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Grüne und ÖVP für „degressives Arbeitslosengeld“: 30 Prozent könnten aus System fallen

Corona-Krise: Alleinerzieherinnen, Künstler und Kleinunternehmer brauchen jetzt staatliche Soforthilfe

Alina Bachmayr-Heyda Alina Bachmayr-Heyda
in Arbeit & Freizeit, Türkis-Grün
Lesezeit:5 Minuten
23. Juli 2020
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Die türkis-blaue Regierung wollte den Gürtel bei den Arbeitslosen weiter enger ziehen. Das Arbeitslosengeld Neu sollte minimal höher ansetzen und schnell bedeutend weniger werden. Das bringt dem Staat kaum Einsparungen und den Betroffenen Armut. Dabei ist das Arbeitslosengeld im EU-Schnitt in Österreich sehr niedrig – auch über längere Zeit gerechnet. Dennoch greift Vizekanzler Werner Kogler den Vorschlag jetzt auf.

Werner Kogler erwärmt sich für die ÖVP-Idee des desgressiven Arbeitslosengeldes. Also Auszahlungen mit hohen Beiträgen am Anfang, die mit der Dauer der Arbeitslosigkeit sinken. Kontrast.at hat berichtet. Es ist ein Modell, das man bereits aus dem schwarz-blauen Regierungsprogramm kennt. Ist das ein guter Plan? „Nein“, sagt der Arbeitsmarktpolitik-Experte der Arbeiterkammer Oberösterreich Dennis Tamesberger.

„Das wollen wir schon länger“

„Wir wollen schon länger – und ich denke die ÖVP auch – eine sogenannte degressive Variante, wo man am Anfang mehr bekommt und später weniger“, sagte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) im Kurier-Interview. Eine Aussage, die viele verwundert. Konkret schlägt Kogler vor, die Arbeitslosen-Unterstützung zu Beginn von den jetzigen 55 % des Letzt-Gehalts, auf den OECD-Schnitt von rund 65 Prozent anzuheben. Mehr Details sind noch nicht bekannt. „Anzunehmen ist, dass eine Anhebung am Beginn, aber eine schnelle und deutliche Senkung des Arbeitslosengeldes im späteren Verlauf der Plan ist“, vermutet Tamesberger.

Löst das Arbeitslosengeld Neu Probleme?

Am Problem der enorm hohen Arbeitslosigkeit wird das degressive Modell nichts ändern: Auf eine offene Stelle kommen rund 7 Arbeitslose. „Die Arbeitslosigkeit wird dadurch nicht sinken.“ Die Situation für eine bestimmte Gruppe von Arbeitslosen – diejenigen, die nur kurz arbeitslos sind und zuvor ein hohes Einkommen hatten –  kann man so zwar verbessern. Für den Großteil würde jedoch eine Befristung der AMS-Leistung massive Nachteile bedeuten.

Sozialministerium ließ prüfen: Ein Drittel weniger Berechtigte

Am härtesten trifft es natürlich die Langzeitarbeitslosen, also jene Menschen, die länger als ein Jahr einen Job suchen.

Das sind in Zahlen: 18.600 Frauen (39 Prozent) und 29.248 (61 Prozent) Männer. Rund Zweidrittel von ihnen sind über 45 Jahre, Dreiviertel haben maximal einen Pflichtschule oder eine Lehre absolviert. Fast 40 Prozent hat gesundheitliche Einschränkungen. 77 Prozent haben einen österreichischen Pass.

Tamesberger rechnet mit einem coronabedingten Anstieg der Langzeitarbeitslosen. Und in den krisengebeutelten Branchen wie Handel und Gastronomie arbeiten wiederum Menschen mit eher geringer Bildung, gesundheitlichen Einschränkungen und hohem Alter.

Das Sozialministerium ließ das WIFO unterschiedliche Szenarien für das degressive Modell berechnen. Wenn die Nettoersatzrate zwischen 50 und 65 Prozent liegt, fallen zwischen 23 Prozent (82.000 Personent) und 34 Prozent (121.000 Personen) aus dem Arbeitslosengeld und wären somit auf die Sozialhilfe angewiesen sein. Das trifft vor allem gering Qualifizierte (61.000 Personen) und Menschen mit Behinderungen (37.000 Personen).

