Seit dem Schuljahr 2018/19 werden Kinder mit Aufholbedarf in Deutsch getrennt unterrichtet. Das stand schon bisher in Kritik von Wissenschaft und Praxis: Barrieren und Bildungsrückstände werden so weiter verstärkt – anstatt abgebaut. Jetzt hat die Regierung angekündigt, dieses Modell zu überarbeiten. Wir haben mit Bildungsexpertin Beatrice Müller über die aktuelle Situation an Österreichs Volksschulen gesprochen. Sie unterrichtet künftige Lehrer:innen unter anderem in den Bereichen sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule Wien sowie an der Universität Wien.
„Zu schlecht deutsch“: Wir schieben die Verantwortung auf 5-jährige Kinder
Kontrast: Fast die Hälfte der Erstklässler:innen in Wien können laut dem damaligen Bildungsstadtrat Christoph Wiederkehr (NEOS) zu schlecht Deutsch, um dem Unterricht zu folgen. Was läuft hier falsch?
Beatrice Müller: Ich würde an der Stelle zu einem Perspektivenwechsel einladen. Denn diese Aussage zeigt vor allem, dass sich die Kinder an die Schule anpassen sollen – und nicht umgekehrt. Deutsch wird hier als Ausrede verwendet, um zu sagen, Kinder könnten am Unterricht nicht teilnehmen. Dabei ist Schule ja der initiale Bildungsort, also der Ort, wo wir zehn, zwölf Jahre in einer sensiblen Phase verbringen und auch zu dem werden, was wir dann als erwachsene Person sind. Wenn wir sagen, dass Kinder daran nicht teilnehmen können, sehen wir schon, dass daran etwas falsch läuft.
Wir schieben die Verantwortung auf Fünf- bis Sechsjährige, anstatt selbst die Schule für die Kinder passender zu machen. Das ist sie tatsächlich nicht. Das ist das eigentliche Problem.
Das andere ist, dass wir überhaupt nicht wissen, wie viel Deutsch die Kinder können müssen, um dem Unterricht zu folgen. Dazu gibt es keine wissenschaftliche Grundlage. Das ist eine reine Augenwischerei, dass wir behaupten, dass wir so nicht unterrichten können. Außerdem misst dieser Einstufungstest, dem diese Aussage zugrunde liegt, wie Sprache produziert wird – und eben nicht, wie Sprache verstanden wird. Doch genau das behauptet der Test.
Deutschförderklassen erklärt
Am Ende eines Semesters wird erneut mit dem MIKA-D-Test entschieden, ob das Kind zurück in den Regelunterricht kommt. Bis zu zwei Jahren kann das Kind so in der Sonderklasse bleiben und muss anschließend die verpassten Schuljahre nachholen. An dem Test und dem Modell der Deutschförderklassen gibt es seit Jahren massive Kritik – von Lehrkräften, Kindern und Wissenschafter:innen. Die Regierung plant deshalb eine Überarbeitung der Testung sowie eine Lockerung des Gesetzes hin zu mehr Schulautonomie. Wie die SPÖ jahrelang gefordert hat, kommt damit das Ende der verpflichtenden Deutschförderklassen – und stattdessen mehr Mittel für Deutschförderung sowie mit dem “Chancenbonus” eine gerechtere Verteilung für Schulen mit besonders hohen Herausforderungen.

Der Einstufungstest prüft nicht verlässlich, wie gut ein Kind deutsch spricht
Kontrast: Wie läuft dieser Test zur Einstufung, ob ein Kind in eine getrennte Deutschförderklasse kommt, ab?
Beatrice Müller: Beim Schuleintritt machen Kinder den sogenannten Mika-D-Test. So ein standardisierter Test klingt erstmal ganz gut, auch weil man damit nicht mehr so stark von der Willkür einzelner Personen abhängig ist. Das bedeutet aber auch, dass die Lehrpersonen nicht auf das eingehen dürfen, was die Kinder sagen. Fünf- oder Sechsjährige sitzen dabei alleine in einem fremden Raum mit unbekannten Personen – natürlich sind sie eingeschüchtert. Die Ergebnisse sagen also wenig über ihre tatsächlichen Sprachfähigkeiten aus, weil dieser konkrete Moment unter diesen Umständen nicht sehr günstig ist, Sprache zu produzieren.
