Die Reallöhne könnten in der EU heuer um 2,9 Prozent sinken. Dieser Rückgang ist „beispiellos“, wie die Politikwissenschaftler Malte Lübker und Thilo Janssen vom deutschen Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung (WSI) schreiben. Während die einen mit niedrigen Löhnen und den hohen Preisen zu kämpfen haben, streifen andere hohe Gewinne ein. Hohe Lohnforderungen und ein „Appell an die Unternehmen, ‘Gewinnzurückhaltung’ zu praktizieren“, wären demnach notwendig, um die Last gerechter zu verteilen. Der Artikel erschien ursprünglich auf Socialeurope.eu auf Englisch. Übersetzt von Labinota Fübi.
Reallöhne könnten in der EU heuer um 2,9 Prozent sinken
In diesem Jahr werden die Arbeitnehmer*innen in ganz Europa wahrscheinlich einen erheblichen Rückgang der Kaufkraft ihrer Löhne erleiden. Das gilt für jedes Land der Europäischen Union, mit einem durchschnittlich erwarteten Rückgang der Reallöhne von 2,9 Prozent. Die Tiefe und das Ausmaß dieses Lohnrückgangs sind beispiellos. Dies sind auch nicht die Vorhersagen von Schwarzmalern, sondern die offiziellen Prognosen der Europäischen Kommission.
Das nachlassende Wachstum und die steigenden Preise für Energie, Lebensmittel und andere lebenswichtige Güter werden häufig als Erklärung für den Abwärtstrend angeführt.
Lohn-Preis-Spirale?
Viele Medienkommentare lassen die Gefahr einer eskalierenden Lohn-Preis-Spirale in den Vordergrund treten. Laut orthodoxen Ökonomen steht die Gefahr einer „Überhitzung“ der Löhne vor der Tür und muss verhindert werden. Diese Warnungen passen jedoch nicht zu dem anhaltend gedämpften Wachstum der Nominallöhne, das in der Realwirtschaft zu beobachten ist.
Die Nominallöhne stiegen 2021 nur um 4,2 Prozent und das Lohnwachstum dürfte sich nach Angaben der Kommission bis 2022 auf 3,7 Prozent verlangsamen. Der vorausschauende Lohn-Tracker der Europäischen Zentralbank für den Euroraum deutet auf ein noch geringeres Lohnwachstum von rund 3 Prozent in diesem Jahr hin. Dies sei mit Preisstabilität vereinbar, wenn man die langfristigen Trends bei der Arbeitsproduktivität und das Inflationsziel der EZB berücksichtigt – sagte Philip Lane, Mitglied des Direktoriums der EZB, Anfang dieses Jahres.
Steigende Preise führen zu steigenden Gewinnen – Löhne bleiben zurück
Inmitten der stark steigenden Lebenshaltungskosten wurde den vielen Unternehmen, die hohe Gewinne erzielen und Dividenden in Milliardenhöhe ausschütten, viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Die Arbeiter*innen können den Preis ihrer Arbeit nicht einseitig erhöhen, aber viele Unternehmen haben genau das mit ihren Produkten getan.
Nehmen wir als Beispiel die deutsche Automobilindustrie, der es trotz Störungen in der Lieferkette gut geht. Liest man die jüngsten Unternehmensberichte der drei führenden deutschen Hersteller, so zeigt sich die „verbesserte Preispositionierung“ als wesentlicher Grund für das letzte Rekordjahr der Gewinne. Für die Aktionäre ist das eine gute Nachricht. Für die Öffentlichkeit ist es eine entstehende Inflation.
In der gesamten Wirtschaft summieren sich höhere Preise im Autohaus und an der Supermarktkasse, ebenso wie Dividenden auf den Maklerkonten der Aktionäre.
Getarnt durch die wirtschaftlichen Umwälzungen könnte das laufende Jahr daher durch eine erhebliche Einkommensumverteilung zulasten der Arbeitnehmer*innen gekennzeichnet sein. Die Kommission geht davon aus, dass der Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung – der Anteil der Arbeitskräfte – im Jahr 2022 sinken wird. Umgekehrt wird prognostiziert, dass der Anteil der Geschäfts- und Immobilienerträge steigen wird. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Gewinnbeteiligung während einer Krise in der Regel sinkt.
Dieses Mal ist es anders
Mit anderen Worten, diese Krise ist anders. Werden die Arbeiter*innen die wirtschaftliche Rechnung für Wladimir Putins Krieg bezahlen?
Um dem entgegenzuwirken, sind hohe Lohnforderungen in Branchen mit guten Gewinnen gerechtfertigt. Sie können auch von den betroffenen Unternehmen erfüllt werden.
Diese optimistische Einschätzung wird durch wirtschaftliche Eckdaten gestützt. Nach vorläufigen Schätzungen von Eurostat war das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2022 in der EU um 4 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. In ihrem jüngsten Ausblick für Mitte Juli prognostizierte die Kommission weiterhin ein BIP-Wachstum von durchschnittlich 2,7 % für das Jahr (2,6 % für den Euroraum).
