Unser Gesundheitssystem ist überlastet. Man wartet immer länger auf Termine und immer mehr Beschäftigte im Gesundheitssystem sind überarbeitet. Wir haben mit Dr.in Miriam Hufgard-Leitner, Oberärztin in AKH und Vorsitzende des SPÖ-Expert:innen-Rats für Gesundheit gesprochen. Ihre Analyse: Das Gesundheitssystem wurde in den letzten Jahren vernachlässigt. Den Schaden tragen die Patient:innen und Beschäftigte. Um unser Gesundheitssystem wieder tragfähig zu machen, braucht es grundlegende Reformen. Die Bundesregierung bleibt hier aber untätig.
Gesundheitssystem: “noch schlechter können wir uns nicht leisten”
Kontrast: Österreich hatte jahrelang eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. In den letzten Jahren ist aber die Qualität der Versorgung schlechter geworden. Woran liegt das?
Miriam Hufgard-Leitner: Die Menschen merken jetzt, dass das Gesundheitssystem schlechter funktioniert. Sie bemerken das anhand der Wartezeit für eine Operation oder dem Fehlen von Hausärzt:innen. Es ist ein schleichender Prozess, den wir unbedingt aufhalten müssen, weil noch schlechter können wir uns eigentlich nicht mehr leisten. Nicht nur finanziell, sondern auch was das persönliche Leid betrifft.
Die Ursachen würde ich wie folgt aufzählen: Ein Mismatch zwischen Angebot und medizinischem Bedarf sowie Infrastruktur, Personalmangel, fehlendes Service und weniger Ressourcen. Das alles wird zunehmend hinter der „Fassade“ erzählt: “Gesundheit ist pure Selbstverantwortung und eine Frage des Lifestyles.”
Gesundheit ist mehr als Lifestyle – sondern eine gesellschaftliche Aufgabe
Kontrast: Kannst du das ausführen?
Hufgard-Leitner: Unter der türkisen ÖVP gibt es einen anderen politischen Zugang zum Thema Gesundheit. Dieser fokussiert stark die „Individualisierung der Gesundheitsfrage“. Also gesund bleiben ist die Aufgabe des Individuums: gesunde Ernährung, gesundes Verhalten, Bewegung, Lebensstil, Nichtrauchen etc. Damit einhergehend die Empfehlung zur Privatversicherung. Das ist ein Trend, der sich vom sozialdemokratischen Grundbekenntnis verabschiedet, nämlich dass Gesundheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt.
Hinter dieser Individualisierung wurde Geld in Umstrukturierung gepumpt, die zuletzt von den Akteur:innen selbst als „Gags“ bezeichnet wurde, Stichwort Patientenmilliarde. Diese Aussage tut unglaublich weh, vor allem denen, die täglich um die Gesundheit der Einzelnen bemüht sind, oder die auf eine Therapie warten müssen. Dahinter steckt meiner Meinung aber auch die Erzählung: Gesundheit ist Eigenverantwortung und Lifestyle. Damit wird das Fehlen einer nachhaltigen Strategie „verborgen“. Dadurch wird es aber für alle teurer – auch wenn es kurzfristig bessere Schlagzeilen bringt.
@kontrast.at Die Patienten-Milliarde war von Anfang an eine Lüge. Das wissen wir heute. Die Kassenreform von ÖVP und FPÖ hat dem Gesundheitssystem nicht mehr Geld gebracht, sondern ihm Unsummen entzogen. Das Ergebnis: lange Wartezeiten, überfüllte Spitäler und überarbeitetes Personal. Mehr dazu kannst du hier lesen: https://kontrast.at/oevp-fpoe-regierung-gesundheit/ #fyp #österreich #politik #gesundheit #gesundheitssystem #övp #fpö
Diese beiden Komponenten stoßen auf eine bröckelnde Infrastruktur: Es fehlen die Ansprechpersonen! Wir haben eine hohe Dichte an Ärztinnen, aber nicht im öffentlichen System. Hausärztinnen und Hausärzte sind in Pension gegangen und wurden nicht nachbesetzt.
Dazu kommt, dass die Arbeitsbedingungen in öffentlichen Spitälern und anderen Gesundheitseinrichtungen oft schwierig sind. Es gibt zu wenig Personal und die Beschäftigten sind oft überarbeitet. Hier ist es auch wieder das Individuum, dass das System am Laufen hält. Die Ärztin, die Pflegekraft, die über ihre eigenen Grenzen geht, damit die Patient:innen gut versorgt sind.
