Fünf Jahre lang arbeitet der Regisseur Constantin Wulff an ” Für die Vielen”, einem Dokumentar-Film über die Arbeiterkammer. In diesen fünf Jahren hat sich in der österreichischen Politik viel verändert: Von Türkis-Blau über Ibiza bis zu Türkis-Grün mit ÖVP-Korruptionsaffären, 12 Stunden-Tag und Kürzung der Mindestsicherung. Nicht nur einmal war Wulff bei den Dreharbeiten berührt und erschüttert von den Geschichten der Menschen, die Hilfe in der Rechtsberatung gesucht haben. Was er bei den Dreharbeiten in der AK erlebt hat und warum man „den Stellenwert der Arbeiterkammer als Schutzschild für die Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen gar nicht hoch genug einschätzen“ kann, erzählt er im Film – und Kontrast.at im Interview.
“Seit einem Monat haben sie mich nicht bezahlt.” – “Nichs?” – “Gar nichts!” mit dieser Szene aus der Rechtsberatung der Arbeiterkammer Wien beginnt der Dokumentarfilm FÜR DIE VIELEN – DIE ARBEITERKAMMER WIEN. In engem Takt folgen ähnliche Gespräche: “November, Oktober und Dezember wurden nicht bezahlt, jedes Mal wurde gesagt nächste Woche, nächstes Monat, aber bis jetzt habe ich kein Geld”, klagt ein Mann. Eine Gruppe Bauarbeiter sitzt mit dem Anwalt der Arbeiterkammer, sie sind seit 5 Monaten nicht bezahlt worden – die Klage wird gemeinsam vorbereitet. Ein Paketzusteller um die 50 ist mit seinem Sohn in die Rechtsberatung gekommen. 40 Stunden hat er gerarbeitet, 630 Euro bekam er dafür auf sein Konto überwiesen, angemeldet war er nur für 20 Stunden – Lohnabrechnung hat er nie bekommen. Eine Reinigungskraft wird nach 25 Jahren von ihrem Arbeitgeber gedrängt, ihre Kündigung zu unterschreiben – die Rechtsberaterin in der AK rät, zunächst nichts zu unterschreiben. “Aber dann wird er zornig”, fürchtet sich die Putzfrau unter Tränen.
“Es ist ja wurscht, ob der Arbeitgeber zornig ist – es gibt eine Gesetzeslage, die besagt, was man machen kann und was nicht. Daran muss sich auch ihr Arbeitgeber halten”, beruhigt die AK-Juristin.
“Man kann den Stellenwert der AK als Schutzschild gar nicht hoch genug einschätzen”
Jeder einzelne Fall berührt, die Existenznöte der Menschen sind spürbar – aber auch die Angst vor den Arbeitgebern. In ihrer Dichte verraten die Fälle viel über den Arbeitsmarkt, speziell im Niedriglohn-Bereich und über ein Machtungleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aber auch über die Ruhe und Gegenmacht, die die Arbeiterkammer als einzigartige Institution vermittelt. “Dass es solche Missstände am Arbeitsmarkt gibt, das war mir vorher in dieser Form nicht bewusst. Ich habe insgesamt mehr als ein Jahr lang in der Arbeiterkammer verbracht und war bei unzähligen Beratungen dabei. Immer wieder war ich wirklich berührt und teilweise erschüttert von den Geschichten, die ich dort gehört und gesehen habe”, sagt der Regisseur Contantin Wulff. 150 Stunden Material hat Wulff gedreht, das heißt, den Arbeits- und Beratungsalltag in der AK mitgefilmt. Daraus sind gute zwei Stunden Film geworden. Sein Fazit: “Man kann den Stellenwert der Arbeiterkammer als Schutzschild für die Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen gar nicht hoch genug einschätzen.”
Die Arbeiterkammer setzt sich für die Rechte der ArbeitnehmerInnen ein. Dass sie überhaupt Rechte haben, bezweifeln aber viele ihrer Klienten zumindest zu Beginn der Kontaktaufnahme. Sie sind es nicht gewohnt, von einem Anwalt beraten oder in ihren Nöten gegen mächtige Firmen unterstützt zu werden. Vor allem dann nicht, wenn sie kaum Deutsch sprechen.
