Die USA und Europa sollten Autokraten in Russland und China dadurch herausfordern, dass sie das “veraltete hyperkapitalistische Modell” aufgeben und stattdessen eine langfristige Bewegung hin zu mehr Gleichheit und globaler Gerechtigkeit verfolgen. Diesen ungewöhnlichen Vorschlag machte der Star-Ökonom und Vermögensforscher Thomas Piketty in einem bemerkenswerten Vortrag am 16. Februar 2022 an der National Defense University des US-Pentagon. Gezielte Sanktionen gegen Oligarchen statt allgemeiner Sanktionen, höhere Besteuerung von Milliarden und Konzernen und die Verteilung der Steuereinnahmen unter allen Ländern, entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, schlägt Piketty vor. In den Gesellschaften sollen eine gerechte Verteilung von Erbvermögen und höhere Bildungsausgaben den Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung voranbringen. Kontrast hat den Vortrag übersetzt.
Im ersten Teil des Vortrags werde ich argumentieren, dass es insbesondere in den westlichen Ländern, sowohl in Nordamerika als auch in Westeuropa, eine sehr erfolgreiche historische Bewegung für mehr Gleichheit gab – insbesondere durch den Aufstieg des Wohlfahrtsstaates und die progressive Besteuerung im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese Bewegung in Richtung mehr Gleichheit war absolut zentral für den Erfolg des westlichen Modells im Allgemeinen und für das demokratische Modell im Besonderen.
Mein zweiter Punkt wird sein, dass es wünschenswert ist, dass wir uns gemeinsam weiter in diese Richtung bewegen. Ich schlage ein Modell des partizipativen und demokratischen Sozialismus vor – mit progressiver Besteuerung, starken Arbeitnehmerrechten und dem ständigen Zirkulieren von Macht und Eigentum. Die progressive Besteuerung und die Arbeitnehmerrechte sind im 20. Jahrhundert erfolgreich aufgebaut worden, die sollten wir jetzt weiterentwickeln. Dieses System des demokratischen Sozialismus, das ich beschreibe, wird Ihnen vielleicht seltsam vorkommen, aber unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem hat sich beachtlich verändert. Der Kapitalismus von heute ist ein ganz anderes Wirtschaftssystem als der Kapitalismus im Jahr 1910. Der demokratische Sozialismus des Jahres 2050 würde sich daher nicht stärker vom Wohlfahrtsstaatskapitalismus unterscheiden, den es bis in die 1980er und 1990er Jahre in sehr vielen westeuropäischen Ländern gab, als sich der sozialdemokratische Kapitalismus vom kolonialen Kapitalismus im Jahr 1910 unterschieden hat. Wenn wir uns die langfristigen Veränderungen des Wirtschaftssystems, des Rechtsregimes, des Eigentumsregimes und des Steuersystems ansehen, dann denke ich, dass wir die Entwicklung in Richtung mehr Gleichheit und Gerechtigkeit fortsetzen sollten.
Im dritten Teil des Vortrags werde ich fragen: Welche Kräfte des Wandels kennen wir, die in diese Richtung zeigen? Weil natürlich gibt es immer einen sehr starken Widerstand der Elite und der Machthaber gegen diese Art von Veränderung. Doch ich sehe mindestens zwei Kräfte, die diese Richtung begünstigen: Die globale Erwärmung, weil sie die Einstellungen gegenüber dem Wirtschaftssystem und der Ungleichheit auf spektakuläre Weise verändert. Die zweite ist die Konkurrenz mit China. Hier werde ich argumentieren:
Die richtige Antwort auf autokratische Systeme in China, Russland oder wo auch immer, ist es, die Bewegung für Gleichheit und globale Gerechtigkeit voranzutreiben.
Das wird eine Reihe neuer Schritte beinhalten. Wir sprechen dieser Tage viel darüber, welche Sanktionen gegen Russland wir verhängen sollen. Ich bin für Sanktionen gegen die Top-Oligarchen, anstatt für einheitliche Sanktionen, die die gesamte Bevölkerung treffen werden. Ich spreche mich für die gerechte Verteilung der globalen Steuereinnahmen aus und eine Reform der Besteuerung der multinationalen Konzerne.