Diese schlechten Arbeitsbedingungen treiben die Arbeitskräfte dann in die Privat-Ordinationen, wo sie sich die Arbeit besser einteilen können. Das verstärkt dann natürlich wieder den Personalmangel im öffentlichen System.
Besonders ist dies zu merken auf der Ebene der Primärversorgung. Weil dort oft der oder die erste Ansprechpartner:in fehlt, gehen die Menschen direkt zur Fachärztin, zum Facharzt. Auf dieser zweiten Stufe ist das Mismatch noch ausgeprägter, weil sozusagen der Case Manager fehlt.
Kontrast: Kannst du kurz erklären, was ein Case Manager ist?
Hufgard-Leitner: Jemand, der den Überblick über die Krankengeschichte eines Patienten oder einer Patientin hat. Dazu gehört sowohl der Überblick über die Aktualität des Impfpasses, der Vorsorgeuntersuchungen etc. und die Vermittler:innenrolle im Krankheitsfall, zum Beispiel weiter überweisen an die Fachärztin.
Durch die Aushöhlung der Primärversorgung als Case Manager:innen stehen viele Menschen jetzt alleine da. Dieser Orientierungsverlust führt ganz stark zur Versorgungsunsicherheit. Das fehlende Case Management führt auch zu einem Mismatch von Terminen und zu Untersuchungen, die nicht notwendig wären.
Wir haben verschlafen, die Primärversorgung auszubauen
Kontrast: Wieso ist die Primärversorgung geschwächt worden? Wieso ist da das Angebot nicht groß genug für die Nachfrage?
Hufgard-Leitner: Wir haben verschlafen, die Primärversorgungszentren so auszubauen, dass sie der Nachfrage gerecht werden. In der Einzelpraxis ist es so, dass einzelne Kolleg:innen auch sehr komplexe Fragestellungen alleine bearbeiten müssen. In einem Primärversorgungszentrum ist das anders. Dort hat die Ärztin oder der Arzt Unterstützung von einer Pflegekraft, einem kleinen Labor und von Angehörigen verschiedener medizinischer Disziplinen. Da kann mehr vor Ort geleistet werden. Es sind auch andere Öffnungszeiten möglich.
Wir sehen auch, dass vor zehn Jahren dieses Modell von den Kolleg:innen selbst noch gar nicht anerkannt war und gar nicht akzeptiert war. Jetzt wird es auch unter den Kolleg:innen immer attraktiver.
Kontrast: Also braucht es einen Ausbau der Primärversorgungszentren, um den Bedarf an medizinischer Versorgung zu decken?
Hufgard-Leitner: Ja, unbedingt. Das gilt auch ganz stark für den ländlichen Raum. Denn dort gibt es noch weniger Infrastruktur und der Weg führt oft direkt ins Spital. Das ist natürlich am teuersten, weil am meisten Ressourcen verbraucht werden und am wenigsten Case Management gemacht wird.
Dennoch will ich festhalten, dass es bei uns immer noch sehr gut läuft, wenn man es international vergleicht. Nur ist immer mehr auf das Engagement der Einzelnen aufgebaut, der einzelnen Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten.
Wenn man krank ist, bekommt man in Österreich nach wie vor eine sehr gute Versorgung. Aber die Menschen merken: So wie ich das gewohnt war, ist das nicht mehr. Ich muss jetzt plötzlich warten. Und zehn Monate mit einer schmerzenden Hüfte auf eine OP warten – das sollte niemand durchmachen müssen! Oft wird nach Zusatzversicherungen gefragt. Das verunsichert die Menschen umso mehr, weil der Eindruck entsteht, es wäre eine Frage des Geldes, wenn sie früher dran kommen wollen.
Was wir brauchen ist ein langfristiges, vorausschauendes Konzept für den Gesundheitsbereich, das diese Missstände wirklich lösen will. So etwas sehe ich derzeit aber nicht.
Gesundheitssystem statt Krankheitssystem
Kontrast: Was sind weitere große Herausforderungen im Gesundheitssystem?
Hufgard-Leitner: Viele Menschen finden sich im Gesundheitssystem nicht zurecht. Mein Eindruck ist, dass es da dringend mehr Orientierung bräuchte. Hier braucht es Personal, das den Menschen den Weg durchs Gesundheitssystem zeigt und Ansprechpartner für Fragen ist. Denn dann ist es für alle transparent und nachvollziehbar.
