Ein französisches Team aus Architekt:innen baut Sozialbauten um: Die Wohnungen werden größer, heller und bekommen Wintergärten samt Balkone. Die Mieten bleiben niedrig – die Lebensqualität in einer Wohnung steigt enorm. Sie zeigen: Umbau und Sanierung erhalten ein Stück Stadtgeschichte, machen den Bewohner:innen das Leben leichter – und sind billiger als Abriss und Neubau.
An sonnigen Tagen kann man über die ganze Stadt sehen, sogar über die gotische Saint André Kathedrale hinweg. Bordeaux liegt zu Füßen, wenn man am Balkon steht. Gleich hinter dem Balkon ist der Wintergarten, der von beiden Zimmern der 80 m²-Wohnung begehbar ist. Und für dieses Wohnerlebnis zahlt man 350 Euro im Monat. Unmöglich? Nein, denn die Mieten der Sozialwohnungen der Cité du Grand Parc sind niedrig geblieben. Und das obwohl 2016 der Gebäude-Komplex saniert und die Wohnungen vergrößert wurden – samt neuer Freiflächen. Verdrängung gab es keine, denn der Umbau erfolgte im bewohnten Zustand. Heute sieht man dem gewaltigen Sozialbau nicht an, dass er vor wenigen Jahren noch ein Betonklotz mit engen Wohnungen war.
Möglich gemacht haben das die Architekt:innen Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal. Mit dem Umbau haben sie für Aufsehen gesorgt – nicht nur, weil es die Lebensqualität der Mieter:innen gesteigert hat, sondern weil es billiger war als den unmodernen Bau abzureißen und einen Neubau hinzustellen.
Plattenbauten und Sozialwohnungen sind günstig, aber haben schlechten Ruf
Die Sozialwohnungen der Cité du Grand Parc wurden in den 1960er Jahren in Bordeaux errichtet und zählen zu den Großwohnsiedlungen (cités), wie man sie in vielen französischen Großstädten kennt – in etwa vergleichbar mit den sogenannten Plattenbauten in deutschen Metropolen.
Ab den 1950er Jahren erlebten europäische Städte einen regelrechten Bauboom, so auch in Frankreich. Große, hochgeschossige Wohnbauten wurden aus dem Boden gestampft und waren attraktiv. Eigene Badezimmer, fließendes Wasser in jeder Wohnung, dazu Innenhöfe und kleine Einkaufsmöglichkeiten in der Umgebung waren modern – ebenso die homogene Bauweise. Gleichzeitig waren und sind sie eher am Stadtrand zu finden und aus heutiger Sicht war die verwendete Bausubstanz von schlechter Qualität. Es ging damals auch eher um Quantität: Viele neue Wohnungen mit erschwinglichen Mieten in kurzer Zeit schaffen.
Ab den 1970er Jahren gab es erste Abwanderungstendenzen. Wer es sich leisten konnte, zog ins Stadtinnere oder baute ein Haus. In den Wohnungen der cités blieben vor allem Familien mit kleinen Einkommen. Bis heute. Die Großsiedlungen stehen noch immer und sind immer noch günstig – doch an Komfort haben sie in all den Jahrzehnten nicht gewonnen. Die Plattenbauten der Nachkriegszeit wie man sie aus Deutschland, aber auch Frankreich kennt, haben Defizite: Keine Freiflächen, oft zu wenige Fahrstühle, gedrängt am Stadtrand – und fehlende Wärmeisolierung.
1990 hat die französische Regierung unter François Mitterand (Sozialistische Partei) große Siedlungen dieser Art zu modernisieren und damit aufzuwerten. Allein 2007 wurden 6 Milliarden Euro dafür bereitgestellt. Allerdings wird das Geld auch für Abrisse und Neubauten verwendet. Man möchte die hässlichen Gebäude aus dem Stadtbild entfernen, in der Hoffnung, dass danach schönere – und teurere – Gebäude mehr Menschen aus Mittel- und Oberschicht anziehen.
Kosten für Abriss sind größer als Sanieren einer Wohnung
Aus dem Umbauprogramm der Regierung werden 15.000 Euro für den Abriss einer Wohnung und 152.000 Euro für den Neubau zur Verfügung gestellt. Die Architekt:innen Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal und Frédéric Druot finden das problematisch und vor allem verschwenderisch. Denn angesichts von Wohnungsnot und den hohen Kosten, die mit Abrissen und Neubauten einhergehen, wäre der Erhalt und Umbau sinnvoller, günstiger und würde gerade nicht jene Mieter:innen vertreiben, die günstig in den Bauten wohnen weil sie sich keine anderen Wohnungen leisten können. Die Architekt:innen haben eine Rechnung aufgestellt:
Der Abriss und Neubau einer Wohnung kostet etwa 167.000 Euro. Um dieses Geld können zwei Wohnungen saniert und modernisiert werden.
Balkone, Gemeinschaftsräume, Wintergärten und integrierte Kindergärten in den Erdgeschoßen wären möglich und würden ein ganz neues Wohngefühl mitbringen. Es würden Menschen aus anderen sozialen Schichten angezogen ohne die “alten” Mieter:innen zu verdrängen – und das würde stückweise die soziale Durchmischung von Vierteln fördern. Dass das alles nicht bloß Theorie ist, zeigen die erfolgreichen Umbau-Arbeiten von Lacaton, Vassal und Druot in Paris und Bordeaux.