Hypothetisch gefragt: Wenn das Ziel wäre, die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit stabil zu halten – wobei Produktivitätswachstum und Inflation als gegeben angesehen werden – wie stark müssten die Löhne steigen? Lassen Sie uns um der Argumentation willen eine Position annehmen, die oft von Arbeitgeber*innen vertreten wird. Und zwar, dass auch sie unter steigenden Weltmarktpreisen für fossile Brennstoffe und viele andere Rohstoffe leiden, die sie verwenden, was bis zu einem gewissen Punkt auch stimmt. Bei der Definition von „Inflation“ im WSI-Bericht haben wir also nicht nur den Verbraucherpreisindex verwendet, sondern auch Veränderungen des BIP-Deflators (der die Auswirkungen der Importpreise ausschließt).
Sowohl die Arbeitsproduktivität als auch der BIP-Deflator beziehen sich auf die inländische Wertschöpfung und bestimmen somit die Fähigkeit der Unternehmen, höhere (nominale) Löhne zu zahlen. Durch die Kombination der Maßnahmen und die Verwendung von Daten aus der Prognose der Kommission berechneten wir eine „verteilungsneutrale Marge für das Lohnwachstum“. Dies ist eine Schätzung der Wachstumsrate für Nominallöhne, die die Anteile von Löhnen und Gewinnen an der inländischen Wertschöpfung konstant hält – mit anderen Worten, die funktionale Einkommensverteilung stabilisiert.
Das Ergebnis ist frappierend: Im laufenden Jahr müssten die Nominallöhne EU-weit um durchschnittlich etwa 6 Prozent steigen, um die Lohnquote unverändert zu halten, ohne die Gewinnbeteiligung zu untergraben.
Wir argumentieren hier nur, dass ein Lohnplus von 6 Prozent aus makroökonomischer Sicht in einigen Sektoren möglich ist – ohne zu einem Gewinnrückgang zu führen.
Die Last teilen
Der dominante Diskurs über die Inflation ignoriert weitgehend die Verteilungswirkung der Krise. Doch sinkende Reallöhne und wachsende Profite können nicht das Modell für die Verteilung der wirtschaftlichen Lasten des Krieges in der Ukraine sein. Wenn viele Kommentatoren versuchen, die Verantwortung für die Inflation auf die Arbeitnehmer:innen abzuwälzen, und die Gewerkschaften auffordern, im Namen eines „übergeordneten allgemeinen Interesses“ Lohnzurückhaltung zu üben, sind sie auf dem Holzweg.
Was in der Debatte weitgehend fehlt – und angemessener wäre – ist ein Appell an die Unternehmen, „Gewinnzurückhaltung“ zu praktizieren. Das Treiben der Preise, auch wenn es euphemistisch als „verbesserte Preispositionierung“ umformuliert wird, sollte nicht als Beweis für Management-Exzellenz angesehen werden.
Tarifverhandlungen dienen nicht der Maximierung des Shareholder-Value. Sie diktieren auch nicht die Geldpolitik. Viele Jahre nach der globalen Finanzkrise war das Risiko einer deflationären Spirale die größte monetäre Sorge. Wie die EZB immer wieder betonte, hätte ein stärkeres Lohnwachstum dazu beigetragen, sie abzuwehren. Doch nur wenige Arbeitgeber:innen haben diesen Hinweis beherzigt und sich auf höhere Lohnabschlüsse eingelassen.
Jetzt halten Gewerkschaften wie die deutsche IG Metall an ihrer langfristigen Politik fest und beziehen die von der EZB angestrebte Inflationsrate von 2 % (und nicht die tatsächliche Rate) in ihre Lohnforderungen ein. Dennoch sehen sie sich einer Gegenreaktion ausgesetzt, weil sie angeblich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt haben.
Tarifverhandlungen dienen anderen, legitimen Zwecken. Verteilungsziele stehen im Mittelpunkt vieler Lohnverhandlungen und sind im heutigen Kontext noch wichtiger. Wenn die Gewerkschaften sich nicht um die Interessen der Arbeitnehmer:innen kümmern und die Verteilung auf die Tagesordnung setzen, wer dann?
Natürlich können Tarifverhandlungen allein die Krise der Lebenshaltungskosten nicht lösen. Dafür brauchen wir eine entschlossene Antwort der europäischen Wohlfahrtsstaaten. Aber um zu vermeiden, dass Arbeiter:innen allein die Rechnung für Putins Krieg bezahlen, sind faire Lohnabschlüsse erforderlich.
Das zu erreichen, ist natürlich keine leichte Aufgabe für die Gewerkschaften in ganz Europa in den aktuellen Turbulenzen.
Zu den Autoren |
Malte Lübker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Seine Hauptinteressensgebiete sind Bezahlung, Tarifverhandlungen, Einkommensverteilung (individuell und funktional) und Umverteilung durch den Wohlfahrtsstaat. Thilo Janssen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung (WSI) der Hans Böckler Stiftung und Korrespondent der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofound). Seine Interessensschwerpunkte sind die europäischen Arbeitsbeziehungen und die europäische Integration. |