Die andere große Baustelle ist sicher die demografische Herausforderung, nämlich sowohl des Personals als auch der Patient:innen. Wir werden zum Glück immer älter. Aber natürlich wird auch medizinisches Personal immer älter und dadurch auch immer kränker. Dieser demografischen Entwicklung muss man auf vielen Ebenen begegnen. Ein wichtiger Schritt dafür ist, dass wir uns bemühen müssen, so lange wie möglich gesund zu bleiben. Dafür braucht es ein System, das darauf ausgerichtet ist, die Bevölkerung gesund zu halten und nicht nur im Krankheitsfall zu behandeln. Ein echtes Gesundheitssystem setzt andere Hebel schon zu einem ganz anderen Zeitpunkt ein als ein krankheitsorientiertes System, das erst dann aufs Tapet tritt, wenn man bereits krank ist.
Kontrast: Das heißt, wir brauchen einen stärkeren Fokus auf Prävention?
Hufgard-Leitner: Ganz genau. Und zwar von Anfang an, also ab dem Eltern-Kind-Pass. Wir brauchen eine gute Begleitung, Früherkennungssysteme und ein gutes Screening, Anlaufstellen, wo die Menschen Hilfe bekommen, um gesund zu bleiben. Und: Das Einrichten einer Work-Life-Balance, also dass man neben einer Vollzeitbeschäftigung gesund bleiben kann. Diese Balance ist eine ganz wesentliche Baustelle des Gesundheitssystems.
Weniger arbeiten macht uns gesünder
Kontrast: Führt denn Überarbeitung im Beruf zu Krankheitsbildern?
Hufgard-Leitner: Ja, ganz sicher. Hier ist schon viel belegt: Der sogenannte sitzende Lebensstil bringt etwa Krankheiten wie Adipositas, Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats. Außerdem gibt es medizinische Studien zur Zeitarmut, die zeigen, dass die Bevölkerung einfach zu wenig Zeit hat, um Dingen nachzugehen, die uns gesund bleiben lassen.
Man braucht nur mal an sich selber zu denken. Ich arbeite viel und denke mir oft, wenn ich im Bett liege: Was habe ich heute schon wieder Ungesundes gegessen, weil ich nicht zum Mittagessen gekommen bin? Sport habe ich schon viel zu lange nicht mehr gemacht und wie schaut es eigentlich aus mit einem netten Abend, der mir sehr guttun würde, auch um psychisch gesund zu bleiben? Ich weiß von meinen Patient:innen, dass wir da alle im gleichen Boot sitzen.
Es ist schon ein Unterschied, wenn ich glaube, dass diese mangelnde Zeit mein persönlches Versagen ist. Dass ich also schuld bin, wenn es mir nicht gelingt, neben Mutterschaft, Familienmanagement, Vollzeitarbeit usw. gesund zu bleiben.
Meinen Patient:innen sage ich ganz klar: Das ist kein persönliches Versagen, sondern ein gesellschaftliches Problem! Für ein gelungenes, gutes, gesundes Leben braucht es ausreichend Zeit. Ich bin überzeugt, dass eine Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohnausgleich eine ganz wichtige gesundheitspolitische Maßnahme wäre, weil wir alle mehr Zeit brauchen, um gesund zu bleiben.
Kontrast: Das heißt, eine Arbeitszeitreduktion bei vollem Lohn würde sozusagen automatisch Kosten im Gesundheitssystem sparen?
Hufgard-Leitner: Ja, davon bin ich überzeugt. Es gibt Vorstudien, aber wir brauchen hier mehr Erkenntnisse. Ich würde sehr gern untersuchen, wie sich eine gesunde Vollzeit auf die Gesundheitsdaten der Bevölkerung auswirkt. Das wäre eine wirklich sinnvolle Studie.
Einsamkeits-Forschung als Beispiel für Prävention
Kontrast: Was sind darüber hinaus die wichtigsten Maßnahmen, damit Menschen seltener krank werden?
Hufgard-Leitner: Wir bäruchten eine gute Versorgungsforschung. Ganz viele Dinge, die wir glauben zu wissen oder logisch finden, haben wir nicht mit Daten belegt. Zum Beispiel die Einsamkeits-Forschung: Wir wissen, extrem viele Menschen sind immer einsamer und wir wissen, dass das viele von ihnen krank macht. Wir wissen aber nicht genau, welche gesamtgesellschaftliche Maßnahme es braucht, um Einsamkeit einzudämmen.
