Als der Religionshistoriker Gershom Scholem, Inhaber des Lehrstuhl zur Erforschung jüdischer Mystik an der Universität Jerusalem 1965 hörte, dass im Weizmann-Institut für Wissenschaften im israelischen Rehovot ein hochkomplexer neuer Großrechner in Betrieb genommen werden sollte, schlug er vor, diesen “Golem I” zu nennen. Scholem, 1897 in Berlin geboren, gilt als Wiederentdecker der Kabbala, jener mystischen, meist mündlich weitergegebenen jüdischen Geheimlehre. Mit der Geschichte vom Golem, des ersten Roboters der Neuzeit, den der legendäre Prager Rabbi Löw zur Abwehr antisemitischer Zeitgenossen aus einem Klumpen Ton geformt haben soll, war Scholem aus Mitteleuropa vertraut.
ALLES FING IN PRAG AN…
Um vier Uhr morgens (nach jüdischem Kalender des 20. Adar 5340, nach christlichem des 17. März 1580) verließen, so die Legende, drei Prager, Rabbi Löw, sein Schwiegersohn und ein Schüler die hunderttürmige Stadt. Ihr Ziel: Eine Lehmgrube an der Moldau.
Im Nebel des Morgengrauens formten sie mit ihren Fingern (lat. digites) aus dem feuchtem Flusslehm eine drei Ellen hohe menschliche Figur. Einen digitalen Menschen also. Ganz, wie es in den Schriften stand, befahl Rabbi Löw seinem Schwiegersohn, siebenmal um den Lehm-Cyborg herumzugehen und dabei eine bestimmte Formel (tzirufim) aufzusagen. Die Tonfigur begann zu glühen. Nun umschritt Rabbi Löws Schüler die Figur siebenmal: Der Golem (hebräisch für “dumm”, ”ungeformt”) wurde feucht und dampfte, es wuchsen ihm Haare und Fingernägel. Als letzter schritt der Rabbi selbst siebenmal um den Golem herum. Gemeinsam stellten sich die drei Beteiligten zu Füßen des Golem auf und sprachen den Satz aus der Schöpfungsgeschichte: “Und Gott blies ihm den lebendigen Atem in die Nase, und der Mensch erwachte zum Leben.” Da öffneten sich die Augen des Golem.
Rabbi Löw befahl dem nackten Lehmroboter, sich aufzurichten. Die drei Männer zogen ihm das mitgebrachte Gewand eines Schammes (eines Synagogendieners) an. Rabbi Löw gab dem Golem den Namen Joseph nach dem talmudischen Joseph Scheda, der halb Mensch gewesen sei und dem Rabbi in vielen Bedrängnissen beigestanden haben soll.
DER ERSTE KÜNSTLICHE ARBEITER
In der Stube des Rabbi saß der Golem stets leblos in der Ecke. In Betrieb genommen wurde er erst durch Rituale aus dem „Sefer Jezirah“, dem Buch der Formung, des ältesten schriftlich überlieferten Werks der Kabbala. Um den Golem einzuschalten, musste ihm Rabbi Löw einen Zettel mit dem „Schem“, dem Namen Gottes, unter die Zunge legen. Heute würden wir wohl “Application” zu diesem Zettel sagen.
Die Aufgabe des Golem war es, in den Nächten vor dem Pessachfest durch die Stadt zu streifen und jeden aufzuhalten, der eine Last mit sich trug, um zu kontrollieren, ob es ein totes Kind sei. Es sollte niemandem mehr möglich sein, Kinderleichen zur Verleumdung der Prager Judenschaft in die Judengasse zu werfen.
DIENSTLEISTUNG NACH ANSAGE
Sonst machte sich der Golem als Schammes, also als Diener nützlich, er fegte die Synagoge und läutete die Glocken. Der Zettel unter der Zunge musste an jedem Sabbat entfernt werden.
Das unrühmliche Ende fand der Golem, als der Rabbi eines Tages vergessen hatte, dem Golem das Computerprogramm unter der Zunge wegzunehmen. Der Tondiener drehte durch, und konnte nur durch Termination gestoppt werden. Der Rabbi musste sein Geschöpf in Scherben schlagen.
Unschwer sind der Legende vom Golem, die von Paul Wegener eindrucksvoll auf Stummfilm gebannt wurde, eine ganze Reihe animierter digitaler und halbdigitaler Diener entsprungen. Das Monster von Frankenstein, der Zauberlehrling und die Maschinenwesen aus Metropolis ebenso wie die von Arnold Schwarzenegger dargestellten Terminatoren.
DENKENDE ROBOTER
Die galoppierenden Fortschritte auf dem Gebiet der Robotik und der künstlichen Intelligenz sind atemberaubend. Dass autonome Systeme in den Fabrikhallen stehen und fertigen ist weitgehend bekannt, dass mechatronische Zweifüßer (zum Gaudium der Sensationspresse und der youTubenden Öffentlichkeit) radfahren können, Fußball spielen und Saltos schlagen, dass kopflose Metallhunde durch den Wald laufen, Lasten und Waffen tragen, und auf Bananenschalen ausrutschen, ebenfalls. Dass diese Entwicklungen nur in einem diffus kommunizierten Vorhaben münden, schon weniger: Den Menschen, die Arbeiterin, den Arbeiter, die Dienstleisterin, den Dienstleister, die Angestellte, den Angestellten ins Prekariat, in die Arbeitslosigkeit, in die Not zu schicken.
Zeit, darüber nachzudenken, wer die Golems kontrolliert. Wer sie kontrollieren soll. Wir erinnern uns. Es sind Zettel, also Programme, die die Golems aus Metall, Kunststoff und Schaltungen befehligen, beauftragen. Wer diese Zettel hat, hat die Macht. Die alte Formel: „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“ stimmt längst nicht mehr.
Wer die Maschinen kontrollieren soll … vielleicht die, die sie gebaut haben? Also die Arbeitenden?