Der Film ist im Stil des Direct Cinema gedreht, einer Methode der teilnehmenden Beobachtung, die ohne gestellte Szenen, erklärende Kommentare oder Interviews auskommt – gefilmt wird, was am Schauplatz passiert. Die Kamera bleibt den gesamten Film über nur in der Arbeiterkammer Wien, dem Haus in der Prinz-Eugen-Straße im 4. Bezirk mit 700 Mitarbeiter:innen. Neben den Szenen in der Rechtsberatung lässt sich im Film auch beobachten, was sonst noch so in der AK passiert: Besprechungen des Managements, der Presseabteilung und eine Einladung des Starkökonomen und Ungleichheitsforschers Thomas Piketty sind zu sehen. Das sind Szenen zwischen banalem Büro-Alltag, Besprechungsfloskeln und sozialem Aufbruch. Wulff spricht von einem Spirit, der lautet “Wir wollen die Welt verbessern!”. Den spürt man in den Mühen des Arbeitsalltags in der AK doch immer wieder durch.
Der Film zeigt, wo wir gesellschaftlich stehen, was Ausbeutung ist und was Existenzängste sind. Er zeigt aber in seiner filmischen Ruhe und Geduld auch die Macht einer Institution, die ein Anwalt und eine Stimme der Vielen ist. Viele sagen mir, “dass man den Film mit einem guten Gefühl verlässt”, sagt Wulff.
Man versteht danach auch ein wenig besser, warum den Neoliberalen und Unternehmerverbänden ausgerechnet die Arbeiterkammer ein Dorn im Auge ist.
Interview mit Regisseur Constantin Wulff
Wie kommt man auf die Idee, einen Film über die AK zu machen?
Wulff: Als Dokumentarfilmer interessieren mich speziell gesellschaftlich relevante Institutionen. Ich habe bereits Dokumentarfilme über die Wiener Semmelweisklinik, eine Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tulln oder als Co-Autor über das Kunsthistorische Museum gemacht.
Auf die Arbeiterkammer hat mich meine Frau hingewiesen, die meinte, dass das für einen Film ein spannender Ort ist. Als Türkis-Blau unter Kurz/Strache die Regierungskoalition gebildet hat, bin ich noch stärker auf die AK aufmerksam geworden. Gesellschaftspolitisch habe ich diese Zeit als sehr bedrückend empfunden, weil diese rechte und populistische Politik der Regierung so dominant war. Aus meiner Sicht waren es damals vor allem die Gewerkschaften und eben die Arbeiterkammer, die in der politischen Auseinandersetzung ein wahrnehmbares Gegengewicht gebildet haben.
So hat die AK damals ganz unpolemisch Sachpolitik gemacht und ganz präzise die ungerechte und undemokratische Praxis der Regierung benannt.
Bei der Regierung war die AK damals nicht gut angeschrieben?
Wulff: Als ich mit dem Film angefangen habe, hat die Türkis-Blaue Regierung ganz offen auf die Expertise der Arbeiterkammer verzichtet. Das Ziel war damals, vieles an der Sozialpartnerschaft vorbei umzusetzen und den Sozialstaat insgesamt in Frage zu stellen. Das war das politische Programm der Regierung, dem ich nicht zustimmen kann. Aus meiner Sicht ist es angesichts der globalen Krisen viel sinnvoller, die Sozialpartnerschaft und den Sozialstaat in Österreich weiterhin als wichtigen Bestandteil unserer Demokratie zu sehen und bestmöglich zu gestalten.
Im Laufe der monatelangen Dreharbeiten, die im Herbst 2019 begonnen haben, hat sich in Österreich politisch bekanntermaßen sehr viel verändert. Und mit der Pandemie war die Expertise der Arbeiterkammer und das Funktionieren des Sozialstaats dann plötzlich auch von der Regierung wieder stark gefragt.
Wie ist es Ihnen gelungen, einen so direkten Zugang zur Arbeiterkammer, den Beratungsgesprächen, aber auch den Teamsitzungen zu bekommen?
