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Ausgangssperren mit Polizeigewalt durchgesetzt: Heftige Proteste in Frankreichs Banlieues

Die Stimmung in den Vorstädten von Paris war schon in den vergangenen Wochen angespannt. Am Abend des 18. April springt der Funken über. Ein Vorfall mit der Polizei in Villeneuve-la-Garenne führt zu tagelangen Protesten in dem Banlieue, wie arme Vororte in Frankreich bezeichnet werden. Zeugen und die Polizisten widersprechen sich. Doch es ist nicht dieser Einzelfall, der die Menschen zu Protesten zwing. Und Villeneuve-la-Garenne ist nicht der einzige Vorort der betroffen ist. Probleme mit Polizeigewalt häufen sich seit der Ausgangssperre.

Von dem Vorfall im Pariser Banlieue Villeneuve-la-Garenne gibt es mehrere Versionen. Zeugen beschreiben ihn so: Ein schwarzer Wagen fährt durch die fast leeren Straßen. Ein Motorradfahrer fährt an dem Wagen vorbei , das Auto steht an einer roten Ampel. Der Motorradfahrer trägt keinen Helm. In dem Moment, als das Motorrad vorbeifährt, öffnet sich die Autotür. Mit hoher Geschwindigkeit rast der Motorradfahrer in die Tür. Schwerverletzt wird er ins Krankrenhaus eingeliefert wird. Heute wissen wir: der Veletzte heißt Mouldi C. Seine Verletzungen sind so schwer, dass Ärzte ihm für 3 Monate Arbeitsunfähigkeit prognostizieren.

Die Augenzeugen sind sich sicher, dass die Insassen des Wagens vorsätzlich gehandelt haben. Dass die Autotür also mit Absicht genau dann geöffnet wurde, als der Fahrer so nah dran war, dass ein Aufprall nicht mehr zu verhindern war. Zu präzise war das Timing. Das wäre an sich schon schlimm. Doch eine Detail des Vorfalls ändert die gesamte Geschichte: Das Auto ist ein Zivilwagen der Polizei. Und die Polizisten darin befinden sich im Dienst.

 Ein Video kurz nach dem Vorfall zeigt Mouldi C. am Boden, die Polizisten leisten erste Hilfe. Rundherum stehen Männer, die den Vorfall beobachtet haben und die Polizei beschimpfen. „Er fährt vorbei und ihr macht einfach die Tür auf? Was soll das?“, sagt ein Passant wutentbrannt. Fälschlicherweise überschreibt der Nutzer das Video auf Twitter mit dem Hinweis, die Polizei habe dem Motorradfahrer das Bein amputiert. Tatsächlich versorgen sie den Schwerverletzten mit einem Druckverband, wie man bei genauem Hinschauen im Video auch sieht. Doch die Falschinformation ist vermutlich bei einigen hängen geblieben. Das Video erreichte in wenigen Tagen 5 Millionen Klicks.

Am nächsten Tag brennen Mülltonnen in Paris

In Villeneuve-la-Garenne beginnt der Aufstand. Einen Tag später brennen Mülltonnen und andere Gegenstände, die wie Barrikaden quer über die Straßen gelegt werden. Anwohner schießen mit Feuerwerkskörpern auf Polizeiautos und Polizeitruppen. Es gibt mehrere Festnahmen. Zeitgleich brechen auch in anderen sogenannten „Problemvierteln“ rund um Paris aber auch in Toulouse und Straßburg Unruhen aus. Die Unruhen brechen nicht ab. In der dritten Nacht vom 21. April wird auch eine Grundschule in Villeneuve-la-Garenne in Brand gesetzt. Es gibt weitere, zahlreiche Festnahmen. Drei Journalisten, die über die Vorfälle berichten, werden von Polizeibeamten mit Blendgranaten bedroht.

„Geht zurück oder wir werfen euch eine Granate rüber“, hört man eine Polizistin in einem Video rufen.

Der verletzte Mouldi C. ruft in einem Video aus dem Krankenhausbett zu Ruhe auf. „Bleibt zu Hause“, bittet er die Protestierenden. Der 30-Jährige wurde wegen mehrere Gewalttaten verurteilt und befindet sich wegen weiterer Straftaten in einem laufenden Verfahren.  

Mehrere Polizei-Versionen

Die Polizei erzählt den Vorfall mit Mouldi C. anders. Man sei dem Motorradfahrer zuerst entgegen gefahren und habe ihn wegen fehlenden Helms und zu hoher Geschwindigkeit kontrollieren wollen. An einer anderen Stelle habe man an einer roten Ampel auf ihn gewartet. Laut der Polizei ist der Komissar bereits ausgestiegen, bevor Mouldi C. überhaupt in der Nähe war. Mouldi C. sei auf den schon ausgestiegenen Kommissar zugefahren, als habe er ihn überfahren wollen.

