutert die Expertin in einer Aussendung vergangenen November. “Das Innenministerium will die Flüchtlingskinder offenbar aus Österreich vertreiben”, schlussfolgert sie.
Vor Asylverfahren keine Obsorge
Das Problem neben der mangelnden Versorgung der Kinder ist auch der rechtliche Rahmen, erklärt Asylexperte Herbert Langthaler. Solange das Asylverfahren der Minderjährigen nicht gestartet ist, hat der Staat keine Obsorge. Diese Phase zwischen Asylantrag und Zulassung zum Verfahren dauert zu lange. Bei Jugendlichen kommt erschwerend die Obsorge-Frage hinzu.
„Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass ein Teil als volljährig erklärt wird und etliche in andere EU-Staaten gebracht werden, weil sie dort Familie haben oder schon ein abgeschlossenes Asylverfahren durchlaufen haben, bleiben hunderte Kinder, über deren Verbleib nichts bekannt ist“, rechnet die Asylkoordination vor. Dass die Bundesregierung hier nicht tätig wird, kann Langthaler nicht verstehen. Schließlich ist es trotz allem ihre Verantwortung, für das Wohl der Kinder zu sorgen.