Mehr Einkommensgleichheit in Europa war ein unglaublicher Erfolg
Ich werde in diesem Vortrag ziemlich viel Material behandeln, wenn Sie mehr darüber wissen möchten, können Sie einen Blick in mein Buch Kapital und Ideologie werfen. Das ist leider etwas lang zum Lesen, wenn Sie keine Zeit dafür haben, dann empfehle ich mein neues Buch “Eine kurze Geschichte der Gleichheit”, das wird demnächst veröffentlicht. In dieser kurzen Geschichte der Gleichberechtigung versuche ich, einige der größeren Lehren aus meinem vorherigen Buch zusammenzufassen. […]
Sie können auch einen Blick auf den World Inequality Report 2022 werfen, der vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde. An diesem Projekt sind mehr als 100 Forscher aus der ganzen Welt beteiligt, und ich werde einige der Ergebnisse aus diesem Bericht in dieser Präsentation vorstellen. […]
Fangen wir an, lassen Sie mich mit einem wichtigen Indikator für die Ungleichheit beginnen: Dem Anteil des Nationaleinkommens, das an die Top-10 Prozent fließt. Bei vollständiger Gleichheit würde der Anteil der Top-10% am Einkommen bei 10 Prozent liegen, bei vollständiger Ungleichheit wären es 100 Prozent. In der realen Welt liegen wir immer zwischen 10 und 100 Prozent, das variiert stark zwischen 20 – 25 oder 65 – 70 Prozent. Die größte Gleichheit gibt es in Skandinavien, dort fließen ca. 25 Prozent an die reichsten 10 Prozent. Die größte Ungleichheit gibt es in Ländern wie Südafrika oder Brasilien, in Südafrika sind es 65 bis 70 Prozent. Es gibt also große Unterschiede im Grad der Ungleichheit auf der ganzen Welt.
Noch klarer wird es, wenn man nicht nur auf die Top-10 schaut, sondern auch auf die unteren 50 Prozent. Das ist eigentlich noch wichtiger, weil das eng mit Armut und sozialen Unruhen zusammenhängt. In Ländern mit hoher Gleichberechtigung, wie in Kanada, gehen 25 bis 30 Prozent des Nationaleinkommens an die unteren 50 Prozent. Das heißt, dass sie im Durchschnitt die Hälfte des durchschnittlichen Nationaleinkommens haben. In Südafrika erhält die untere Hälfte fünf Prozent des Gesamteinkommens, dort hat die untere Hälfte also nur ein Zehntel des Durchschnittseinkommens. In einigen der am meisten ungleichen Länder in Lateinamerika werden es zwischen fünf und zehn Prozent sein. Um es noch einmal zusammenzufassen:
Die Verteilung des Einkommens ist sehr wichtig. Wenn man nur das Gesamt-BIP pro Kopf in einem Land kennt, dann kann die ärmere Hälfte der Bevölkerung tatsächlich 5 oder 25 Prozent des Durchschnittseinkommens haben. Es reicht nicht aus, nur das Gesamt-BIP zu betrachten.
Die Indikatoren der Ungleichheit geben uns Auskunft über die Lebensbedingungen eines sehr großen Teils der Bevölkerung. Das ist wichtig, um politische Revolten und soziale Unruhen zu verstehen. In Westeuropa und in Nordamerika hat es eine lange historische Entwicklung hin zu mehr Gleichheit gegeben. Im 19. oder frühen 20. Jahrhundert war unsere Ungleichheit näher an Südafrika oder Lateinamerika, der Anteil der unteren 50 Prozent am Gesamteinkommen lag bei rund zehn Prozent. Heute sind es mehr als 25 Prozent, da gab es eine signifikante Steigerung. An die oberen 10 Prozent flossen früher 50 Prozent, heute sind es 25 bis 30 Prozent. Diese Bewegung in Richtung mehr Gleichheit ging Hand in Hand mit mehr wirtschaftlichem Wohlstand und dem Aufstieg der parlamentarischen Demokratie. Das war im Großen und Ganzen ein unglaublicher Erfolg.