Sanieren und Umbau statt Abreißen – plötzlich mehr Wohnraum, Licht und Freiflächen
Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal und Frédéric Druot arbeiten seit fast 25 Jahre zusammen und stellen gemeinsam Überlegungen an, wie man Gebäude schonend modernisieren kann. 2011 bekamen sie den Auftrag, in Paris ein 17-stöckiges Hochhaus mit fast 100 Sozialwohnungen (La Tour Bois le Prêtre) umzubauen. 2016 folgte ein noch viel größeres Projekt: Lacaton, Vassal, Druot und Christophe Hutin entwarfen Umbau-Pläne für drei Wohnblöcke in der Cité du Grand Parc in Bordeuaux. Insgesamt haben sie 530 Wohnungen im Komplex aus den 1960er Jahren modernisiert – alles in bewohntem Zustand. Pro Wohnung dauerte der Umbau im Schnitt zwei Wochen.
An den Grundrissen der Wohnungen haben die Architekt:innen nichts verändert. Sie wollten mit dem arbeiten, was da war. So wurden die elektrischen Leitungen und Bäder modernisiert, weitere Aufzüge eingebaut, Gemeinschaftsräume ergänzt, die Eingangsbereiche erneuert – und auf den Flachdächern zusätzliche Wohnungen aufgebaut. Die größte und innovative Leistung war jedoch der Zubau an den Fassaden der Häuser.
Die Architekt:innen ließen Wintergärten mit mindestens 2,80 Meter Tiefe und zusätzlich Balkone anbauen. Statt Beton-Außenwände mit kleinen Fenstern bekamen die Wohnungen nun raumhohe Glas-Schiebetüren. Das bedeutet: Mehr Fläche und mehr Licht. Die Wohnungen verlängerten sich nach außen um fast 4 Meter.
Das heißt, die Gesamtfläche einer Wohnung nahm auf diese Weise etwa 20 m² zu. All das bei gleich bleibender Miete.
Die Kosten für den Umbau beliefen sich auf im Schnitt 45.000 Euro pro Wohnung. Getragen hat das vor allem der Eigentümer: die Aquitanis, die Wohnungsbaugesellschaft für sozialen Wohnbau der Stadt Bordeaux und ihrer 27 Umlandgemeinden.
Plattenbau-Wohnung wird komfortabel und klimafreundlich
Dass statt Betonwänden nun Glas-Schiebetüren und Balkone die Außenfassade bilden, verändert das ganze Raumklima einer Wohnung. Die Wintergärten sind sozusagen ein Wärme-Puffer zwischen draußen und drinnen. Ist es draußen heiß, dringt die Wärme nicht direkt in den Innenraum. Ist es draußen kalt, schirmt der Wintergarten die Kälte ab. Zusätzlich bekamen die Wohnungen abdunkelnde Thermo-Vorhänge.
Den Architekt:innen war auch wichtig, dass die Glaswände verschiebbar sind, weil es den Mieter:innen ermöglicht, selbst über ihre Wohnungen zu bestimmen. Sie entscheiden, wie weit offen oder geschlossen die Räume sein sollen. Nicht nur mehr Fläche war das Ziel, sondern auch mehr Individualität – und die Möglichkeit, die eigenen vier Wände im wahrsten Sinn des Worte, selbst mitzugestalten. Etwas, das man sonst nicht mit standardisierten Wohntürmen verbindet.
Umbauen und Verbessern erhält Stadtgeschichte
Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal gründeten 1987 in Paris ein Architekturbüro und haben in Europa und Westafrika über 30 Projekte umgesetzt. Was ihre Arbeit prägt, ist eine Überzeugung: Dass es erstrebenswert ist, vorhandene Bauten zu erhalten und zu verändern. Denn damit kann man sie verbessern und den Bedürfnissen von Menschen anpassen – und gleichzeitig ihre Lebensdauer verlängern. Immerhin sind die Gebäude genauso Teil der Stadt und der Stadtgeschichte wie ihre Bewohner:innen.
“Bei unserer Arbeit geht es darum, Zwänge und Probleme zu lösen und Räume zu finden, die Nutzungen, Emotionen und Gefühle erzeugen können. Am Ende dieses Prozesses und all dieser Bemühungen muss Leichtigkeit und Einfachheit stehen, wo doch alles, was vorher war, so komplex war”, beschreibt Jean-Philippe Vassal das Ziel seiner Arbeit als Architekt.
Die etwas andere Gentrifizierung: Aufwerten ohne zu Verdrängen
Ein Gebäude abzureißen, bedeutet für ihn und Anna Lacaton auch, Menschen zu entwurzeln und zu verdrängen. Denn die Neubauten, die folgen, sind in der Regel teurer und für die einstigen Bewohner:innen nicht mehr leistbar. Abrisse sind für die beiden Architekt:innen eine grobe, zerstörerische Antwort auf das Problem, dass ein Gebäude nicht mehr den Ansprüchen von Menschen gerecht wird. Statt zerstören sollte man verändern. Anne Lacaton beschreibt es so:
2021 wurden Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal mit dem Pritzker Architektur Preis ausgezeichnet. Die beiden sind die 49. und der 50. Träger:in des Preises. Dieser wird seit 1979 verliehen und mittlerweile von der Hyatt-Stiftung organisiert.
Und in Wien stehen 6.000 Gemeindebauten permanent leer, weil niemand mehr einziehen will. Seit 1.Januar muss auch kein dringender Wohnbedarf gegeben sein, um eine Gemeindewohnung unter 65m2 zu bekommen. Stattdessen wird auf Kosten künftiger Generationen wertvoller Boden mit Neu-Beton zugepflastert
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