Bezieht man Sozialhilfe, sammelt man im Gegensatz zum Arbeitslosengeld keine Pensionszeiten. Es handelt sich also um eine langfristige Armutsfalle.

Arbeitslosengeld ist keine Hängematte

Die ÖVP und der industriefreundliche Thinktank „Agenda Austria“ bekritteln existenzsicherndes Arbeitslosengeld gerne als „Beschäftigungshemmniss“ oder „Inaktivitätsfallen“ – sprich als soziale Hängematte, aus der Jobsuchende nicht mehr aufkommen.

„Dies steht im klaren Widerspruch zu zahlreichen Studien, die belegen, dass für die Arbeitslosigkeit die Nachfrage des Staates, der Unternehmen und der ArbeitnehmerInnen entscheidender sind als das Arbeitslosengelds“, erklärt Tamesberger.

2019 betrug das durchschnittliche Arbeitslosengeld 980 Euro, die Notstandshilfe 810 Euro netto. Beide Beträge unterschreiten die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle von 1.286 Euro pro Monat.

Bereits jetzt ist die Unterstützung für Arbeitslose mit der anschließenden Notstandshilfe in der Höhe von 92 bis 95 des Arbeitslosengeldes abnehmend. Mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit erhöht sich dadurch das Risiko armuts- und damit ausgrenzungsgefährdet zu werden. Im Jahr 2019 waren das 45 Prozent der Arbeitslosen, die ein ganzes Jahr einen Job suchten. Das sind 81.000 Menschen armutsgefährdet – und damit auch deren Kinder.

„Je nachdem, wie die Degression bzw. die Dauer des Arbeitslosengeldes ausgestaltet wird, könnte sich die Armutsgefährdung von Langzeitarbeitslosen noch erhöhen“, warnt Tamesberger deswegen.

Mehr, nicht weniger Geld ist jetzt die Devise

In Zeiten der wirtschaftlichen Unsicherheit bricht auch der Konsum ein. Das führt zu weniger Umsatz der Betriebe und zu noch mehr Arbeitslosigkeit. Tamesberger fordert deswegen ein Ende der Diskussion: Wenn die Menschen Angst haben müssen, in Zukunft noch weniger als 55 Prozent ihres vorherigen Netto-Einkommens zu haben, werden sie ihr Geld nicht ausgeben. Auch Beschäftigte, die um ihren Job fürchten, werden sparen. Der richtige Weg liegt deswegen in der anderen Richtung:

„Eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf ein armutsfestes Niveau – also mindestens 70 Prozent – würde allen Arbeitslosen zu Gute kommen und den unbegrenzten Bezug von Versicherungsleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit erhalten.“

Degressives Arbeitslosengeld entlastet die Staatskassen nicht

Auf der anderen Seite begünstigt das Arbeitslosengeld Neu laut WIFO-Chef Badelt das „Zwischenparken“ von ArbeiternehmerInnen durch Unternehmen. Das ist vor allem in Saison-Branchen wie der Gastro oder dem Bau eine Praxis, bei der Menschen bei niedriger Nachfrage mit Wiedereinstellungszusage für wenige Wochen oder Monate gefeuert werden, um Kosten zu sparen. Diese „Hire&Fire“-Personalpolitik verursacht wieder mehr Kosten in der Arbeitslosenversicherung. Tamesberger fordert deswegen, dass – sollte das Arbeitslosengeld Neu wirklich kommen – Betriebe entsprechend ihrem Kündigungsverhalten mehr einzahlen. Passiert das nicht, belastet das die öffentlichen Gelder massiv.

Vor allem in der Gastronomie sind die Angestellten vom Prinzip „Hire and Fire“ betroffen.

Auch das Argument, dass der Staat nach Corona sparen muss, lässt der Arbeitsmarkt-Experte nicht gelten. „Die Arbeitsmarktpolitik macht nur einen geringen Anteil der Staatsausgaben aus.“

Und: Wenn die Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung sinken, steigen die Kosten der Sozialhilfe – und die wird wiederum von den Ländern und Gemeinden getragen.