Bei der Vermögensverteilung hat es kaum Fortschritte gegeben
Betrachten wir nicht nur die Ungleichheit des Einkommens, sondern auch die Ungleichheit des Vermögens, dann hat es hier zwar auch Fortschritte gegeben, aber die waren deutlich begrenzter. Ich zeige Ihnen hier den Fall von Frankreich, für das wir sehr gute historische Aufzeichnungen haben, beginnend mit der Französischen Revolution. (Wir haben ähnliche Daten für ganz Europa.) In dieser Grafik sehen Sie: Was den Top-10% am Gesamtvermögen gehört, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts kleiner geworden – profitiert haben davon vor allem die nächsten 40 Prozent. Die unteren 50 Prozent besitzen nach wie vor nicht viel. Das Vermögen, also Immobilien, Geschäftsvermögen, Land, Finanzvermögen – abzüglich der Schulden, ist wesentlich ungleicher verteilt als das Einkommen.
Die oberen 10 Prozent des Einkommens haben in europäischen Ländern heute 30 Prozent des Gesamteinkommens, die unteren 50 Prozent 20 bis 25 Prozent.
Das Vermögen ist viel konzentrierter. Die oberen 10 Prozent besitzen 60 Prozent und die ärmere Hälfte besitzt im Grunde nichts. In Ländern wie Frankreich hat die untere Hälfte heute vier Prozent des Gesamtvermögens, im 19. Jahrhundert waren es zwei Prozent. Das ist ein sehr begrenzter Fortschritt.
Das gilt nicht nur für Frankreich, diesen hyperkonzentriertem Reichtum gibt es auf der ganzen Welt. Ich zeige Ihnen die Entwicklung Europas zwischen 1913 und 2018, damit Sie wissen, dass die unteren 50 Prozent in den USA immer noch nichts besitzen. Dort ist der Anteil der unteren 50 sogar noch kleiner als in Europa. Die Gruppe, die zwischen den unteren 50 Prozent und den Top-10 Prozent liegt, nenne ich die “erbende Mittelschicht”. Der Aufstieg dieser erbenden Mittelklasse war im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr wichtig – auch in Bezug auf das Wirtschaftswachstum. Durch sie hat die Zahl der Menschen zugenommen, die Firmen gründen, Häuser für ihre Familien kaufen und so weiter. Leider ist ihr Anteil am Vermögen in den USA in den letzten Jahrzehnten erheblich zurückgegangen. Es bewegt sich nicht in die richtige Richtung.
Das können Sie auf der ganzen Welt beobachten, wie Sie an dieser Grafik aus dem World Inequality Report 2022 sehen. In jeder Region der Welt besaß die ärmere Hälfte der Bevölkerung immer weniger als fünf Prozent des Gesamtvermögens, zwei Prozent in Lateinamerika und vier Prozent in Europa. Das ist ein Indikator für die Konzentration wirtschaftlicher Macht und wirtschaftlicher Möglichkeiten in Bezug auf die Gründung von Unternehmen und wie Sie ein wirtschaftliches Leben für Sie und Ihre Familie entwickeln können.
Mehr Investitionen in öffentliche Bildung sind wesentlich
Ebenso wichtig für mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sind auf lange Sicht die öffentlichen Sozialausgaben, insbesondere für öffentliche Bildung und öffentliche Gesundheit. In den USA und in Europa waren die gesamten Bildungsausgaben im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg sehr gering. Vor dem Ersten Weltkrieg gaben die USA weniger als ein Prozent des Nationaleinkommens für Bildung aus, in Europa waren es weniger als 0,5 Prozent. Im Laufe des 21. Jahrhunderts haben sich die gesamten öffentlichen Bildungsausgaben verzehnfacht. Heute geben wir fünf bis sechs Prozent des Volkseinkommens für Bildung aus. Das war sehr wichtig für die gerechtere Verteilung von Ressourcen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Menschen, aber auch für das Wirtschaftswachstum und den wirtschaftlichen Wohlstand der Länder.
