Ansehen, Arbeitsbedingungen und Gehalt spiegeln ihre Leistung für die Gesellschaft nicht wider, finden die Kindergartenpädagog:innen in Österreich. Durch Demonstrationen und Kampagnen machen sie auf zu große Gruppen und Personalmangel aufmerksam, sie fordern mehr Ressourcen, höhere Löhne und einen besseren Betreuungsschlüssel. Wir haben mit Martina Brandstätter, der Leiterin eines Kindergartens in der Wiener Seestadt Aspern, über den Tagesablauf, unsichtbare Arbeit, Personalengpässe und die fast unbändige Neugierde von Kindern gesprochen.
Im März sind österreichweit erneut tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kindergärten und Horte für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen. Am Dienstag demonstrierten über 8.000 Mitarbeiter:innen der Privatkindergärten, letzte Woche waren es die Beschäftigten der öffentlichen Kindergärten. Die schulischen Freizeitpädagogen sind ebenfalls dabei. Unter dem Motto „Es reicht!“ fordern die Pädagog:innen mehr Personal, kleinere Gruppen, bessere Betreuungsverhältnisse und faire Bezahlung. Der Arbeitsdruck in den Kindergärten sei einfach zu hoch, um die Kinder optimal betreuen zu können.
Kontrast.at hat sich angeschaut, was im Kindergarten-Alltag passiert und wie der Tag einer Kindergartenpädagogin abläuft. Dazu haben wir mit der Leiterin eines Kindergartens in der Wiener Seestadt, Martina Brandstätter, gesprochen. Sie arbeitet seit 30 Jahren in diesem Beruf und ist eine von 63.000 Elementarpädagog:innen in Österreich, über 88% der Beschäftigten im Beruf sind Frauen. Knapp die Hälfte von ihnen arbeitet bei privaten Trägern, darunter auch Martina Brandstätter.
Die Kindergartenpädagog:innen demonstrieren in Wien für höhere Löhne und kleinere Gruppen.
Tagwache für Pädagog:innen um 5:30 Uhr
Brandstätters Tag beginnt morgens um 5:30. Da bearbeitet sie die Krankmeldungen ihrer Kolleg:innen und koordiniert den Dienstplan neu. Die Belastungen und Ansteckungen durch die Kinder seien auch unabhängig von Corona so groß, dass kaum ein Tag ohne Krankenstände vergeht. Der Frühdienst fängt um 6:30 an, da öffnet der Kindergarten. Dann passiert vieles gleichzeitig: Die Pädagog:innen und Assistent:innen begrüßen jedes Kind einzeln, richten mit ihnen die Jause her und bereiten die pädagogischen Angebote vor. Der Tag im Kindergarten endet um 17:30 Uhr, elf Stunden am Tag hat der Standort geöffnet.
Hinter Martina Brandstätters Schreibtisch stehen mehrere Regale, alle bestückt mit dicken, gefüllten Ordnern. Die Arbeit für die Kindergarten-Leiterinnen hat stark zugenommen.
„Wir brauchen dringend Entlastung. Man hat administrative Jobs in den Schulen geschaffen, aber auf die Kindergärten hat man vergessen. Wenn ich alles tun würde, was ich tun will, müsste ich bis Mitternacht dableiben. Alleine die Anpassung des Dienstplanes kostet mich jeden Tag eine Stunde. Den Vormittag bin ich mal nur mit E-Mails beschäftigt: Bestellungen, Anfragen, Beschwerden, Organisatorisches, Elterngespräche, Dokumentation usw. Man muss sich das wie einen sehr großen Haushalt vorstellen.“
In Brandstätters Kindergarten, einem Haus der Wiener Kinderfreunde, arbeiten 20 Personen – viele davon in Teilzeit – und sorgen für die Betreuung und die Bildung von 118 Kindern zwischen 11 Monaten und 6 Jahren.
Kinder sollen schrittweise selbständiger werden
Die Pädagog:innen gehen auf jedes Kind individuell ein, reden mit den Eltern darüber, was das Kind braucht und ob es gut geschlafen hat. Alle Besonderheiten werden protokolliert. „Das ist sehr wichtig für die Eltern, damit sie ihre Kinder gut betreut wissen und keine Informationen verlorengehen“, erklärt die Kindergartenleiterin. Das betrifft auch die Jause, bei der alle Allergien, Unverträglichkeiten, religiöse Ernährungsvorschriften, aber auch individuelle Vorlieben berücksichtigt werden müssen. „Damit jedes Kind das bekommt, was es haben darf und was es möchte“, betont sie. Doch es geht es nicht nur um die richtige Verpflegung. Das Lernen steht ab der ersten Minute im Mittelpunkt:
„Die Kinder sollen möglichst selbstständig essen, sie sollen lernen, wie viel sie sich auf den Teller nehmen, wie man ein Brot schmiert, wie man den Tisch deckt und wieder abräumt. Jedes Kind braucht in seinem individuellen Tempo die Möglichkeit, selbstständiger zu werden. Das heißt, man muss den Blick auf jedes einzelne Kind richten“, erklärt Martina Brandstätter.