Wer „unzureichend“ abschneidet, kommt in eine Deutschförderklasse, bei „mangelhaft“ in einen Deutschförderkurs. Schon diese Begriffe zeigen, wie über die Kinder gedacht wird. Ab acht betroffenen Schüler:innen ist eine eigene Deutschklasse verpflichtend, wofür die Schulen zusätzliche Ressourcen bekommen. Der Test wird wegen Kritik derzeit überarbeitet und soll bis 2027 neu gestaltet werden.
Deutschförderklassen: Kinder verlieren bis zu zwei Schuljahre
Kontrast: Welche Kinder kommen dann in diese Deutschförderklassen?
Beatrice Müller: Die Deutschförderklassen sind perfide. Weil sie so tun, als ob sie die Kinder in den Vordergrund stellen, obwohl sie das wirklich gar nicht tun. In eine Deutschförderklasse kommen Kinder mit völlig unterschiedlichen Hintergründen und verschiedenen Alters. Da sind Wiener Kinder, die hier geboren wurden, aber den Test nicht bestanden haben; ukrainische Kinder, die parallel online in ihrer Heimatschule lernen; geflüchtete Kinder, die traumatisiert sind und nie zuvor in einer Schule waren; oder Kinder von zugezogenen Akademiker:innen. Diese Mischung macht es für Lehrkräfte enorm herausfordernd, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.
Kontrast: Welche Folgen hat das für Kinder?
Beatrice Müller: Kinder können bis zu zwei Jahre in diesem „außerordentlichen“ Status und dieser Extra-Klasse bleiben und dadurch nicht aufsteigen. Wenn sie dann in die Regelklasse wechseln, haben sie bis zu zwei Jahre verloren und sind dadurch viel älter. Das führt dann wieder zu Problemen, dabei hat das System das so vorgesehen.
Sprachlich bringt die Förderung zu wenig: Alltagsdeutsch lernt man in etwa ein bis zwei Jahren, Bildungssprache dauert fünf bis sieben. Trotzdem endet die Förderung nach zwei Jahren. Sprache lernt man außerdem im Austausch – durch echtes Sprechen mit anderen Kindern. Im System der Deutschförderklassen dominiert jedoch oft eine „teaching to the test“-Situation: Weil der MIKA-D-Test bestimmte sprachliche Formen abprüft, orientiert sich der Unterricht zwangsläufig daran. Lehrkräfte tun ihr Bestes innerhalb dieser Vorgaben, aber das System zwingt sie zu einer Grammatikorientierung, die nachweislich nicht dem natürlichen Spracherwerb entspricht. Damit widersprechen die Deutschförderklassen genau dem, was die Forschung empfiehlt.
Mehrsprachige Kinder leisten enorm viel – aber oft ungesehen
Kontrast: Manche sagen, dass durch dieses Modell die Eltern mehr dahinter sind, dass Zuhause Deutsch gesprochen wird – sehen Sie das nicht als positive Entwicklung?
Beatrice Müller: Die Deutschförderklassen wollten genau das. Sie wollten, dass die Eltern mehr Deutsch sprechen. Das ist zweischneidig, weil zwar die Kinder besser werden, wenn sie mehr Deutsch sprechen. Aber es bringt auch Probleme, weil der Druck auf die Kinder und Jugendlichen enorm steigt. Wenn sie ständig hören, dass die Sprache, die sie mitbringen, die ihre Eltern sprechen, in der sie ihre Gefühle ausdrücken können, wertlos und hinderlich ist, ist das sehr belastend und kann zu psychische Krankheiten führen.
Es kann auch nicht gut für eine Gesellschaft sein, wenn wir Personen immer wieder sagen, dass sie ausschließlich Deutsch sprechen müssen, weil das die einzige relevante Sprache im Schulsystem ist. Das verneint unsere mehrsprachige Realität. Mehrsprachigkeit ist der Normalfall. Ja, in Österreich sprechen wir vor allem Deutsch, aber Österreich ist Teil einer globalisierten Welt und da ist Mehrsprachigkeit so viel wesentlicher.