In den letzten Jahrzehnten sind die Bildungsausgaben stagniert. Das ist eines der Probleme, die wir heute im Westen haben. In asiatischen Ländern, wie etwa in China, nehmen sie zu – und das ist wichtig für den zukünftigen Wettbewerb.
Mehr Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, die öffentliche Gesundheit und die öffentliche Bildung sind der Schlüssel für die Gleichheit, den Wohlstand und für den weltweiten Wettbewerb in der Zukunft.
Der Erfolg der progressiven Besteuerung
Das ist eine weitere Lehre aus dem 20. Jahrhundert: Der Anstieg der Sozialausgaben in Europa und den USA ist mit dem Anstieg der progressiven Besteuerung einhergegangen. Gerade die USA waren eines der Länder, die im 20. Jahrhundert eine sehr progressive Besteuerung erfanden. Das begann in den 1920er Jahren und wurde unter Roosevelt fortgesetzt. Zwischen 1930 und 1980 betrug der höchste Einkommenssteuersatz für das allerhöchste Einkommen in den USA 81 Prozent – und das ist nur die Bundeseinkommenssteuer. Anscheinend hat das den Kapitalismus nicht zerstört, sonst hätten wir es bemerkt. Im Gegenteil: Das war die Zeit der maximalen Dominanz der US-Wirtschaft über den Rest der Welt. Es war die Zeit, in der die Produktivitätslücke zwischen den USA und dem Rest der Welt am größten war.
Daraus lässt sich eine wichtige historische Lehre ziehen: Wenn die US-Wirtschaft im 20. Jahrhundert führend war, liegt es daran, dass sie Mitte des 20. Jahrhunderts im Bildungsbereich führend war.
In den 50er Jahren gingen in den USA 90 Prozent einer Generation in eine höhere Schule, in Deutschland, Frankreich oder Japan waren es in dieser Zeit nur 20 oder 30 Prozent. Dort musste man bis in die 1980er und 1990er warten, bis sie das US-Niveau erreichten. In diesen Jahren kam es dann auch zu einem Angleichen der Produktivität zwischen diesen Ländern und den USA. Das ist wirklich die zentrale Lehre hier.
Dazu kommt die progressive Besteuerung von vererbtem Vermögen. Frankreich und Deutschland sind hier nie so weit gegangen wie die USA, Großbritannien und Japan, weil Zerstörung und Inflation viel zur Umverteilung beigetragen haben. Das Pro-Kopf-Wachstum des Nationaleinkommens betrug in den Vereinigten Staaten zwischen 1950 und 1990 etwa 2,2 Prozent pro Jahr. Der große Anstieg der progressiven Besteuerung hat das hohe Wachstum nicht verhindert. Als die US-Regierung die Spitzeneinkommensteuersätze halbiert hat, hat das weder die Innovation noch das Wachstum angekurbelt. Auch die Wachstumsraten haben sich in dieser Zeit halbiert. Die niedrigeren Steuersätze sind sicher nicht die Ursache für das schlechte Wirtschaftswachstum, aber: Eine hohe Steuerprogression ist offensichtlich nicht schädlich für das Wachstum und das Senken der höchsten Einkommensteuersätze ist keine ausreichende Bedingung, um das Wachstum anzukurbeln. Die fehlende Variable hier ist die Bildung. Es ist wirklich die Stagnation der Bildungsinvestitionen in den letzten Jahrzehnten.
Erbvermögen umverteilen – eine mögliche Lösung?
