Im Rennen um die französische Präsidentschaft hat ein Kandidat der Linken den Hauch einer Chance: Jean-Luc Mélenchon. Der 70-Jährige “linke Populist” will mit einer „Steuerrevolution“ weniger Steuern für arbeitende Menschen und höhere Abgaben auf Vermögen. Mélenchon will das Pensionsalter von 62 auf 60 senken, den Mindestlohn auf 1.400 Euro netto erhöhen und eine Demokratisierung des politischen Systems durch eine “6. Republik”. Seit März legt Melenchon stetig zu, doch seine Chance auf die Stichwahl bleibt klein.
Bald wird gewählt in Frankreich, und seit den letzten Wahlen 2017 haben sich die Karten der Parteien komplett neu gemischt. Die beiden ehemaligen Volksparteien sind nahezu bedeutungslos, vor allem die Sozialistische Partei PS, die von 2012-2017 noch den Präsidenten gestellt hatte: Mit Umfragewerten von 2 Prozent der Stimmen liegt sie heute sogar unter der als Kleinstpartei geltenden Kommunistischen Partei. Und das, obwohl PS-Kandidatin Anne Hidalgo in der Hauptstadt Paris seit 2014 Bürgermeisterin ist und sich dort zumindest einiger Beliebtheit und Bekanntheit erfreut. Letzteres vor allem, weil sie vorhat, Paris bis 2024 zu einer autofreien Stadt zu machen. In Talkshow-Auftritten kommt sie allerdings fade daher. Linke Wähler:innen haben sich aufgeteilt, und sind entweder in die liberale Mitte gerückt, hin zu Macron‘s Partei LREM, oder weiter nach links.
Melenchon als einziger linker Kandidat von Bedeutung
Dort, weiter links also, tut sich in Frankreich ein großes Sammelsurium an weiteren Unwichtigkeiten auf. Da ist etwa Philippe Poutou mit seiner „Neuen antikapitalistischen Partei“, Liebling mancher Linksintellektueller mit Revolutionsfantasien, aber stabil bei 0,5 Prozent in den Umfragen. Da ist – kaum noch erwähnenswert – die Trotzkistin Nathalie Arthaud, um die es zahlenmäßig ähnlich steht. Da ist Fabien Roussel aus besagter Kommunistischer Partei, der mit seinen 3 bis 3,5 Prozent zwar über Hidalgo und den anderen beiden liegt, aber dennoch keine realistischen Chancen auf irgendetwas hat. Einen Deut besser steht es um Yannick Jadot von der ökologischen Partei, früher Greenpeace-Aktivist und später für die Grünen im Europaparlament. Für viele Linke zu bürgerlich-mittig; für die Bürgerlich-Mittigen wiederum zu links. Jadot liegt bei 5 Prozent.
Da in Frankreich alles auf eine Stichwahl hinausläuft, bei der nach der ersten Runde bis auf zwei Parteien alle rausfliegen, zählen Kleinbewerber:innen wie die oben genannten umso weniger. Nur ein linker Kandidat hat da im Moment Bedeutung: Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei „Unbeugsames Frankreich“ (FI). Bei den letzten Präsidentschaftswahlen lag er noch im Kopf-an-Kopf-an-Kopf-Rennen mit der rechtsextremen Marine Le Pen und dem jetzigen Präsidenten Emmanuel Macron. Heute liegt er mit rund 14 Prozent in den Umfragen recht weit hinter den beiden.
Fast ein Drittel will nicht zur Wahl gehen
Angesichts dieser linken Zersplitterung in der Parteienlandschaft hatte sich bereits im Sommer 2021 die Initiative „Primaire populaire“ gegründet. Sie rief dazu auf, von allen linken Kandidat:innen eine einzige in die erste Wahlrunde zu schicken, um eine Chance auf die Stichwahl zu ermöglichen. Wer das sein sollte, wollte die Initaitive im Januar wählen lassen. Das Projekt wurde von Promis wie der Schauspielerin Juliette Binoche unterstützt, von Intellektuellen und der Gelbwesten-Sprecherin Priscilla Ludosky unterstützt. Sie sammelte 200.000 Unterschriften und erhielt einiges an medialer Aufmerksamkeit. Allerdings war die Sache bald erledigt, denn weder der Grüne Jadot noch der erfolgreichste Linke Mélenchon unterstützten das Projekt. Die Gegnerschaft unter den verschiedenen linken Kandidat:innen und auch unter ihren Anhänger:innen war offenbar unterschätzt worden. Nun teilen sich die linken Wähler:innen auf hartnäckige Kleinparteien auf – oder enden in frustrierter Wahlenthaltung. Umfragen zufolge wollen 29,5 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht wählen gehen – das ist fast ein Drittel. Wenn das wirklich eintritt, würde sogar der historische Rekord von 2017 (22,23 Prozent Nichtwähler:innen in der ersten Runde) deutlich übertroffen.