Arbeitslosengeld schon jetzt im EU-Vergleich sehr niedrig

Die Regierung argumentiert oft, dass das Arbeitslosengeld in Österreich im Vergleich zu anderen EU-Ländern gleich hoch bleibt und deswegen über einen längeren Zeitraum gerechnet höher ist. Doch so stimmt das nicht, wie Dennis Tamesberger erklärt: In Österreich bleibt die bereits jetzt sehr niedrige Nettoersatzrate derzeit zwar stabil, sinkt jedoch bei längerer Arbeitslosigkeit auch um rund vier Prozentpunkte auf 51 Prozent (Notstandshilfe) ab.

Bei einer Arbeitslosigkeitsdauer von zwölf Monaten haben eine Vielzahl von Ländern eine höhere Nettoersatzrate als Österreich.

Selbst bei einer sehr langen Arbeitslosigkeit von 24 Monaten haben Spanien (54%), Luxembourg (55%), Frankreich (64%), Belgien (65%) und Dänemark (83%) eine höhere Ersatzrate. In Deutschland kommt es aufgrund der Harz IV-Regelung zu einer massiven Reduktion von 60 auf 22 Prozent.

Dennis Tamesberger ist Referent für Arbeitsmarktpolitik bei der Arbeiterkammer OÖ.

Ziel: Dumping-Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen

„Hartz IV war ein Vorbild für Schwarz-Blau“, analysiert Dennis Tamesberger. Deutschland hat gezeigt, wie eine starke Degression beim Arbeitslosengeld den Billiglohnsektor stärkt. Die Folge ist neben der Armut auch das Kippen im Verhältnis von Arbeitsplätzen und Arbeitssuchenden: Geht es den Menschen sehr schlecht, nehmen sie auch schlecht bezahlte Jobs mit miserablen Arbeitsbedinungen an. Das schafft nicht nur einen riesigen Niedriglohnsektor, sondern schwächt auch die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Denn wenn sie sich weigern, zu schlechten Bedingungen zu arbeiten, heuert die Firma andere, verzweifelte Arbeitssuchende an.

„Das schwächt die individuelle Verhandlungsmacht von ArbeitnehmerInnen, sich für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne einzusetzen. Dieses System diszipliniert und spaltet Belegschaften und schürt Abstiegsängste. In der Folge wird die kollektive Verhandlungsmacht der ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften geschwächt“, warnt der Arbeitstsexperte.

Die Konsequenzen von Hartz IV sind klar: Die Armut ist enorm angestiegen, der Niedriglohnsektor hat sich deutlich ausgeweitet: Mehr als jeder fünfte Angestellte arbeitet im Niedriglohnsektor.

Türkis-Grün führt schwarz-blaue Sozialpolitik weiter

Bereits unter Sozialministerin Hartinger-Klein fing der Sparkurs bei den Arbeitnehmern an. Wir erinnern uns: Bei der Sozialhilfe hat Schwarz-Blau bereits ordentlich eingespart. Im Vergleich zur Mindestsicherung kommt es bei der Sozialhilfe Neu zu massive Leistungsverschlechterungen. Sie ist im schwarzen Oberösterreich und Niederösterreich bereits zu Jahresbeginn in Kraft getreten, Salzburg folgt 2021.

Im schwarz-blauen Regierungsprogramm fand sich neben dem degressiven Arbeitslosengeld auch die Abschaffung der Notstandshilfe: Das Arbeitslosengeld sollte etwas länger, dafür degressiv ausgezahlt werden. Danach sollte direkt die Sozialhilfe Neu folgen und die Notstandshilfe entfallen. Um die Sozialhilfe zu bekommen, müssen Arbeitslose zuerst ihr gesamtes Hab und Gut bis auf knapp 4.500 Euro liquidieren.

„Welches Modell Vizekanzler Kogler genau meint, ist ja nicht bekannt, sondern nur vage Ankündigungen. Aus den Zeiten von Schwarz-Blau wissen wir, dass hier mehrere Modelle diskutiert wurden, die vor allem zu einer Kürzung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung geführt hätten“, sagt die leitende Sekretärin des ÖGB Ingrid Reischl.

„Im Extremfall könnte das Arebitslosengeld Neu die Abschaffung der Notstandshilfe bedeuten, da vermutlich nur ein zeitlich befristeter AMS-Bezug gewährt werden wird“, befürchtet Tamesberger.