Wir wissen also, dass die unteren 50 Prozent sowohl in Europa als auch in den USA wenig besitzen. Was für einen neuen Schritt zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit können wir uns also für die Zukunft vorstellen? Ein guter Weg wäre die Umverteilung von Erbe. In der ärmeren Hälfte der Bevölkerung, aber auch in den mittleren 40 Prozent, werden Kinder geboren, die großartige Ideen haben, um Firmen zu gründen und wirtschaftliche Initiativen zu ergreifen, aber sie haben fast kein Vermögen. Unter den Kindern der Top-10 gibt es einige, die nicht so großartige Ideen haben, aber viel Erbe erhalten. Die Umverteilung dieses Erbes wird es uns ermöglichen , uns in Richtung mehr Gleichheit und mehr Wohlstand zu bewegen.
Das sind keine einfachen Veränderungen, aber wenn wir nichts tun, bleibt die Konzentration des Reichtums sehr wahrscheinlich sehr groß. Seit zwei Jahrhunderten haben wir darauf gewartet, dass der Markt das Vermögen der ärmeren 50 Prozent von selbst vergrößert. Vielleicht sollten wir nicht noch einmal ein paar Jahrhunderte warten.
Demokratischer partizipativer Sozialismus, Mitsprache in den Betrieben
Hier kommt das Modell des demokratischen partizipativen Sozialismus ins Spiel: Das System der Arbeitnehmerrechte ausweiten, sodass Arbeitnehmervertreter ein Stimmrecht in den Vorständen von Unternehmen haben und Aktionäre nur fünfzig Prozent des Stimmrechts. Dadurch können die Arbeitnehmer die Mehrheit gegen die Aktionäre verschieben. Das ist immer noch Kapitalismus, aber eine ganz andere Art. Solche Modelle gibt es erfolgreich in Deutschland oder Schweden. Anfangs mochten die Aktionäre das im Deutschland der 1950er Jahre auch nicht, aber heute will es niemand ernsthaft ändern. Die Aktionäre in den USA, in Frankreich oder Großbritannien sind auch nicht scharf darauf – aber es wäre wirklich wünschenswert. Wir leben in sehr gebildeten Gesellschaften, in denen viele Menschen teilhaben und zu wirtschaftlichen Entscheidungen beitragen können.
Wir sollten die monarchistische Sicht der wirtschaftlichen Organisation überwinden, wo ein Einzelner weitreichende Entscheidungsmacht für Jahrzehnte auf sich konzentriert.
Was kann diese Veränderung bewirken?
Kommen wir zum letzten Teil: Was sind also die Kräfte – insbesondere auf internationaler Ebene – die diese Art von Transformation begünstigen? Es gibt zwei Kräfte, die eine sehr wichtige Rolle spielen: Eine ist die globale Erwärmung, die andere ist der Wettbewerb mit China.
Die globale Erwärmung und die Ungleichheit sind zwei sehr eng verwandte Themen. Die globalen CO2-Emissionen sind auf bestimmte Länder konzentriert. Innerhalb dieser Länder ist sie noch einmal sehr konzentriert. Nordamerika ist für 20 Prozent der globalen Kohlenstoffemissionen in den letzten zehn Jahren verantwortlich. Wenn man sich die sehr hohen Emissionen über 9,1 Tonnen pro Kopf ansieht, dann verursachen die USA davon 55 bis 60 Prozent. Auch innerhalb jedes einzelnen Landes gibt es große Ungleichheiten bei den CO2-Emissionen.
Wenn Sie heute zu den unteren 50 Prozent der Europäer gehören, liegen Ihre durchschnittlichen CO2-Emission bei etwa 5 Tonnen pro Kopf. Die sollten auf vier oder drei oder zwei Tonnen sinken. Wir können aber die enorme Ungleichheit bei den Kohlenstoffemissionen nicht ignorieren. Wenn wir die unteren 50 Prozent in Europa oder in den USA auffordern, ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren und ihnen enorme Energie- oder Kohlenstoffsteuern auferlegen, werden diese Leute “Nein” sagen – wie die Gelbwestenbewegung in Frankreich. Man muss also zuerst die Leute an der Spitze dazu bringen, ihren enormen Kohlenstoffausstoß zu reduzieren, was sie auch leicht tun können. Eine allgemeine CO2-Steuer und eine Reduktion der CO2-Emission aller Gruppen zu gleichen Anteilen, das wird nicht funktionieren.
