Die Truppen des US-Militärs sind aus Afghanistan abgezogen. Mit ihnen verlassen auch die Militärs der NATO und private Sicherheitsfirmen das Land. Ein afghanischer Verhandler nennt das Vorgehen „das Verantwortungsloseste, was die USA ihren afghanischen Partnern antun konnten.“ Afghanistan-Experte Martin Ruttig hat für Kontrast analysiert, was der Abzug für das unsicherste Land der Welt bedeutet.
“Das Verantwortungsloseste, was die USA ihren afghanischen Partnern antun konnten”
Zuletzt hatten die USA nach eigenen Angaben noch 2.500 Soldaten in Afghanistan. Dazu kommen, wie die New York Times Mitte März 2021 enthüllte, weitere 1.000 geheime Angehörige von Spezialeinheiten, die zum Teil der CIA unterstellt seien, sowie nach letzten Angaben etwa 7.500 NATO- und andere Verbündete, darunter bis zu 1.300 Bundeswehrsoldaten. Eine genaue Zahl, wie viele sich wirklich in Afghanistan aufhielten, gab die deutsche Bundesregierung offiziell nicht bekannt. Abgezogen werden mussten laut separatem US-Taliban-Abkommen vom Februar 2020 auch die etwa 13.500 ausländischen privaten Sicherheitsdienstleister.
Während Afghanistans Präsident Aschraf Ghani in den Monaten davor noch versuchte, optimistisch zu klingen, und behauptete, die eigenen Streitkräfte seien auch allein in der Lage, das Land zu schützen, fielen inoffizielle Reaktionen in Kabul weitaus heftiger aus.
Ein afghanischer Verhandler mit den Taliban bezeichnete Bidens Schritt als „das Verantwortungsloseste, was die USA ihren afghanischen Partnern antun konnten.“
Der Kabuler Journalist Bilal Sarwary zitierte einen führenden afghanischen Terrorismusbekämpfer, der sagte, „Betrug ist das einzige Wort, das ich dafür verwenden kann.“
Die NATO-„Partner“, die sich von der Biden-Administration wieder mehr Konsultation und Augenhöhe versprochen haben, konnten Washingtons Berg-und-Tal-Fahrt nur folgen und mussten entsprechend umplanen. Auch das deutsche Bundeswehrkontingent in Afghanistan von bis zu 1.300 Soldaten und Soldatinnen musste jetzt schneller abziehen. Denn logistisch ist man teilweise von den US-Truppen abhängig. Dass es bei dem Bundeswehreinsatz schon lange nicht mehr um die Afghan:innen geht, geht auch aus dem Kommentar von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hervor, die kommentierte: „Je kürzer die Verweildauer jetzt in Afghanistan ist, desto geringer möglicherweise auch die Gefährdung durch die Taliban.“
Endspiel einer gescheiterten Intervention
Damit endet nach fast 20 Jahren die gescheiterte US-Intervention in Afghanistan nach den Anschlägen des 11. September 2001. Mit der Ankündigung, alle Truppen bedingungslos abzuziehen, schlossen die USA dieses Kapitel für sich und ihre Verbündeten. Afghanistan überlassen sie sich selbst, oder genauer gesagt: Den bewaffneten Fraktionen, von denen die Taliban nur eine sind. Afghanistans Regierung verfügt noch über etwa 350.000 Soldaten, Polizisten und Angehörige oft halbkrimineller Milizen – von denen viele weniger der Regierung, sondern Fraktionschefs gegenüber loyal sind.
Jetzt wird in Afghanistan die Macht neu verteilt – nur dass die USA und der Westen insgesamt darauf nicht mehr viel Einfluss haben werden.
Taliban verweigerten Teilnahme an Friedenskonferenz
Die Taliban haben im Frühjahr ihre Teilnahme an der von den USA angeregten Afghanistan-Friedenskonferenz abgesagt, die am 24. April in Istanbul hätte beginnen sollen. Auf zehn Tage Dauer veranschlagt, sollte dort ein Rahmenabkommen unterschrieben werden, das den Kurs zu einer neuen Regierung und damit einem Ende des seit 40 Jahren andauernden Krieges in dem zentralasiatischen Land absteckt. Die Idee dazu kam von der neuen Biden-Administration, die das Ende des militärischen US-Engagements in Afghanistan beschleunigen wollte. Auch der Entwurf des Rahmenabkommens stammte aus Washingtoner Feder.
Taliban-Sprecher Muhammad Naim tweetete aber nur lakonisch: „So lange nicht alle ausländischen Streitkräfte völlig aus unserem Heimatland abgezogen sind, wird das Islamische Emirat“ – so die Selbstbezeichnung der Taliban – „an keiner Konferenz teilnehmen, die Beschlüsse über Afghanistan trifft.“
Mit ihrer Absage gaben die Taliban zu verstehen, dass es einen Friedensschluss und eine Machtteilung nur zu ihren Bedingungen und nach ihrem Zeitplan geben wird. Diese Position der Stärke entsprang ihrer militärischen Kontrolle über damals die Hälfte des Landesterritoriums sowie fast die Hälfte der Bevölkerung sowie ihrer politisch-diplomatischen Stärkung durch die Separatverhandlungen mit Washington.
Die Zukunft ist ungewiss
William Maley, Afghanistan-Experte an Australiens Nationaluniversität in Canberra, erklärte den Friedensprozess für tot. Andrew Watkins, Analyst des renommierten Think-Tanks International Crisis Group in Kabul, rechnete mit einer „ungebremsten Kampfsaison“, Taliban-Angriffen auf Provinzhauptstädte und die abziehenden ausländischen Truppen.
Die Taliban machten gerade in den letzten Wochen wiederholt klar, was sie von demokratischen Verhältnissen halten. Auf ihrer Webseite schrieben sie, die Demokratie sei „keine unfehlbare Lösung für alle Probleme“, Afghanistan besäße ein „besseres Regierungsmodell“. Ihr früherer Sprecher und Mitglied ihres Verhandlungsteams in Doha, Sabihullah Mudschahed, sagte, die Taliban bevorzugten weiterhin ein islamisches Emirat. Die Taliban stellten auch die für Istanbul von den USA vorgeschlagene 50:50-Machtteilung mit Kabul infrage. Aber auch die Regierung besteht zu großen Teilen aus Islamisten, die sich ideologisch nicht sehr von den Taliban unterscheiden.
Thomas Ruttig ist Mitbegründer und Senior Analyst der Recherche-Organisation Afghanistan Analysts Network (AAN). Seit seinem Abschluss in Afghanistan-Wissenschaften an der Humboldt Universität Berlin lebte und arbeitete er seither insgesamt mehr als 13 Jahre dort. U.a. als Mitarbeiter der DDR-, und der deutschen Botschaft, der UNO und als stellv. EU-Sondergesandter. Ruttig spricht Pashto und Dari. Für die TAZ ebenso wie für die Zeit ist er als freischaffender Autor tätig. Auf seinem Blog schreibt er regelmäßig über die Lage im Land.
aber wieso erwarten eigentlich alle, dass die USA alle möglichen Probleme zu richten haben? Wenigstens sieht man daran, dass es einen verlängerten Arm der Politik des Donald Trump gibt