Dennis Tamesberger
Dennis Tamesberger ist Referent für Arbeitsmarktpolitik in der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik der Arbeiterkammer OÖ. Er ist außerdem Mitherausgeber der Zeitschrift Momentum Quarterly – Zeitschrift für sozialen Fortschritt.
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Tanja
Tanja
9. Februar 2021 23:07

„Faktencheck“: In Ö erhält man aktuell 55 % des vorh. Einkommen; es stellt sich daher die Frage, ob die 30% die aus dem System fallen „werden“ aktuell überhaupt noch im System integriert sind, die genannte Studien (WIFO 2019) stützt sich auf Szenarien, die sich auf Bestimmungen von 2016 beziehen.

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Tanja
Tanja
Reply to  Tanja
9. Februar 2021 23:08

vgl. https://www.oesterreich.gv.at/themen/steuern_und_finanzen/unterstuetzungen_bzw_beihilfen_fuer_arbeitsuchende_sowie_arbeitgeber/1/1/Seite.3610013.html

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rudolf
rudolf
26. Juli 2020 10:45

In die Arbeits -Losen -Versicherung zahlen ALLE Arbeitnehmer ein!!
Es sollen ALLE AL eine Nettoauszahlung von 80 % , des letzten Lohnes, sein! Aber OHNE Unterschreitung der Armutsgefährdungsschwelle von 1286.-€ pro Monat.
Warum sollte die AL-Versicherung eine Belastung der Staatskasse sein? Mit einer Arbeits Zeit Verkürzung kommte auch wieder mehr Geld in die AL-Versicherung!
Ein Beschäftigungshemmniss ist es keine, wenn die Unternehmer verpflichtet werden, ARBEITSPLÄTZE zur Verfügung zu stellen!
Und das geht mit einer 30 Wochenstunde und einem Nettolohn von 17.-€ pro Stunde = 2208.30 € pro Monat. Wo es diesen Lohn noch nicht gibt!!

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Privatstiftungen sollten ursprünglich einem gemeinnützigen Zweck dienen, etwa in den Bereichen Soziales, Bildung oder Kultur. Doch heute sind sie vor allem ein beliebtes Werkzeug, um Vermögen zu sichern und Steuern zu vermeiden. Sie sind besonders beliebt bei den Reichsten der Reichen – auch weil sie kaum von den Steuerbehörden kontrolliert werden. Zitat: Privatstiftungen sind eine Rechtsform, die beinahe ausschließlich von den Reichsten der Reichen genutzt wird. 40 Prozent aller Privatstiftungen befinden sich im unmittelbaren Umfeld der 60 reichsten Familien. Sie werden von Superreichen benutzt, um ihr Vermögen vor Steuerbehörden zu verschleiern. Auch deshalb weil drei Viertel aller Privatstiftungen überhaupt noch nie von den Steuerbehörden kontrolliert worden sind. Stephan Pühringer
Privatstiftungen sollten ursprünglich einem gemeinnützigen Zweck dienen, etwa in den Bereichen Soziales, Bildung oder Kultur. Doch heute sind sie vor allem ein beliebtes Werkzeug, um Vermögen zu sichern und Steuern zu vermeiden. Sie sind besonders beliebt bei den Reichsten der Reichen – auch weil sie kaum von den Steuerbehörden kontrolliert werden. Zitat: Privatstiftungen sind eine Rechtsform, die beinahe ausschließlich von den Reichsten der Reichen genutzt wird. 40 Prozent aller Privatstiftungen befinden sich im unmittelbaren Umfeld der 60 reichsten Familien. Sie werden von Superreichen benutzt, um ihr Vermögen vor Steuerbehörden zu verschleiern. Auch deshalb weil drei Viertel aller Privatstiftungen überhaupt noch nie von den Steuerbehörden kontrolliert worden sind. Stephan Pühringer

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Das sozialdemokratische Magazin Kontrast.at begleitet mit seinen Beiträgen die aktuelle Politik. Wir betrachten Gesellschaft, Staat und Wirtschaft von einem progressiven, emanzipatorischen Standpunkt aus. Kontrast wirft den Blick der sozialen Gerechtigkeit auf die Welt.

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