Kinder lernen, Konflikte selber zu lösen – und ihre Emotionen zu verstehen
Auch die Spielzeit der Kinder ist mit vielen Überlegungen verbunden. So sollen sie zum Beispiel lernen, Abläufe einzuhalten, Verantwortung fürs Wegräumen zu übernehmen oder einen sorgsamen Umgang miteinander zu finden: „Beim Spielen kann ich dann sehen, wo die Kinder in ihrer Entwicklung stehen, was sie schon können und was nicht. Aber auch, was sie brauchen, damit sie es gut lernen können. Das muss alles gut geplant und begleitet werden – und dafür braucht es viel Know-How.“ Gleichzeitig müsse man darauf achten, dass die Kinder in ihren Emotionen wie Freude, Wut oder Enttäuschung unterstützt sind und Reiberein zwischen Kinder sprachlich gut erklärt werden.
„Man muss den Kindern auch die Möglichkeit geben, dass sie die Konflikte selber lösen können und ihnen helfen, das zu schaffen. Man braucht Geduld und Ruhe. Wenn man nervös wird, dann überträgt sich das sofort auf die Kinder”, sagt Brandstätter.
6 Bildungsbereiche von Sprache bis Technik
In Österreich besuchen 310.000 Kinder einen Kindergarten. 94 Prozent aller Kinder zwischen drei und fünf Jahren werden in einem Kindertagesheim betreut – 13 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. 70.000 Kinder sind jünger als drei Jahre. Die Zahl hat sich seit 2008 mehr als verdoppelt. Mittlerweile besucht jedes vierte Kind unter drei Jahren einen Kindergarten. Nicht nur die Zahl der Kinder, auch die Anforderungen an die Pädagog:innen nehmen zu.
Der Kindergarten erfüllt heute viele Ansprüche, die man von außen oft nicht sieht, erzählt Brandstätter. Bei den Wiener Kinderfreunden sind ca. 375 Lern- und Entwicklungsziele in den verschiedenen Entwicklungsstufen festgelegt, die alle bewusst erreicht werden sollen. Der Bildungsrahmenplan, der für alle Bundesländer gleichermaßen gilt, gibt 6 Bildungsbereiche für den Kindergarten vor und macht sichtbar, wie groß der Anspruch an den Kindergarten als erste Bildungseinrichtung ist: Emotionen und soziale Beziehungen, Ethik und Gesellschaft, Sprache und Kommunikation, Bewegungen und Gesundheit, Ästhetik und Gestaltung, Natur und Technik. Es werden im Rahmen von Spielen etwa auch gezielt MINT-Themen wie räumliches Vorstellungsvermögen gefördert. „Wir setzen musikalische Angebote, wir musizieren und singen, wir lesen ihnen Bücher vor, wir sprechen mit den Kindern darüber und arbeiten mit der Geschichte kreativ weiter. Das erfüllt eine Reihe verschiedener Ziele.“
Brandstätter: “Wir wollen Lust auf die Welt machen”
Aber auch das Experimentieren spielt eine große Rolle im Kindergarten. Wenn eine Pädagogin drei Schüsseln mit Wasser, Erde und Samen auf den Tisch stellt, geht es darum, die Kinder zum Nachdenken anzuregen. Sie stellen gemeinsam Hypothesen auf und sprechen darüber, was in der Natur passiert. „Das dauert relativ lange, da braucht man viel Zeit und Geduld und auch die Möglichkeit, dabeizubleiben”, schildert Brandstätter. Wenn die Betreuerin nach zwei Minuten weg muss, weil woanders in der Gruppe ein Konflikt ist, ist es vorbei. Hat man aber genug Zeit für diese Lerngespräche, bewirkt das beim Kind eine Motivation weiterzulernen und entfacht “eine Neugierde, die Lust auf die Welt macht”, wie die Pädagogin beschreibt.
“Ein Kind ist ein forschendes Wesen, das verstehen will. Wenn man das nicht unterdrückt und sagt: „setz dich hin und mach das“, sondern auf das Interesse des Kindes schaut, kann man eine gute Basis für das spätere Lernen legen. Davon profitieren Kinder ein Leben lang”, sagt Brandstätter.
Festgehalten werden diese Lernschritte in Portfoliomappen, die zusammen mit jedem Kind angelegt werden. Darin macht man gemeinsam sichtbar, was und wie das Kind gelernt hat.