Wulff: Wenn man diese direkte Art des Filmemachens wählt, braucht es vor allem sehr viel Zeit. Wie bei all meinen Filmen beginne ich mit einer ausführlichen Recherche, damit ich die Leute kennenlerne und vor allem die Leute mich kennenlernen. Meine Dokumentarfilme stehen in der Tradition des Direct Cinema, das heißt in meinen Filmen gibt es keine Interviews, keinen Off-Kommentar, keine dazugelegte Musik. Ich beobachte, was vor Ort geschieht und im Film setze ich diese Beobachtungen möglichst aussagekräftig zueinander in Beziehung. Aus diesem Grund kann ich mich danach auch nicht heraus schummeln wie in einer TV-Reportage mit einem Text aus dem Off oder einem Interview, in dem alles zusammengefasst wird. Diese Art des Filmemachens funktioniert aber nur, wenn die Gefilmten Vertrauen haben zum Filmteam, das hinter der Kamera steht. Dieses Vertrauen gewinnt man, in dem man offen legt, wie man arbeitet und sich Zeit nimmt für die Menschen.
Insgesamt habe ich bei meinem Porträt über die Wiener AK 150 Stunden Material gedreht.
Die Szenen in der Rechtsberatung sind zum Teil wirklich erschütternd …
Wulff: Dass es solche Missstände am Arbeitsmarkt gibt, das war mir vorher in dieser Form nicht bewusst. Ich habe insgesamt mehr als ein Jahr lang in der Arbeiterkammer verbracht und war bei unzähligen Beratungen dabei. Immer wieder war ich wirklich berührt und teilweise erschüttert von den Geschichten, die ich dort gehört und gesehen habe.
Man kann den Stellenwert der Arbeiterkammer als Schutzschild für die Arbeiternehmer und Arbeitnehmerinnen gar nicht hoch genug einschätzen.
Und insgesamt ist sie enorm wichtig für einen funktionierenden Arbeitsmarkt.
Aus Sicht des Films wusste ich aber von Anfang an, dass ich den Film nicht auf die Beratungen beschränken wollte, weil die Arbeiterkammer eben viel mehr ist als eine bloße Servicestelle für juristische Beratungen aller Art. Ich wollte in meinem Film stets die unterschiedlichen Arbeitsebenen darstellen und in Beziehung setzen – und viele Bereiche wie die Wirtschaftsforschung, Sozialgeschichte, Kommunikation oder Bildung, die kommen ja auch im Film vor.
Viele Probleme, die in der Beratung zur Sprache kommen, haben ihren Ursprung ganz woanders und die Arbeiterkammer arbeitet an diesen Ursachen und versucht, auf vielen Ebenen dafür politische Lösungen zu finden.
Ich habe mir während meiner Zeit in der Arbeiterkammer oft gedacht, dass die AK ein Ort ist, der ganz wichtig ist für das Funktionieren unserer Demokratie. Dort gibt es spürbar bei vielen diesen Spirit “Wir wollen die Welt verbessern!”. Natürlich verliert sich dieser Spirit in den Mühen des Alltags immer wieder, aber in vielen Momenten und Begegnungen habe ich ihn wahrnehmen können. Und das ist schon erstaunlich angesichts der Geschichte und Größe dieser Institution – allein im Haupthaus in der Prinz-Eugen-Straße arbeiten über 700 Leute.
Bei den vielen Vorführungen des Films, die es schon gab, ist dieser Spirit auch vom Publikum wahrgenommen worden und immer wieder wurde gesagt, dass man den Film mit einem guten Gefühl verlässt.
Das freut mich natürlich besonders, denn obwohl die einzelnen Schicksale im Film oft dramatisch und die gesellschaftspolitischen Bedingungen nicht lustig sind, vermittelt der Film doch einen erstaunlichen Optimismus im Sinne von “Wir können die Welt zum Besseren verändern”.
Auch der französische Vermögens- und Ungelichheitsforscher Thomas Piketty kommt prominent im Film vor. Warum?
