Unter dem Hashtag #unten erzählen Userinnen und User auf Twitter, wie es ist, in Armut oder Familien mit wenig Geld aufzuwachsen. Und wie es sich anfühlt, ausgegrenzt bis verspottet zu werden. Armut ist ein gesellschaftliches Problem – doch es wird den einzelnen Betroffenen übergewälzt. Veronika Bohrn-Mena hat Geschichten gesammelt und beschreibt, was Armut in Österreich mit Menschen anrichtet.
Im November 2018 wurde auf Twitter ein neuer Hashtag geboren: #unten. Darunter sammeln sich abertausende Tweets, in denen Menschen von ihren Erfahrungen und ihrem Leben in Armut berichten. Sie schildern unzählige kleine Momente und Erinnerungen. Sie machen spürbar, wie prägend Armut und unser gesellschaftlicher Umgang damit sind. Armut macht etwas mit Menschen. Einmal erlebt wird sie zum ewigen Begleiter. Die Ausgrenzung und Herabwürdigung, der Spott und die Vorwürfe mit denen arme Menschen konfrontiert werden, wälzt die Verantwortung für ihre Not auf die Betroffenen ab. Zu Unrecht macht man aus einem gesellschaftlichen Problem ein individuelles. Politische AkteurInnen befeuern dieses grausame Spiel mitunter noch weiter, wenn sie von vermeintlichen „Durchschummlern“ und „Sozialschmarotzern“ reden.
#unten – Wer ist von Armut in Österreich betroffen?
Arm, das sind in Österreich ganze 14,4 Prozent der Bevölkerung. Das sind 1,25 Millionen Menschen.
Armut ist bei Weitem nichts, das nur arbeitslose Menschen betrifft. Es ist eine Ursache von vielen. Und sie kann jede und jeden treffen. Laut Berechnungen des WIFO waren zwischen dem Jahr 2000 und 2010 rund 40 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal arbeitslos.
Während Armut uns allen zum Verhängnis werden kann, wird sie zunehmend weniger sichtbar. Die Erzählungen durch #unten durchbrechen diese Unsichtbarkeit nun etwas. Und sie zeigen: Armut ist sehr selten selbstverschuldet. Sie ist vielmehr eine Konsequenz der zunehmenden ungleichen Chancen, die manchen offenstehen und anderen vorenthalten bleiben. Das beginnt bei der Bildung und endet erst bei der Lebenserwartung.
80 Prozent der Kinder, deren Eltern ein hohes Einkommen haben, besuchen eine AHS. Aber nur 19 Prozent der Kinder aus armutsgefährdeten Familien. Die Lebenserwartung von AkademikerInnen ist um sieben Jahre höher als jene von PflichtschulabsolventInnen.
Die im Zeitverlauf größer geworden Einkommensunterschiede tun ihre Übriges. Höhere Einkommen haben seit dem Jahr 2000 kontinuierlich zugelegt. Mittlere Einkommen stagnieren. Wer kleine Einkommen hat, musste sogar Reallohnverluste hinnehmen. Erschwerend hinzu kommt, dass prekäre Arbeit Menschen neben ihrer Perspektive und Würde, auch einen beträchtlichen Teil ihres Lohnes raubt. #unten zeigt, wie oft sie sogar mit Missachtung und Hohn für ihre knochenharten Jobs bestraft werden.
Gerechtigkeit – nichts als eine Farce?
In den Medien wird diese Ungerechtigkeit nur selten behandelt und selten so klar benannt. Die Regierung propagiert indes eine „neue Gerechtigkeit“, wonach sich „Leistung wieder lohnen“ soll. “Gerecht” sind diese Konzepte jedoch nicht.
Eine Studie hat in 40 Ländern danach gefragt, welche Einkommen Menschen für bestimmte Berufe als gerecht empfinden. Das interessante Ergebnis: Über sämtliche Länder, über alle Alters-, Bildungs- und Einkommensgruppen sowie über die politischen Einstellungen der Menschen hinweg waren die Befragten der Meinung, dass ein CEO maximal 4,6 Mal so viel verdienen sollte wie ein ungelernter Arbeiter. Da den Menschen in Österreich aber die Ungerechtigkeit in der Entlohnung bis zu einem gewissen Grad bewusst ist, schätzten sie, dass ein CEO 12 Mal so viel verdient wir ein Arbeiter. Tatsächlich ist das Ausmaß der Ungerechtigkeit höher:
Ein CEO verdient in Österreich bis zu 39 Mal so viel wie ein Arbeiter.
Diese steigende Einkommensungleichheit führt nicht nur bei den prekär Arbeitenden im Niedriglohnsektor zu starker Unsicherheit. Obendrein verstärkt sich das Abschottungsbedürfnis von denjenigen, die auf den Erhalt ihrer eigenen Vorteile aus sind. Folglich versuchen diese, den Zugang und die Verteilung von Macht, Geld und Bildung auf sich selbst zu beschränken. Das verfestigt nicht nur weiter die unfaire Verteilung von Lebenschancen, sondern verstärkt die Polarisierung und Spaltung innerhalb der Gesellschaft.
Mehr als die Hälfte der Arbeiter hält Österreich für ein ungerechtes Land
Nicht erfüllte Aufstiegshoffnungen, Abstiegserfahrungen oder Abstiegsängste lassen Menschen an einer gerechten Gesellschaft zweifeln. Werden Erwartungen nicht erfüllt, sinkt auch das Vertrauen in die Politik und den Sozialstaat. Das erklärt, warum 55 Prozent der ArbeiterInnen, 42 Prozent der Selbständigen ohne Matura und 38 Prozent der Angestellten ohne Matura denken, dass Österreich ein eher ungerechtes Land ist.
Diese Entwicklung ist den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften bewusst. Viele wollen dagegen ankämpfen. Erstmals seit 2001 liegt jetzt bei den Metall-ArbeiterInnen wieder ein Flächenstreik in der Luft. Den Beschäftigten reicht es – und sie fordern zurecht eine ordentliche Lohnerhöhung. Doch an dem Tag, an dem nach so langer Zeit der erste Arbeitskampf in dieser Größenordnung verkündet wurde, hat es nur eine einzige Tageszeitung für notwendig empfunden das auf ihrem Cover zu verkünden. Gerade auch deswegen ist #unten so wichtig und ein Aufschrei der uns allen zeigen sollte, dass es spätestens jetzt höchste Zeit ist – organisieren wir uns!