Ein Bub will nicht mit Schuhen Fußball spielen. Warum, versteht Daniel Bohmann erst nach dem Match. Er sagt: Kinderarmut ist Gewalt, die eine Gesellschaft Kindern antut – und die wir unterbinden müssen.
Wenn ich auf einem Feriencamp der Kinderfreunde dabei bin, lasse ich es mir meistens nicht nehmen, mit den Kindern dort Fußball zu spielen – oder zumindest als Schiedsrichter auszuhelfen. Auch in diesem Sommer pfiff ich das Spiel bei einem Sportturnier und noch vor dem Anpfiff musste ich mit dem etwa 12-jährigen Marcel diskutieren: Es wollte unbedingt ohne Schuhe spielen – das sei viel besser für die Füße und er habe dann auch mehr Gefühl. Ich war dagegen. Die Verletzungsgefahr ist zu groß, wenn einige der Kinder mit Schuhen spielten und andere nicht. Ein falscher Schritt, ein Tritt auf den Fuß und schon ist ein Mittelfußknochen oder eine Zehe gebrochen. Ich versuchte, ihm das auch so zu erklären. Ein 12-Jähriger musste das doch einsehen. Tat er aber nicht. Demonstrativ schmollend setzte er sich neben den Platz und strafte mich mit Blicken.
Der einzige ohne gute Schuhe
Ich wunderte mich nur kurz. Immerhin sind die Wege von Pubertierenden manchmal unergründlich. Erst nach Abpfiff, als ich seine Schuhe neben ihm stehen sah, wurde mir klar, was los war: Während andere Kinder teilweise mit den neuesten Sportschuh-Modellen über den Platz liefen, waren Marcels Schuhe alt, ausgelatscht, löchrig – und zu klein. Er hätte sie nicht tragen können, um zu spielen. Und sagen konnte er das schon gar nicht. Wahrscheinlich hätten wir auf unserem Camp sogar passende Schuhe für ihn organisieren können. Aber seine Scham war zu groß. Er wollte nicht derjenige sein, der sich keine ordentlichen Schuhe leisten kann.
Kinderarmut nimmt Kindern ihre Freiheit
Ich habe mich nach dem Spiel bei ihm entschuldigt – auch weil ich mich sehr über mich selbst geärgert habe. Ich habe es nicht erkannt. Aber genau das macht Armut mit Kindern: Sie sperrt sie ein mit Gitterstäben, die so subtil sind, dass man sie oft auf den ersten Blick nicht sieht. Sie nimmt ihnen die Freiheit, an einem Leben teilzunehmen, das alles hat, was dazugehört. Sie hält Kinder klein. Sie schnürt sie ein, macht sie weniger mobil oder sogar krank.
Die Kinder werden unsichtbar. Zum Beispiel jene, die zufällig immer dann krank sind, wenn im Kindergarten oder in der Schule ein Ausflug ansteht. Die an Skikursen, Projektwochen oder Sportkursen irgendwie nie Interesse haben. Oder eben am Zeltlager nicht Fußball spielen können, weil ihre Schuhe nicht mehr passen.
All diese Kinder verschwinden irgendwie aus ihrem Umfeld. Sie werden blasser, leiser und gebückter. Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, dass ihnen das schadet. Es hindert sie daran, sich frei zu entwickeln, ihren eigenen Weg zu gehen, ihre Leidenschaften und Talente entdecken – kurz: Es hindert sie daran, gesund aufwachsen zu können.
Kein Kind verdient es, arm zu sein
Womit haben Kinder Armut verdient? Denn selbst, wenn man dem zweifelhaften Dogma nachhängt, dass jede/r seines/ihres Glückes Schmied sei, was können denn die Kinder dafür? Selbst wenn man findet, dass Armut ja doch irgendwie selbst verschuldet sei: Die Kinder suchen sich ihre Eltern nicht aus. Sie werden in Familien geboren. Manche in Reichtum, manche in Armut. Und dieses Glücksspiel soll ihren weiteren Lebensweg vorzeichnen? In einem der reichsten Länder der Welt? Im Herzen von Europa, quasi im Mittelpunkt der freien westlichen Welt? Das ist unwürdig und wir alle wissen das.
Kinderarmut ist ein Verbrechen. Es ist Gewalt, die eine Gesellschaft ihren schwächsten Mitgliedern antut.
Jedes einzelne Kind, das in Armut aufwachsen muss, ist ein Armutszeugnis für unser Land.
Kinder brauchen Halt, Bildung und Teilhabe
Doch was tun? Wie können wir Kinderarmut bekämpfen? Es braucht dazu Maßnahmen auf drei Ebenen: An erster Stelle steht der Sozialstaat, dessen Netz Halt geben und dafür sorgen soll, dass alle Kinder Zugang zu einem guten Leben haben. Dazu gehören Geldleistungen wie die Mindestsicherung, Familienbeihilfe usw. in ausreichender Höhe, aber auch Sachleistungen wie Mietbeihilfen, Freifahrten, aber auch der Zugang zu Angeboten des gesellschaftlichen Lebens.
Die zweite Ebene ist Bildung, also Einrichtungen, die es den Kindern ermöglichen, sich nach ihren Interessen und Talenten zu entfalten. Im Mittelpunkt soll stehen, was die Kinder können und was sie wollen. Nicht das, was ihre Eltern haben. Das beginnt beim flächendeckenden Gratis-Kindergarten, geht über die Schulmaterialien bis hin zum freien Hochschulzugang für alle.
Drittens geht es um Partizipation und Beteiligen – also darum, den eigenen Lebensbereich gestalten zu können. Kinder, die lernen, dass ihre Meinung wichtig ist und dass sie gehört werden, die lassen sich nicht so leicht an den Rand drängen. Kinder, die spüren, dass sie etwas ändern können, die finden sich nicht so leicht mit ihrem Schicksal ab. Und Kinder, die erleben, was es bedeutet, sich für seine Anliegen zu organisieren, die können ein wichtiger Faktor in der politischen Debatte werden.
Für all das müssen wir uns einsetzen. Wir können Kinderarmut abschaffen. Wir können zigtausenden Kindern eine freie, gesunde und aussichtsreiche Zukunft ermöglichen. Die unsichtbaren Gitterstäbe, die sie einschnüren und festhalten, können wir aufbrechen. Wir haben etwas gegen Armut und es wäre ein leichtes, sie in Österreich zu beenden. Wir müssen nur wollen.