Wulff: Das ist richtig. Das hat mit der Grundaussage des Films zu tun und wie ich die Arbeiterkammer durch meine filmische Auseinandersetzung erlebt habe. Im Zentrum der Arbeit des französischen Wirtschaftsforschers Piketty geht es ja immer wieder um die Frage der Ungleichheit: Warum gibt es überhaupt Arme und Reiche? Warum gibt es Benachteiligte und Bevorzugte? Ist die enorme Ungleichheit in unserer Gesellschaft vom Himmel gefallen oder ist sie politisch gewollt? Und als die Arbeiterkammer Piketty zur Präsentation seines neuen Buchs eingeladen hat, war dies für mich eine gute Gelegenheit, all diese Fragestellungen in den Film zu bringen.
In vielen Szenen des Films wird dies dann auch thematisiert und ich habe den Eindruck, dass Piketty und die Arbeiterkammer in ihrer Ideenwelt sehr nahe beieinander liegen. Außerdem mag ich es grundsätzlich, wenn Wissenschaftler nicht nur im Elfenbeinturm arbeiten, sondern sich auch in öffentliche Debatten einmischen, Kommentare schreiben und Aufklärungsarbeit leisten. Da sehe ich auch Parallelen zu einigen Experten und Expertinnen der Arbeiterkammer, die sich regelmäßig zu Wort melden. Exemplarisch dafür steht für mich Markus Marterbauer von der Wiener AK, der für den Film ebenfalls eine wichtige Figur ist. Für eine demokratische Gesellschaft sind solche Persönlichkeiten sehr wichtig, die bereichern die öffentliche Debatte ungemein.
Die Pandemie spielt im Film eine große Rolle …
Wulff: Ja, das stimmt. Und die Pandemie hat das Konzept des Films ja auch stark verändert. Die Dreharbeiten haben im Herbst 2019 begonnen und da war von Corona noch keine Rede. Da ich eine offene filmische Form habe, die auch das Unvorhergesehene nicht ausklammert, ist die Pandemie dann automatisch Teil des Films geworden – so wie sie Teil des Lebens von uns allen geworden ist. Ursprünglich war eine Drehdauer von einigen Monaten geplant, durch die Pandemie sind es dann eineinhalb Jahre geworden.
Der Film endet mit Betroffenen von Lohn- und Sozialdumping beim Maskenhersteller Hygiene Austria, die Hilfe bei der AK suchen …
Wulff: Diese Szene ist mir sehr wichtig. Aus meiner Sicht steht sie exemplarisch dafür, wie sich durch die Pandemie der Arbeitsmarkt nochmals zugespitzt hat. Bei dem Fall „Hygiene Austria“ wird rückblickend nochmals ganz deutlich, wie von Anfang an geplant wurde, die ArbeitnehmerInnen um ihren Lohn und ihre Rechte zu betrügen.
Das Grauenhafte an dem Fall ist, dass es gezielt die Schwächsten und Ärmsten getroffen hat, die durch die Not in der Pandemie bewusst um ihre Rechte und ihr Geld betrogen werden.
Ich wollte die Szene deshalb ans Ende des Films setzen, weil es eben auch zeigt, wen die Gesellschaft arbeits- und sozialrechtlich in Krisensituationen besonders schützen muss. An der Entscheidung, wie das Ende eines Film aussieht, kann man die Intentionen des Films ganz gut ablesen.
Ich habe gehört, als der Film in Berlin auf der Berlinale gezeigt wurde, hat das für neidvolles Staunen gesorgt, weil es so eine nationale Institution für die Rechte der ArbeitnehmerInnen in Deutschland nicht gibt …
Wulff: Man muss sich dies immer wieder vor Augen führen: Eine Arbeiterkammer gibt es nur in Österreich. Der Film ist jetzt schon häufiger international gezeigt worden und für ein nicht-österreichisches Publikum ist es völlig überraschend und neu, was sie da sehen. Umgekehrt gibt es auch in Österreich dieses Wissen nicht, denn viele glauben, dass es eine Arbeiterkammer überall auf der Welt gibt.
Aber eine Interessensvertretung für ArbeitnehmerInnen in dieser Form, dieser Qualität und der politischen Vernetztheit – das gibt es wirklich in keinem anderen Land auf der Welt.
Was mir bei den Vorführungen in Deutschland deshalb gut gefallen hat, ist, dass der Film durchwegs sehr politisch diskutiert wurde und immer wieder die Frage aufgetaucht ist: Warum haben wir denn keine Arbeiterkammer hier?