Abstand zwischen Melenchon und LePen wird seit März immer kleiner
Der Blick auf Mélenchon und seine Beliebtheitswerte sorgte zuletzt für umso mehr Spannung. Obwohl er an Le Pen (21 Prozent) und Macron (28 Prozent) nicht herankommt, hat er seit Mitte März schlagartig von ca. 11 Prozent auf aktuell 14 aufgeholt. Andere Umfragen sehen ihn bei über 15 Prozent sogar noch weiter vorne und Marine Le Pen mit knapp 18 weiter hinten. Der Abstand zwischen den beiden hat sich seit März stetig verringert. Seitdem lässt Mélenchon keine Gelegenheit aus, seine realistischen Chancen auf die Stichwahl zu betonen – um mehr Menschen zur Wahl zu mobilisieren. Besonders beliebt ist der 70-jährige Linke bei den jungen Wähler:innen zwischen 18 und 24 Jahren, dort liegt er mit 26% sogar an erster Stelle in Umfragen.
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Der Kandidat der FI ist allerdings nicht unumstritten. Was er kann: Linken Populismus. Dafür wird der 70-Jährige sowohl gefeiert als auch verabscheut. Beliebt macht er sich bei vielen mit seinem Versprechen einer „Steuerrevolution“. Tatsächlich ist das Programm im Vergleich zu Macron‘s aktueller Politik eine Kehrtwende. Auf der Webseite von FI findet sich ein Simulator, der anhand von Kinderanzahl und Gehalt errechnet, wie viel Steuern man aktuell zahlt und wie viel mehr oder weniger es unter einer Regierung Mélenchon wäre. Eine klare Entlastung von Geringverdienenden und eine umso deutlichere Belastung von Vielverdienenden liest sich daraus ab. FI will außerdem das Renteneintrittsalter von 62 auf 60 herabsetzen, eine finanzielle Hilfe für junge Leute einrichten und den Mindestlohn auf ein Monatsgehalt von 1.400 Euro netto erhöhen (aktuell ca. 1.269 Euro). Neben einem umfassenden Sozialprogramm plant Mélenchon als einer der wenigen Kandidat:innen den Atomausstieg und den kompletten Umstieg auf erneuerbare Energien. Das hochgiftige Pestizid Glyphosat soll verboten werden, Werbung für umweltverschmutzende Produkte ebenfalls. Die Verstaatlichung der Stromversorgung soll einige Privatisierungsprojekte von Präsident Macron rückgängig machen.
Ermittlungen gegen nahestehende Organisation wegen Fälschung und Betrug
Umso schlimmer für die Glaubwürdigkeit der Partei, dass nun gegen die ihr untergeordnete Organisation „L‘ère du peuple“ („Die Ära es Volkes“) wegen Betrug und Fälschung ermittelt wird. Tatsächlich übernimmt der Staat die Wahlkampfkosten aller Parteien, die über 5 Prozent der Stimmen erhalten. Im Wahlkampf 2017 soll die Organisation, eng verzahnt mit der Partei FI, gefälschte und überteuerte Rechnungen eingereicht haben. Der Fall schwelt schon seit ein paar Jahren vor sich hin, im März sind neue Indizien und Beschuldigungen dazugekommen. Trifft der Vorwurf zu, handelt es sich um eine unrechtmäßige Bereicherung an Steuergeldern in Millionenhöhe.
Als wäre das nicht genug, wetterte Mélenchon gegen die Medien, als 2018 erstmals etwas von dem Fall ans Licht kam. „Wir müssen Tausende sein, die sagen: Die Journalisten bei France Info [Sender des öffentlich-rechtlichen Radios, Anm. d. R.] sind Lügner und Schummler“, äußerte Mélenchon in einem Video auf Social Media. Mit solchen und anderen Ausrastern gegen die Presse haftet dem FI-Kandidaten etwas Unsouveränes und vor allem Autoritäres an.
Anti-Korruption und die “sechste Republik”
Immerhin sind es aber auch Mélenchon und seine Partei, die ein vergleichsweise entschiedenes Programm gegen Korruption entworfen haben. Ein Kernprojekt ist die Umgestaltung des aktuellen Präsidialsystems. In den aktuellen Regelungen hat der französische Präsident ein großes Machtmonopol – er allein benennt Minister:innen, verabschiedet Dekrete und kann eine Reihe von Entscheidungen treffen. Unter dem Namen „sechste Republik“ möchte FI den Präsidenten entmachten und das aktuelle System („die präsidentielle Monarchie“) reformieren und demokratisieren. Herzstück dieser Idee ist eine verfassungsgebende Versammlung. Auch das Parlament möchte Mélenchon demokratischer gestalten, Parlamentsabgeordnete sollen künftig per Volksabstimmung abberufen werden können. Lobbyisten dürfen demnach nicht ins Parlament, und Abgeordnete, die für Korruption verurteilt werden, sollen nicht mehr wählbar sein.
Das Thema, für das sich der FI-Kandidat am meisten Empörung einfängt, sind seine außenpolitischen Positionen. Seit Jahren hält Mélenchon an einem NATO-Austritt fest, daran hat auch der Ukraine-Krieg nichts geändert. Tatsächlich verfolgt Mélenchon eine antiimperialistische Linie und möchte alternative Allianzen in den internationalen Beziehungen schmieden. Bei den letzten Wahlen war es das, was kurz vor der ersten Runde Mélenchon’s Beliebtheitswerte absinken ließ. Vielleicht gelingt im dieses Mal eine umgekehrte Wende.