Eigentlich ist es enorm, was diese Kinder schaffen. Vielleicht sprechen sie noch nicht ausreichend Deutsch, aber sie sprechen zwei oder drei andere Sprachen. Wir wissen, dass diese mehrsprachigen Personen insgesamt ein viel größeres sprachliches Repertoire haben. Aber es wird komplett ignoriert. Ich finde es so ärgerlich, weil das ja etwas ist, was wir eigentlich brauchen. Die Schule erzieht ihnen das sogar ab – das passt doch von vorn bis hinten nicht zusammen. Auch die Lehrer:innen sind unzufrieden. Niemand ist zufrieden – weder die Kinder noch die Lehrkräfte.
Deutschförderung braucht Ressourcen und mehrsprachige Lernprozesse
Kontrast: Was bräuchte es?
Beatrice Müller: Viele Lehrerinnen arbeiten schon lange mit Konzepten, die über die Deutschförderklassen hinausgehen. Entscheidend ist, dass genug Ressourcen da sind – also mehr als eine Lehrkraft pro Klasse. Kinder sollten in der Regelklasse bleiben, aber dort individuell unterstützt werden.
Keine Frage, ich brauche auch zusätzliche Förderung, besonders am Anfang, wenn kaum Deutschkenntnisse vorhanden sind. Aber das soll immer ganz nah an der Regelklasse angebunden sein.
Lehrkräfte können nicht alle Sprachen der Kinder sprechen. Deshalb müssen wir Verantwortung an die Kinder selbst geben – sie sollen lernen, eigenständig zu arbeiten. Ihre Sprachen sollen Teil des Lernprozesses sein. Denkprozesse dürfen in jeder Sprache stattfinden (sogenannte translanguaging-Prozesse), geprüft wird dann gemeinsam – auf Deutsch.
Das ist ein Entwicklungsprozess und den können wir nicht von einem Tag auf den anderen umstellen. Das Ziel ist, dass Kinder in allen Sprachen lernen können und eine gemeinsame Sprache zum Kommunizieren haben – die nicht immer dieselbe sein muss. Mehrsprachige Kinder haben meist ein starkes Sprachbewusstsein, das auch anderen zugutekommt. Wenn wir uns darauf einlassen würden, würden wir die Kinder auch viel mehr auf die Zukunft vorbereiten, weil sie selbstverantwortlicher werden. Kinder wollen ja lernen – nur die Schule erzieht sie so, dass sie immer weniger Lust haben. Wenn wir da mehr Eigenständigkeit zulassen würden, dann hätten wir auch zufriedenere Lehrer:innen. Weil sie nämlich sehen, wie die Kinder lernen, sich entwickeln und wachsen.
Wichtig sind positive Erfahrungen mit dem Deutschlernen
Kontrast: Wie kann man sich diesen Unterricht konkret vorstellen?
Beatrice Müller: Der Unterricht sollte vielfältig und sinnlich sein – mit Büchern, Hörspielen, Lernspielen, Projekten, Theater, digitalen Medien, verschiedenen Materialien und handschriftlicher Arbeit. Kinder sollen ausprobieren, gestalten, erzählen. Lehrkräfte wählen dann für jedes Kind passende Materialien – analog und digital, mehrsprachig, experimentell. Kinder sollen dann das, was sie lernen, auch sprachlich ausdrücken, zum Beispiel durch Präsentationen oder kurze Texte.
Das heißt, ich brauche sehr kompetente Lehrer:innen, aber ich muss ihnen auch die Möglichkeit geben, ihre Kinder zu beobachten und dann aufgrund dessen die Angebote zu gestalten.
Wichtig ist, dass Kinder positive Erfahrungen mit der deutschen Sprache machen und es nicht nur die Sprache ist, über die man sanktioniert wird. Wenn sie sehen, dass sie damit mit mehr Menschen kommunizieren können, steigt ihre Motivation. Emotionen sind entscheidend für den Spracherwerb. So entsteht besseres Deutschlernen – eingebettet darin, was sie wirklich lernen anstatt in isoliertem Sprachunterricht.

Praktische Tipps für mehrsprachigen Unterricht
Kontrast: Aber ist so ein Unterricht überhaupt realistisch?