Doch diese Darstellung widerspricht späteren Aussagen der Polizei gegenüber der Presse. Die neue Version kommt den Zeugenaussagen näher. So sitzt der Kommissar in einer Version noch im Auto, als Mouldi C. gegen die geöffnete Tür fährt. Was das schnelle Öffnen der Tür möglich macht. Wenn viele Aussagen im Raum sind, kann man nur spekulieren. Fakt ist allerdings: Mouldi C. konnte gar nicht wissen, dass es sich bei dem schwarzen Wagen um ein Polizeiauto handelte. Sein Motiv sich einer Kontrolle entziehen zu wollen, ist sehr unwahrscheinlich.

In Villeneuve-la-Garenne braucht es kein Corona für die Krise

Villeneuve-la-Garenne liegt im Norden von Paris. Die Städte in dieser Gegend in und rund um das Département Seine-Saint-Denis sind dicht besiedelt, haben wenig Infrastruktur und sind hauptsächlich von Menschen mit geringem Einkommen und oftmals mit Migrationshintergrund bewohnt. Französische Medien berichten von hungernden Familien.

Die Lebensbedingungen und der Alltagsrassismus trafen diese Gegend schon vor der Coronakrise hart. Nun kämpfen diese Städte im Norden von Paris außerdem mit einer besonders hohen Sterberate bei Corona-Erkrankten. Und das, obwohl die Bevölkerung hier vergleichsweise jung ist. Es gibt nicht nur weniger Intensivbetten in dieser Region als etwa in der nahe angrenzenden Hauptstadt Paris. Viele Menschen hier arbeiten in unterbezahlten Berufen – und trotzdem gelten sie als systemrelevant. Für wenige Geld riskieren die Menschen hier die Ansteckung.

Die Ausgangssperren als Brandbeschleuniger in Paris

Die Corona-Ausgangssperren in Frankreich sind streng – man darf nur noch mit einem Passierschein zur Arbeit oder zum Einkaufen gehen. Das erschwert die Lage zusätzlich. Nicht nur, weil so viele Menschen hier auf engem Raum unter prekären Bedingungen leben. Viele berichten von Racial Profiling, also die gezielte Kontrolle von Migranten durch die Polizei und dokumentieren gewalttätige Maßnahmen auf sozialen Medien. 

Da ist etwa der 21-jährige Amazon-Paketlieferant aus der Pariser Vorstadt Ulis, der sich auf dem Weg zur Arbeit befindet. Er wird vor seinem Wohngebäude von Polizisten ohne ersichtlichen Grund verprügelt. Während einer Kontrolle der Ausgangssperre kommt auch ein 33-Jähriger in Südfrankreich zu Tode, wahrscheinlich an den Folgen von Polizeigewalt. Gegen die beteiligten Beamten wird wegen fahrlässiger Tötung ermittelt. Beide Männer tragen arabische Namen, wie auch der Motorradfahrer aus Villeneuve-la-Garenne. Weiter im Norden von Paris töten Polizisten einen 25-jähriger Afghanen mit 3 Kopfschüssen und 2 weiteren Schüssen in den Oberkörper, weil er sie mit einem Messer bedroht haben soll.

Linke Plattformen berichten von drei weiteren Todesfällen, die zwar dokumentiert sind, die aber durch die Flucht vor einer Polizeikontrolle passiert sind. Bei einer Auseinandersetzung zwischen Polizisten und Anwohnern in der Pariser Vorstadt Chanteloup-les-Vignes wird auch eine 5-Jährige von einem Gummigeschoss getroffen und muss im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt werden. Alle Vorfälle haben sich innerhalb kürzester Zeit allein im April ereignet. Viele davon in Verbindung mit Ausgangssperren.

Der französische Journalist Taha Bouhafs, der aus Algerien stammt, wird von der Polizei misshandelt.

Der französische Journalist Taha Bouhafs, der aus Algerien stammt, wird von der Polizei misshandelt.

Die Wut in den Banlieues brodelt schon lange und ist durch die aktuellen Entwicklungen nur weiter angefacht worden. Der öffentlichen Diskurs behandelt die betroffenen Vororte zum Teil verächtlich. Die rechtsextreme Marine Le Pen von der RN-Partei forderte laut AFP etwa die „Neutralisierung des Gesindels“ in Villeneuve-la-Garenne. Nach drei Nächten der Ausschreitungen vor allem in Villeneuve-la-Garenne folgten zwei etwas ruhigere Nächte. In mehreren französischen Städten fliegen nun Drohnen, die die Menschen auf der Straße über Lautsprecher auffordern, nach Hause zu gehen. 

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