„Vom ersten Tag des Kindes, mit Fotos und Zeichnungen, eine Form der Reflexion des eigenen Lernens. Die Kinder lieben diese Mappe. Wenn Kinder vor der Schuleinschreibung aufgeregt sind, dann kann man ihnen zeigen, was sie schon alles können und dass sie super gut gerüstet sind für die Schule. Das ist unheimlich beruhigend für die Kinder und die Eltern.“
Sprachförderung heißt: 30 Millionen Worte bis zum 3. Lebensjahr verstehen
Ein wesentlicher Bereich in der Bildung von Kindern ist die Sprachförderung. „Wir gehen in den Kindergarten rein und die Sprachförderung beginnt. Denn jedes Kind braucht 30 Millionen Worte, die bis zum dritten Lebensjahr in direkter Ansprache gehört und verstanden haben sollte.“ Die Sprachförderung bekommt auch immer mehr Bedeutung, weil durch die digitalen Medien in den Familien immer weniger gesprochen wird. Das wird auch von den Kindern stark eingefordert. Umso wichtiger ist ein guter Umgang damit. Und umso wichtiger ist, dass es im Kindergarten genügend Menschen und Münder gibt, die diese Worte sprechen können“, so die Pädagogin Brandstätter. Hinzu kommt noch die Mehrsprachigkeit vieler Kinder.
„Die Wiener Kinderfreunde stehen für Vielfalt. Wir halten das für eine Bereicherung, dass wir mehrsprachige Kinder haben, in fast allen Kindergärten. Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, haben wirklich einen tollen Startvorteil, wenn man es richtig macht. Manche Sprachen werden in Österreich leider als minderwertig angesehen und die Kinder werden dann oft angehalten, die Sprache nicht zu sprechen und dagegen steuern wir massiv an. Aber auch dafür braucht es Ressourcen.“
Der Kindergarten fängt die prekäre Arbeitswelt der Eltern auf
Der Job war auch schon vor 30 Jahren herausfordernd, erzählt die Pädagogin. Neu ist jetzt aber, dass sich die Lebenswelt der Kinder und die Arbeitswelt der Eltern stark verändert haben:
„Das Umfeld ist für Kinder schwieriger geworden und das muss der Kindergarten heute auffangen. Die Herausforderung von prekären Jobs hat zugenommen. Der Druck ist größer geworden. Der Kindergarten muss ein stabiler Partner sein, damit Eltern ihrer Arbeit nachgehen können, um nicht in die Armut abzurutschen. Und die Pädagogig:innen müssen stabile Bezugspersonen sein, weil in den Familien oft viel Druck und Unsicherheit da ist. Wir wollen den Kindern Sicherheit und Stabilität geben. Dafür braucht es auch die zeitlichen Ressourcen.“
Anerkennung für die umfassende pädagogische Arbeit gibt es kaum. „Ich zweifle manchmal daran, dass das in der Politik angekommen ist. In der Gesellschaft haben wir sicher nicht den gleichen Stellenwert wie die Schule, obwohl ja die ersten sechs Entwicklungsjahre die allerwichtigsten sind.“ Dass so viel pädagogische Arbeit im Kindergarten geleistet wird, hat sich erst in den letzten 20 Jahren durchgesetzt. “Da hat sich so viel getan, es hat sich für die Elementarpädagogik eine Wissenschaft entwickelt. Davor hat man Kindern nicht die Wertigkeit gegeben, dass sich die Forschung mit ihnen und dem kindlichen Lernen beschäftigt”, erzählt Brandstätter.
Eine Pädagogin betreut 25 Kinder
In einer Kindergartengruppe mit 25 Kindern zwischen 3 und 6 Jahren arbeiten eine Pädagogin sowie eine Assistentin mit 20 Wochenstunden. Ab Herbst werden in Wien diese Assistenz-Stunden auf 40 Stunden aufgestockt. Bei den Kleinkindergruppen betreuen eine Pädagogin und eine Assistentin 15 Kinder unter 3 Jahre. Das ist eines der größten Probleme im Alltag: Zu viele Kinder in den Gruppen, zu wenig Personal.
„Wir können den pädagogischen Auftrag nicht so optimal erfüllen, wie uns das die wissenschaftlichen Erkenntnisse sagen. Das muss man aushalten können. Der Beruf ist ein wunderbarer – ich liebe diesen Job. Gleichzeitig spüre ich, wie die Kolleg:innen hin- und hergerissen sind, zwischen dem, was sie machen wollen und dem, was in der Realität möglich ist. Das ist für viele ein großes Frustrationserlebnis.“
Viele hören deshalb nach ein paar Jahren wieder auf – oder steigen erst gar nicht in den Job ein. Nur etwa 25 Prozent von denen, die eine elementarpädagogische Ausbildung haben, arbeiten anschließend in einem Kindergarten.