Ein großes Problem ist außerdem unser sitzender Lebensstil und fehlende Bewegung. Das ist besonders fatal, wenn es mit einer schlechten Ernährung zusammenfällt. Ich arbeite an der Adipositasambulanz und in der Diabetesambulanz der Uniklinik. Ich sehe tagtäglich die krankmachende Wirkung von Überernährung und Fehlernährung.
Auch hier müssen wir weg von der individuellen Verantwortungserzählung. Man muss nur in einen Supermarkt gehen und dann sieht man, was billig und was teuer ist und dann braucht sich niemand wundern, dass wir in der Lage sind, in der wir uns befinden.
Deshalb gibt es immer mehr Wahlärzt:innen
Kontrast: Aktuell wird oft von einem Ärzt:innen-Mangel gesprochen. Vor allem wechseln viele von ihnen aus dem öffentlichen in den privaten Bereich. Wieso ist das so? Und wieso sind gerade die Bereiche Frauen- und Kinderheilkunde so stark davon betroffen?
Hufgard-Leitner: Das sind sehr komplexe Fragen und meine Antwort wird sicher nicht ausreichen. Wir müssen davon wegkommen, dass wir Wahlärzt:innen für Menschen halten, die es sich bequem machen und ausschließlich dem Geld folgen. Ganz häufig sind das Ärzt:innen, die mit der Medizin, die sie derzeit anbieten, so nicht einverstanden sind. Sie wollen gern mehr Zeit für die Patient:innen und auch mehr Zeit für ihre Familie haben. Diese Work-Life-Balance ist für das Gesundheitspersonal schon lange aus den Fugen geraten. Viele meiner weiblichen Kolleginnen sehen, dass sie im Wahlarztsystem Vereinbarkeit besser leben und die Ärztin sein können, die sie sein wollen. Das führt zu einer Abwanderung aus dem öffentlichen System.
Meiner Meinung nach braucht es daher eine Entlastung des Personals im öffentlichen System. Also bessere Arbeitsbedingungen, bessere Lösungen für Kolleg:innen mit Betreuungspflichten, bessere Karrieremodelle. Außerdem braucht es für die Patient:innen mehr Sozialarbeiter:innen, Schulungspersonal, Psychotherapeut:innen usw.
Darüber hinaus muss der Leistungskatalog verbessert werden. Denn die sogenannte sprechende Medizin, also ein gutes Gespräch, eine ausführliche Anamnese, wird nur unzureichend abgegolten. Genau das vermissen Patient:innen etwa in der Kinder- sowie der Frauenheilkunde, wo es einfach mehr Zeit braucht. Doch das kann eine Ärztin aktuell eher als Wahlärztin anbieten.
Zusätzlich haben die Kinderärzt:innen einen sehr großen Auftrag an Vorsorgeuntersuchung. Das ist ein enormer Aufwand und das passiert oft wie am Fließband. Die Kinderärztinnen und -ärzte sind gezwungen, sehr schnell ihre Verantwortlichkeiten abzuhaken und das ist oft unbefriedigend. Gerade für Ärztinnen, die sehr sorgfältig sind, besonders patientenorientiert arbeiten und einen sehr hohen Anspruch an ihre Behandlungsqualität haben.
Klimawandel als Gesundheitsrisiko
Kontrast: Es war in den letzten Jahren bereits mehrmals der Fall, dass wir in Österreich mehr Hitzetote als Verkehrstote hatten. Wie müssen wir unser Gesundheitssystem reformieren, um mit den Konsequenzen des Klimawandels umgehen zu können?
Hufgard-Leitner: Ich finde, das ist eine Frage, die bisher im Gesundheitssystem viel zu wenig beachtet wurde.
Wir müssen erkennen, dass der Klimawandel die größte Bedrohung für die Gesundheit des Einzelnen und der gesamten Gesellschaft ist. Daher müssen wir unser Gesundheitssystem auf den Klimawandel vorbereiten.
Wir müssen im urbanen Raum die Hitze-Inseln vermeiden sowie Wohnungen und Arbeitsstätten so gestalten, dass die Leute sich dort kühlen können. Wien macht da schon sehr viel und handelt vorausschauend. Aber: Zahlreiche Auswirkungen auf das Gesundheitssystem können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht abschätzen.
