Migration & Asyl

„Zynische Solidarität“: EU-Migrationspakt will mehr Abschiebungen, Länder blockieren bessere Verteilung

Die EU-Kommission hat die lang erwartete und seit Jahren blockierte Reform der Asyl- und Migrationspolitik vorgestellt. Der Migrationspakt beinhaltet sogenannte „Abschiebe-Patenschaften“ und sieht umfassende Gesundheits- und Sicherheitschecks direkt an den EU Grenzen vor. Experten und NGOs kritisieren die Vorschläge als unrealistisch, die ÖVP begrüßt sie.

Das Feuer im überfüllten griechischen Lager Moria ist Weckruf für die EU. Der Brand verschlimmerte den Zustand für die geflüchteten Menschen in Griechenland massiv. Das brachte Bewegung in Brüssel: Die EU beschloss, ihren neuen Migrationspakt eher als geplant vorzustellen.

Und das scheint dringend notwendig. Denn nicht nur für ankommende Geflüchtete ist die derzeitige Situation untragbar, auch die griechische Bevölkerung wehrt sich gegen die Errichtung neuer Lager vor Ort. Sie fordert europäische Solidarität von den EU-Mitgliedern.

Der neue Migrationspakt soll nun die Abläufe verbessern und das Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten erneuern. Die zuständige EU-Innenkommissarin Ylva Johansson erklärte bereits im Vorfeld, es werde keine neuen Lager wie Moria geben. Aber was kommt stattdessen?

Bisher gilt: Das Dublin-Abkommen

Seit 1990 gilt in der EU das Dublin-Abkommen – und das besagt, dass Flüchtlinge dort um Asyl ansuchen müssen, wo sie als erstes europäischen Boden betreten. Damals handelte es sich um wenige Menschen, die nach Europa flüchteten. Das änderte sich spätestens im Sommer 2015: Nach Europa kamen knapp eine Million Menschen auf Land- und Seerouten.

Auch wenn die Zahlen im Jahr 2018 wieder auf rund 150.000 fielen, wurde klar: Die EU braucht dringend eine neue Regelung, die sich an den tatsächlichen Umständen orientiert. Denn der bisherige Ansatz setzte darauf, zu warten, dass ein anderes EU-Land Geflüchtete aus den Ankunftsländern aus eigenem Antrieb übernimmt. Das führt im Endeffekt dazu, dass Migranten dort festsitzen, wo sie ankommen. Momentan belastet die Regelung EU-Grenzländer wie Griechenland, Italien oder Spanien über alle Maßen.

Die Hölle namens Moria

Das zeigt sich jetzt besonders auf der Insel Lesbos. Das Lager in Moria war ursprünglich für 3.000 Personen geschaffen, zuletzt beherbergte es mehr als 12.000 Migranten.

Die Bilder der miserablen und menschenunwürdigen Lebensumstände gingen durch die Medien. Abwässer und Fäkalien fließen offen durchs Lager, es mangelt an ärztlicher Versorgung. Moria wird von den dort lebenden Menschen als „Hölle“ bezeichnet.

Ist das Europa?

Ein junger Mann aus Afghanistan spricht vom „größten Fehler“ seines Lebens, hierher gekommen zu sein, und fragt: „Ist das Europa?“ Die bekannten deutschen Comedians Joko und Klaas gaben ihm dafür 15 Minuten ihrer Sendezeit auf ProSieben. Das Video ging in den sozialen Netzwerken viral:

Von der Leyens Plan

Statt auf verpflichtende Aufnahmequoten setzt EU-Kommissionspräsidentin Uraula von der Leyen auf ein Anreizsystem und „Abschiebe-Patenschaften“.

Der Brand brachte für die EU-Politik nun einen neuen Fokus. Die EU-Kommission will neben der Dublin-Verordnung nun auch andere Fakten miteinbeziehen. Wer in einem anderen EU-Land etwa Geschwister hat, dort früher schon mal studiert oder gearbeitet hat, soll dorthin kommen. Gleiches gilt, wenn ein Asylbewerber zuvor legal mit einem Visum in ein EU-Land gereist ist.

Der Vorschlag der Kommission berücksichtige die unterschiedlichen Haltungen der Mitgliedsstaaten, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Damit spielt sie darauf an, dass sich Staaten wie Ungarn und Polen bis zuletzt völlig weigerten, Flüchtlinge aufzunehmen. Auch Österreichs Regierung will ihr Kontingent keinesfalls aufstocken.

Schnellere Verfahren, schnellere Abschiebungen

Kernelement des neuen Pakts: Bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Durch intensivere Partnerschaften mit Drittstaaten, also nicht EU-Ländern, sollen schnellere Verfahren ermöglicht werden.