Beatrice Müller: Im Moment nicht in vollem Umfang – dafür fehlen die Ressourcen. Aber wir könnten Schritt für Schritt dorthin kommen. Viele Lehrkräfte arbeiten schon differenziert, zum Beispiel mit verschiedenen Angeboten für einzelne Gruppen in der Klasse. Lehrkräfte wissen auch, wann Frontal-, Gruppen- oder Einzelarbeit sinnvoll ist, und viele Schulen kombinieren das mit Deutschförderung im Unterricht.
Es gibt bereits gute Ansätze, weil die Lehrkräfte oder auch die Direktor:innen sehen, dass sich auf diese Art die Arbeit sowohl für die Kinder besser als auch für die Lehrkräfte verbessert. Diese Erfolgsbeispiele sind allerdings nur aufgrund des Engagements der Lehrkräfte, der Direktor:innen, der Eltern und der Kinder möglich. Es geht also eher darum, dass sie alle gut zusammenarbeiten und auf die konkreten Umstände eingehen, weniger um den gesetzlichen Rahmen. Mehr Schulautonomie ist deshalb sinnvoll, weil die Betroffenen am besten wissen, wie es geht.
Ein weiteres gutes Beispiel sind Sprachbildungskoordinator:innen, die es in Wien verpflichtend gibt. Sie unterstützen Lehrkräfte, kennen Materialien, Konzepte, Weiterbildungsangebote und gesetzliche Grundlagen und wissen, dass Sprache Teil jedes Unterrichts ist. Diese Rolle sollte stärker ausgestattet werden.
- Sammlung von Materialien, Informationen und Veranstaltungshinweisen: https://www.schule-mehrsprachig.at/
- der Blog Schulgschichtn mit realistischen, aber auch wertschätzenden Perspektiven: https://www.schulgschichtn.com/
- der mehrsprachige Redewettbewerb Sag’s Multi: https://sagsmulti.orf.at/index.html
- ein Netzwerk verschiedener Schulen und Kindergärten mit positiven und unterstützenden Initiativen: https://www.voxmi.at/
- mehr zu den Sprachbildungskoordinator:innen in Wien: https://kphvie.ac.at/beatricemueller/sprachbildungskoordinatorinnen.html
- Beispiele aus Schulen in Deutschland, die mit offeneren Konzepten gute Erfahrungen gemacht haben: https://www.deutscher-schulpreis.de/preistraeger
„Wir müssen uns trauen, Schule anders zu denken“
Kontrast: Sie sind ja auch in Gesprächen mit dem Bildungsministerium. Wie erleben Sie die Zusammenarbeit?
Beatrice Müller: Tatsächlich arbeitet das Bildungsministerium im Moment mit vielen Expert:innen und Lehrkräften zusammen, um sowohl die Schule als auch die Fortbildung weiterzuentwickeln. Das ist sehr begrüßenswert. Die Zusammenarbeit ist wertschätzend und zielorientiert. Ich bin gespannt, was sich daraus entwickelt.
Im Moment drehen wir aber nur an Stellschrauben. Österreich hat ein enorm teures Bildungssystem, aber in Bildungsvergleichsstudien sinken die Kompetenzen der Schüler:innen. Die Schule passt offenbar nicht für die Kinder. Wir müssen uns überlegen, wie Schule aussehen kann und wir sollten uns trauen, Schule echt anders zu denken.
Wir wissen heute viel besser, wie Lernen und Sprachen lernen funktioniert – aber nur wenig davon wird berücksichtigt. Andere Bereiche wie Medizin oder Naturwissenschaften setzen neues Wissen viel schneller um. Gleichzeitig leisten Lehrkräfte enorm viel, meist aus Überzeugung. Sie arbeiten ja jeden Tag mit den Kindern und sehen, was die Kinder wirklich leisten. Und das ist schön und beruhigend zu wissen. Viele von uns erinnern uns an diese eine Lehrkraft, die damals schon gesehen und gewusst hat, dass man das alles kann. Da sieht man, wie viel Einfluss die Lehrkräfte und auch die Schule in dieser sensiblen Phase auf unser ganzes Leben haben.
FPÖ-Bildungspolitik in den Bundesländern: Kürzungen bei Schulgeld, Jugendhilfe & Deutschkursen
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