Wenn wir die Probleme der globalen Erwärmung und der Umwelt angehen wollen, müssen wir auch die Herausforderungen der Ungleichheit angehen.
Das heißt nicht, dass die unteren 50 Prozent nicht auch ihren Lebensstil ändern müssen. Aber dann müssen sie zumindest wissen, dass von den Leuten an der Spitze viel größere Anstrengungen verlangt werden. Sonst wird niemand größere Änderungen akzeptieren. Die konkreten Folgen der globalen Erwärmung werden für einen großen Teil der Weltbevölkerung katastrophal, das wird auch die Wahrnehmung unseres Wirtschaftssystems verändern. Und das wird zu großen Veränderungen des Wirtschaftssystems führen.
Europas öffentliches Vermögen liegt unter Null
Kommen wir zum Wettbewerb mit China. Der Staatssozialismus oder der sehr zentralisierte Sozialismus in China wird mehr und mehr zu einer perfekten digitalen Diktatur. Das hat keine große Anziehungskraft, kaum jemand will, dass sein Land sich in Richtung China entwickelt. Das sind die Grenzen der chinesischen Macht. Aber China hat auch eine Reihe echter Stärken, sowohl wirtschaftlich als auch politisch.
China wird keine Schwierigkeiten haben, Europa und Nordamerika für die Klimakatastrophen verantwortlich zu machen, die trotz geringer Bevölkerungszahl (etwa 15 % der Weltbevölkerung für die Vereinigten Staaten, Kanada, Europa, Russland und Japan zusammengenommen) für fast 80 % der kumulierten Kohlenstoffemissionen seit Beginn des Industriezeitalters verantwortlich sind. Wenn wir keine ernsthafte Entschädigungspolitik für den Süden anbieten, wird es schwierig sein, dem etwas entgegen zu halten.
Die Regierung in China verfügt außerdem über enorme finanzielle Kapazitäten. In den USA, in Großbritannien und so gut wie allen westlichen Ländern ist der Anteil des öffentlichen Nettovermögens am nationalen Vermögen negativ oder bei Null. Öffentliche Vermögenswerte sind privatisiert worden und die Staatsverschuldung ist gestiegen. Wir haben mehr Staatsschulden als öffentliches Vermögen.
Ich kann nicht sagen, was der optimale Anteil des öffentlichen Nettovermögens am nationalen Vermögen ist, aber wenn es ein negatives Niveau erreicht hat, schränkt das die Fähigkeit der Regierung stark ein, in die Umwelt, in Bildung und die Energiewende zu investieren. Auch in China ist der Anteil des öffentlichen Nettovermögens seit den 1980er Jahren gesunken – aufgrund der Privatisierung. Im Großen und Ganzen war das erfolgreich. Aber in China hat sich der Anteil des öffentlichen Vermögens bei etwa 30 Prozent stabilisiert – seit der Finanzkrise 2008. Der chinesische Staat hat damals sein Privatisierungsprogramm beendet. Diese 30 Prozent öffentlicher Anteil am Gesamtvermögen sind der Durchschnitt: Im Wohnungssektor sind es 10 Prozent, dort wurden 90 Prozent privatisiert. Im Unternehmenssektor sind es 50 Prozent. Wir sprechen also vor allem über den Unternehmenssektor, der strategisch sehr wichtig ist. Hier liegt der Anteil an öffentlichem Eigentum in China bei 50 Prozent, im Rest der Welt ist er in den letzten 10 Jahren weiter zurückgegangen, in China ist er ein bisschen gewachsen. Das chinesische System hat also trotz seiner Probleme auch große Stärken, insbesondere in Bezug auf das Vermögen des Staates. Wir sollten das ernst nehmen.