Außerdem soll es bereits an den Außengrenzen zu einer gründlichen Überprüfung kommen: Die ankommende Person wird registriert, Fingerabdrücke werden genommen, es gibt Gesundheits- und Sicherheitschecks. Ein Schnellverfahren soll vor Ort entscheiden, ob die Asylsuchenden eine Chance auf Asyl haben und in ein anderes EU-Land weiterreisen dürfen, wo dann ein ordentliches Asylverfahren stattfinden wird – oder ob man ohne ordentliches Verfahren zurückgewiesen wird. Kritiker sehen darin eine Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit, weil jeder und jede Asylsuchende das Recht auf ordentliches Verfahren hat.

Besonders scharf wird kritisiert: Ankömmlinge aus Ländern mit niedriger Anerkennungsquote sollen ein beschleunigtes Verfahren mit schneller Rückführung bekommen. Für alle anderen gilt ein normales Verfahren. Dafür soll es künftig einen eigenen EU-Koordinator für Rückkehr geben.

„Abschiebe-Patenschaften“ als „neue Solidarität“

Eine verpflichtende Aufnahmequote wird es nicht geben. Stattdessen sollen EU-Länder einander freiwillig helfen. Die Quote wurde zwar im September 2015 von den europäischen Innenministern beschlossen, wurde aber nie wirklich in die Realität umgesetzt. Länder wie Ungarn, Bulgarien, Tschechien und der Slowakei weigern sich bis heute, Flüchtlinge oder Migranten aufzunehmen. Stattdessen gibt es ein neues Anreizsystem: Für jeden aufgenommen Flüchtling soll es nun 10.000 Euro aus dem EU-Budget geben.

Tritt ein erhöhtes Aufkommen an Asylsuchenden wie 2015 ein, greift ein Krisen-Mechanismus „für verpflichtende Solidarität.“ Beabsichtigt ist eine Art Arbeitsteilung – bei der alle EU-Länder mitmachen. Aufnahmewillige Länder nehmen Flüchtlinge auf, dafür kümmern sich die nicht aufnahmewilligen Länder um deren Abschiebungen. Abschiebungen gelten als oft schwierige, teure Aufgabe, wenn die Herkunftsländer nicht mitspielen.

Die Caritas sieht dadurch die Grund- und Menschenrechte von Asylsuchenden in Gefahr. Ein Solidaritätsmechanismus, der „den EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit gibt, die Aufnahme zu vermeiden, indem die Rückkehr von Migranten erleichtert wird“, sei „inakzeptabel“, erklärte die Europa-Chefin der Caritas, Maria Nyman.

Experten und NGOs kritisieren: „Fortführung der Festung Europa“

„Das ist eine zynische Form der Solidarität, für die sich rechtskonservative Regierungen in der EU brüsten können, wenn sie dann Bündnisse mit autokratischen Regierungen außerhalb der EU schließen, die ihnen die Flüchtlinge abnehmen“, kommentiert der  Migrationsexperte Jens Althoff.

„Vieles erscheint mir nicht realistisch“, sagt etwa auch der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus. Die vorgestellten Pläne würden „viel mehr Fragen als Antworten“ aufwerfen. Auch der französische Migrationswissenschaftler Yves Pascouau spricht von einer „Fortführung der Festung Europa.“ Denn Außengrenzschutz und Abschiebung seien die einzigen Punkte, in denen sich die EU-Länder einig sind.

ÖVP: Verteilung „gescheitert“ – noch bevor Plan vorlag

Die österreichische Regierung begrüßt die Reform. Aus dem Innenministerium heißt es zum Plan der EU-Kommission nun, man werde diesen genau prüfen. Schon zuvor sorgten aber Aussagen der ÖVP-Regierungsspitze für Kritik im Ausland.

Sowohl Bundeskanzler Sebastian Kurz als auch Innenminister Karl Nehammer bezeichneten die Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU bereits vor der Präsentation des neuen Vorschlags der EU-Kommission als „gescheitert“.

„Das lehnen so viele Staaten ab. Das wird auch nicht funktionieren“, sagte Kurz, der seine Karriere auch seiner harten Haltung in der Flüchtlingspolitik zu verdanken hat, wie in Deutschland über ihn berichtet wird.

Österreichs Kanzler verweigert die konstruktive europäische Zusammenarbeit und wird dafür von Deutschland hart kritisiert. Und das von der eigenen christ-demokratischen Parteienfamilie. Foto: BKA

Sebastian Kurz in Deutschland unter Kritik

Dass von der Leyen gar keine neue Verteilung vorschlug, interessiert in Österreich niemanden. Im Rest Europas sieht das anders aus. Denn es ist nicht das erste Mal, dass österreichische ÖVP-Politiker Brüssel falsche Fakten vorwerfen, um sich selbst medial zu inszenieren.

