Die Regierung nimmt keine Kinder aus Moria auf, greift die unabhängige Justiz an und verliert an Zustimmung. Altbundespräsident Heinz Fischer kritisiert im Interview mit KONTRAST einen Regierungsstil, der in erster Linie auf gute Schlagzeilen ausgerichtet ist. Die Grünen hält Fischer für stärker, als sie selbst glauben, denn die ÖVP habe keine realistische Alternative mehr.
Wie beurteilen Sie die Leistung der im Amt befindlichen türkis/grünen Regierung von Kurz und Kogler?
Heinz Fischer: Diese Regierung hat Anfang 2020 einen beträchtlichen Vertrauensvorschuss erhalten. Aber ähnlich wie bei der Regierung Kurz/Strache gehen die Zustimmungswerte inzwischen deutlich nach unten, die Nervosität steigt, die Zahl der Fehler nimmt zu und das ganze System funktioniert nicht mehr so richtig.
Warum funktioniert es nicht?
Fischer: Es funktioniert in der Theorie und bei Schönwetter ohne Gegenwind. Aber wenn Situationen entstehen, die im Drehbuch nicht vorgesehen waren, wenn die Messagecontrol nicht funktioniert, dann bricht Panik aus.
Von der ÖVP gab es zuletzt heftige Angriffe auf die Justiz. Wie kann man die Justiz und ihre Unabhängigkeit gegen solche Angriffe schützen?
Fischer: Am wichtigsten ist eine starke und breite Reaktion der Zivilgesellschaft gegen Versuche, die Justiz und vor allem die Antikorruptions-Staatsanwaltschaft unter Druck zu setzen. Wenn sie das tut, was ihre gesetzliche Aufgabe ist, nämlich Verdachtsmomenten nachzugehen und zu prüfen, ob ein strafbarer Tatbestand vorliegt oder nicht. Auch die Medien haben in einer solchen Situation eine wichtige Aufgabe.
Wenn man sich vor Augen hält, was in den letzten Monaten passiert ist: Sehen Sie den Rechtsstaat in Österreich in Gefahr?
Fischer: Nein, unser Rechtsstaat ist ziemlich stabil und er hat bisher jedem politischen Druck Stand gehalten. Ich glaube sogar, dass die öffentliche Aufmerksamkeit derzeit so stark auf die Justiz gerichtet ist, dass jeder Versuch einer politischen Intervention ziemlich riskant ist.
Gibt es in Österreich mehr politische Korruption als in anderen europäischen Ländern?
Fischer: Das glaube ich eigentlich nicht. Aber es gibt eine Grauzone an der Grenze zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen. Ein Journalist hat das kürzlich dezent mit folgenden Worten beschrieben: „Ich weiß, was Du brauchst und Du weißt, was ich brauche.“ Das Strafrecht setzt hier Grenzen und diese Grenzen müssen eingehalten werden.
Was werfen Sie der Regierung am meisten vor?
Fischer: Es gibt viele Bereiche, wo ich mit der Politik der Regierung nicht einverstanden bin. Ganz besonders geschmerzt hat mich die Härte mit der knapp vor Weihnachten von der Regierung alle Vorschläge und Angebote blockiert wurden, wenigstens eine kleine Zahl von Kindern aus den unerträglichen Verhältnissen im Flüchtlingslager Moria zu retten und in Sicherheit zu bringen. Und der Versuch einer Rechtfertigung, dass Österreich im vergangenen Jahr ohnehin 5.000 Kinder aus dem Ausland aufgenommen hat, hat sich inzwischen als unwahr herausgestellt.
Wie beurteilen Sie die Politik der Regierung gegen die Pandemie, die uns seit mehr als einem Jahr in Atem hält und unter Druck setzt?
Fischer: Ich bewundere die aufopfernde Arbeit der Ärzte und Ärztinnen, des medizinischen Personals, der Hilfsorganisationen, der Wissenschaftler/innen und vieler anderer.
Was die Tätigkeit der Regierung betrifft, kann und soll sich jeder selbst ein Bild machen – wobei ich aber zugebe, dass die Situation wirklich schwierig ist.
Sollte die Koalition zwischen Kurz und den Grünen scheitern – könnten Sie sich dann eine Regierungszusammenarbeit zwischen SPÖ und ÖVP vorstellen?
Fischer: Ich schätze Pamela Rendi-Wagner viel zu sehr, als dass ich ihr zu dieser Frage öffentlich Ratschläge erteilen würde. Aber nachdem es das Ziel der Türkisen war, die Koalition zwischen SPÖ und ÖVP zu beenden – was auch gelungen ist – und nachdem dann von Bundeskanzler Kurz auch die Koalition mit der FPÖ über Bord geworfen wurde, müsste für den Fall, dass auch die türkis/grüne Regierung scheitern sollte – was ich persönlich nicht erwarte – mit besonderer Sorgfalt überlegt werden, welche Konsequenzen aus dem (allfälligen) Scheitern von drei Koalitionsvarianten unter der Führung von Sebastian Kurz zu ziehen sind. Ich bin übrigens der Meinung, dass die Grünen in der derzeitigen Situation viel stärker sind, als sie selbst annehmen, weil die türkise ÖVP in Wahrheit keine realistische Alternative zur Koalition mit Grün hat.