Systematische Sanktionen gegen Oligarchen – samt weltweitem Finanzregister
Ich würde sagen: Die richtige Antwort auf China und auch Russland und auf alle Autokratien der Welt ist es, die langfristige Bewegung hin zu mehr Gleichheit und globaler Gerechtigkeit fortzusetzen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In der aktuellen öffentlichen Diskussion konzentrieren wir uns stark auf allgemeine Handelssanktionen oder Finanzsanktionen wie den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System, die alle Firmen und Beschäftigte in Russland gleich treffen werden. Ich denke, wir sollten unsere Sanktionen auf die Oligarchen konzentrieren. Es waren diese Einzelpersonen, die viel von Putins Regime profitiert haben. Wir haben jetzt zwar mit Sanktionen für einen kleinen Teil der besonders Putin-nahen Oligarchen angefangen, aber das ist zu wenig. Diese Sanktionen können sie. über Treunhänder umgehen.
Wir bräuchten viel systematischere Sanktionen gegen alle Oligarchen. Das bedeutet auch, dass wir mehr Transparenz in der Finanzwelt brauchen, zum Beispiel ein globales Finanzregister (“Global Financial Registry”).
Das ist ohnehin sehr wichtig, um die weltweite Korruption zu bekämpfen. Wenn wir die Sanktionen auf alle Russen mit einem Vermögen über 10 Millionen Dollar richten, wären das etwa 20.000 russische Einzelpersonen, wie wir aus der World Inequality Datenbank wissen. Deren Vermögenswerte sollte man vorsorglich einfrieren und darauf eine Steuer von beispielsweise 10 oder 20 Prozent erheben. Das hätte eine stärkere Wirkung als die allgemeinen Sanktionen nach 2014 gegen Russland und die Sanktionen gegen ein paar wenige Oligarchen.
Viele Oligarchen besitzen einen großen Teil ihres Immobilien- und Finanzvermögens in westlichen Ländern, in London, in Paris oder in New York. Wir sind Teil des Systems und es ist eine gewisse Heuchelei von uns dabei. Wenn wir wollen, dass unsere Botschaft über Demokratie und Gerechtigkeit weltweit glaubwürdig ist, brauchen wir ein System von Sanktionen, das systematisch auf die vermögenden Oligarchen abzielt. Dieses System könnte auch in Zukunft auf die rund 200.000 Chinesen angewendet werden, die mehr als 10 Millionen Euro besitzen.
Noch wichtiger ist in gewisser Weise die Steuerfrage und die Besteuerung multinationaler Konzerne. Letztes Jahr gab es eine Reform, der Mindeststeuersatz von 15 Prozent auf Unternehmensgewinne wurde beschlossen. Der ist meiner Meinung nach zu niedrig, aber was noch problematischer ist: Es ist eine reine Nord-Nord-Regelung. Die reichen Länder teilen sich die zusätzlichen Steuereinnahmen aus den Steueroasen auf, die Länder des Südens bekommen überhaupt nichts davon. Im nächsten Schritt müssen wir daher über eine internationale Steuerreform nachdenken, bei der wir einen Teil der globalen Steuereinnahmen von den reichsten Wirtschaftsakteuren der Welt, den multinationalen Konzernen und den Milliardären, mit allen Ländern entsprechend ihrer Bevölkerungszahl teilen. Sonst sehen wir dabei zu, wie China für den Investitionsbedarf in Mali, Afghanistan oder Subsahara-Afrika zahlt, das ist nicht gut. Wir brauchen darauf eine glaubwürdige Antwort und das wäre der Weg in Richtung mehr globaler Gerechtigkeit.
wir sollten damit gleich selber bei uns anfangen ,was wäre dann unsere Spö unser eigenen Politiker müssten verhungern wenn sie nach leistung bezahlt werden würden . Max Politiker und Top Experten sollten max 3000 euro verdienen inkl Sachbezüge.
Haben Sie den Artikel gelesen und verstanden? Piketty argumentiert hier nicht nach dem “Leistungsprinzip”, sondern nach volkswirtschaftlichen Kriterien.
Wie wäre denn auch die Leistung eines Abramovich, Sigi Wolf und Consorten so viel mehr wert als die der anderen?