„Über die Äußerung des österreichischen Bundeskanzlers war ich traurig“, sagt sogar der als Hardliner bekannte deutsche Innenminister Horst Seehofer.

Kritik kam auch vom deutschen Europaminister Michael Roth (SPD): „Man kann sich nicht einfach aus der Verantwortung stehlen.“

Menschlichkeit ist bei der ÖVP nicht gewollt

Mehrere Länder wie etwa Deutschland und Italien holten bereits ein paar hundert Kinder aus dem überfüllten Lager Moria. Auch wenn die Gesamtsituation damit nicht geändert wurde, wollte man zumindest ein Zeichen setzen: Kein Kind soll auf europäischem Boden so leben müssen. Die österreichische Bundesregierung weigerte sich hingegen konsequent, direkte Hilfe durch Umverteilung zu leisten. Bundeskanzler Sebastian Kurz richtete aus, man habe bereits sehr viel getan.

Kinder zu retten sei aber niemals Symbolpolitik, kritisierte die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner im österreichischen Nationalrat. Auch die Grünen-Umweltministerin Leonore Gewessler spricht vom „Gebot der Menschlichkeit“, nun Geflüchtete aufzunehmen. Die Grünen scheinen sich bis jetzt aber nicht gegen den türkisen Koalitionspartner durchsetzen zu können. Im Parlament stimmen sie mehrfach gegen die Aufnahme – obwohl der Koalitionsvertrag eine abweichende Abstimmung in diesen Fragen dezidiert zulässt.

Österreichs Städte wollen Geflüchtete aufnehmen

Und das, obwohl sich in Österreich Bürgermeister und lokale politische Vertreter verschiedener Parteien – auch von der ÖVP – bereit erklären, Menschen aufzunehmen. In Wien etwa der SPÖ-Bürgermeister Michael Ludwig: Wien verfüge über die Ressourcen, Menschen zu versorgen, damit sie dann ihr Recht auf ein geregeltes Asylverfahren wahrnehmen können. ÖVP-Innenminister Karl Nehammer richtete Ludwig daraufhin zynischerweise aus, Wien könne gerne Kinder aus dem Flüchtlingslager Traiskirchen aufnehmen, das dem Bund untersteht.

Kritik am Migrationspakt aus dem EU-Parlament

Österreichs Europaabgeordnete haben unterdessen unterschiedlich auf den neuen Vorstoß der EU-Kommission für eine Asylreform reagiert: Verfahren zu beschleunigen und neue gemeinsame Hilfsmechanismen zu installieren sei begrüßenswert – aber „mit Abschreckung und Abschiebung allein kann man die Flüchtlingsfrage nicht lösen“, twitterte der Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), der für seine abweichende Meinung vom türkisen Weg bekannt ist.

Ein leerer Sitzungssaal des Europäischen Parlaments. Hier wurde am Donnerstag der Migrationspakt der Kommission mit den Abgeordneten diskutiert. Foto: APA/AFP/Kenzo Tribouillard

Die grüne Delegationsleiterin Monika Vana warnte, die Situation an den EU-Außengrenzen dürfe sich durch den neuen Migrationspakt nicht weiter verschlechtern, „andernfalls wird das Elend von Moria zum unerträglichen Dauerzustand.“ Auch SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath appelliert in einer Presseaussendung erneut an die österreichsiche Bundesregierung „endlich an Lösungen mitzuarbeiten.“ Die Pläne gehen nun an das Europäische Parlament und die Nationalstaaten. Die konkrete Umsetzung ist momentan noch offen.

Wie soll die Sicherheitspolitik Österreichs zukünftig aussehen?
  • Österreich soll seine Neutralität beibehalten und aktive Friedenspolitik machen. 59%, 1476 Stimmen
    59% aller Stimmen 59%
    1476 Stimmen - 59% aller Stimmen
  • Österreich soll der NATO beitreten und seine Neutralität aufgeben. 15%, 382 Stimmen
    15% aller Stimmen 15%
    382 Stimmen - 15% aller Stimmen
  • Österreich soll seine Verteidigungsausgaben erhöhen, um die Neutralität zu stärken. 12%, 309 Stimmen
    12% aller Stimmen 12%
    309 Stimmen - 12% aller Stimmen
  • Österreich soll eine aktive Rolle in einer potenziellen EU-Armee spielen. 9%, 220 Stimmen
    9% aller Stimmen 9%
    220 Stimmen - 9% aller Stimmen
  • Österreich soll sich der NATO annähern, ohne Vollmitglied zu werden. 4%, 110 Stimmen
    4% aller Stimmen 4%
    110 Stimmen - 4% aller Stimmen
Stimmen insgesamt: 2497
12. März 2024
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