Die Ausbildung soll an die Fachhochschule
Derzeit können sich 14-Jährige nach der achten Schulstufe für die Ausbildung zur Elementarpädagogin entscheiden. Die Bildungsanstalt für Elementarpädagogik (BAfEP) dauert fünf Jahre und schließt mit Matura ab. Für Martina Brandstätter wäre es ein wichtiger Schritt, dass die Ausbildung erst nach der Matura an einer Universität oder Fachhochschule beginnt, so wie bei der Volksschullehrerausbildung. Mit 14 könne man sich schwer für so einen konkreten Beruf entscheiden und gerade Buben würde es in diesem Alter schwerfallen, auf eine Kindergartenschule zu gehen. Auch wenn die Ausbildung inhaltlich sehr gut ist, mit 19 sind dann viele doch vom Berufsalltag in einem Kindergarten überfordert. Mit einer Ausbildung auf der Fachhochschule würde nicht nur die Anerkennung für die Arbeit steigen, sondern auch das Gehalt angepasst werden, glaubt Brandstätter.
„Je jünger das Kind, desto bedeutender die Entwicklungsschritte. Aber die Bezahlung der Pädagog:innen ist genau umgekehrt. Das Bildungsverständnis müsste hier auf eine Stufe gehoben werden.“
Laut SORA verdienen sie durchschnittlich 1.610 Euro netto pro Monat. Und auch an den Gruppengrößen müsste sich dringend etwas ändern:
„Die Wissenschaft sagt, es sollten maximal 15 Kinder pro Gruppe bei den 3- bis 6-Jährigen sein. Das wird in manchen Ländern auch umgesetzt. Der Betreuungsschlüssel in skandinavischen Ländern bringt mich eigentlich nur zum Träumen – so schön könnte die Welt sein.“
In Finnland etwa gibt es für vier Kinder unter drei Jahren eine Betreuungsperson, bei den über drei Jährigen kommen sieben Kinder auf eine Betreuerin.
Mehr Aufmerksamkeit durch die Pandemie
Die Pandemie hat die Situation nochmals verschärft, aber auch gezeigt, wie wichtig die Arbeit des Kindergartens ist. Seit sich die Elementarpädagog:innen gemeinsam organisieren und für bessere Bedingungen protestieren, gibt es auch mehr Aufmerksamkeit.
„Der Kindergarten war immer geöffnet war – und das mit zu wenig Personal. Die Wertschätzung ist massiv gestiegen bei den Eltern, weil sie gesehen haben, was passiert, wenn eine Gruppe in Quarantäne geschickt wird. Wie sehr wir den Kindern als zusätzliche Bezugspersonen fehlen und wie sehr ihnen der soziale Kontakt mit den anderen Kindern fehlt.“
Kleinere Gruppen, mehr Personal, mehr Geld: Das fordern die Pädagog:innen
Bereits vergangenen Herbst haben die Pädagog:innen auf ihre dramatische Arbeitssituation aufmerksam gemacht, die sich durch Corona verschärft hat. An zwei Protesttagen sind rund 6.000 von ihnen auf die Straße gegangen – aus privaten und öffentlichen Einrichtungen. Passiert ist seitdem nicht viel. Für die Kindergärten sind grundsätzlich die Bundesländer zuständig, sie machen die Vorgaben zur Gruppengröße und dem Betreuungsschlüssel. Für die Ausbildung und Budget (15a-Vereinbarung) ist vor allem die Bundesregierung verantwortlich – und es geht vor allem auch ums Geld. Die Pädagogin:innen wollen ein einheitliches Bundesrahmengesetz – und mehr Geld aus der Bund-Länder-Vereinbarung für die Kindergärten. Aktuell wird über eine neue Vereinbarung verhandelt.
Die Politik habe wiederholt mehr Mittel für die Kindergärten in Aussicht gestellt, so die GPA-Vorsitzende Barbara Teiber bei der Demo. Die Arbeitsbedingungen seien aber nicht besser geworden. „Die elementare Bildung ist seit Jahren systematisch unterfinanziert und die politisch Verantwortlichen schieben sich die Zuständigkeit gegenseitig zu. Wenn sich da nicht rasch etwas ändert, werden die heutigen Proteste sicher nicht die letzten sein!“, kündigte sie an.
Das fordert die Gewerkschaft |
Forderungen der Gewerkschaft Younion an die Regierung (öffentliche Kindergärten):
Auch die GPA-djp und die Angestellten privater Träger fordern:
Über 10.000 Personen haben ihre Petition bereits unterschrieben. |