So geht es den Beschäftigten im Gesundheitssystem
Kontrast: Wie geht es den Beschäftigten im Gesundheitssystem?
Hufgard-Leitner: Ich arbeite, wie sehr viele meiner Kolleg:innen, irrsinnig gern für die Gesundheitsversorgung der Menschen. Das ist für mich ein wichtiger Auftrag, meine Identität. Ich gehe mit einem guten Gefühl nach Hause, wenn ich weiß, dass meine Patient:innen gut versorgt sind und es gut gelaufen ist.
Es ist aber auch oft frustrierend, wenn ich viele Dinge nicht lösen kann,weil es an Infrastruktur und Zeit fehlt. Zum Beispiel fehlt mir oft am allermeisten eine Sozialarbeiterin an meiner Seite, die meine Patient:innen unterstützt. Sonst hat man das Gefühl, dass die Patient:innen alleine gelassen werden. Das belastet mich sehr – und viele andere auch!
Ich organisiere so viele Dinge mit, obwohl ich für die gar nicht zuständig bin, weil ich weiß, dass es niemand anderer machen wird und der/die Patient:in es nicht alleine machen kann. So geht es vielen Kolleginnen und Kollegen.
Das System baut immer mehr auf Heldinnen und Helden. Und die Frage ist, wie lange können die Heldinnen noch durchhalten?
Menschen, die im Gesundheitssystem arbeiten, sind bereit, Aufgaben für die Gesellschaft zu übernehmen. Man sollte sie also unbedingt im Sozialstaat halten. Das macht mich schon sehr traurig, wenn Kolleg:innen das Gefühl haben, dass sie ausgenutzt werden oder sie nicht so arbeiten können, wie sie gern wollen würden oder die Versorgung auf ihren ganz persönlichen Kosten passiert. Das ist jetzt einfach der Fall.
Mehr Ressourcen, mehr Ansprechstellen, mehr Zusammenarbeit
Kontrast: Wenn du morgen Gesundheitsministerin wärst, was wären die ersten Dinge, die du machen würdest?
Hufgard-Leitner: (lacht) Also das Wichtigste: Das Gesundheitssystem braucht mehr Ressourcen. Mehr Geld, mehr Personal, viel mehr Forschung.
Die Gesundheit unserer Bevölkerung ist unser höchstes Gut, das darf uns auch etwas kosten.
Viele Menschen haben den Eindruck, keinen stabilen Ansprechpartner zu haben, wenn sie krank sind oder gesund bleiben wollen. Daher würde ich – zweitens – alle an einen Tisch einladen und einen großen gemeinsamen Fahrplan festlegen, um Ansprechstellen wie Primärversorgungszentren, Fachärzt:innenzentren auszubauen und deren Aufgabenbereiche sowie Services an die Menschen zu kommunizieren.
Drittens muss man sich der Tatsache zuwenden, dass wir vor massiven demografischen Herausforderungen stehen. Diesen muss das Gesundheitssystem mit einem maximalen Bekenntnis zur Gesundheitserhaltung begegnen. Es braucht also den Ausbau von Früherkennungsmaßnahmen, Vorsorgeuntersuchungen und präventioneller Medizin. Dieses Bekenntnis muss unbedingt in andere politische Verantwortungsbereiche hineinragen, gemeinsam gedacht und umgesetzt werden. Das betrifft Bereiche wie Armutsbekämpfung, Arbeitsbedingungen, Bildungsangebote, Infrastruktur, Mobilität, Gewaltschutz, Nachhaltigkeit, Wohnen und natürlich Klimaschutz.
Dr.in Miriam Kristin Hufgard-Leitner, MSc. ist Oberärztin für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Wien und dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien (AKH). Sie beschäftigt sich sowohl in der Praxis als auch in der Forschung mit sogenannten “Volkskrankheiten” wie Diabetes, von denen tausende Menschen betroffen sind, genauso wie mit “seltenen Krankheiten”, an denen in Österreich nur eine Handvoll Menschen erkranken.
Sie ist Vorsitzende des SPÖ Expert:innen-Rats für Gesundheit. Gemeinsam mit anderen Expert:innen aus ihrem Bereich erarbeitet sie ein Konzept für eine Gesundheitsreform, die unser angeschlagenes System repariert, auf stabile Beine stellt und gewährleistet, dass alle Menschen in Österreich gut versorgt sind.