Ilija Trojanow macht sich auf die Suche nach Alternativen, nach Utopien der Solidarität, die zeigen, dass es auch anders geht. Und er findet diese Utopien nicht nur in kleinen Initiativen, sondern in großen Institutionen: Das österreichische Gesundheitssystem ist für 95 Prozent der Weltbevölkerung die Verwirklichung einer Utopie, sagt Trojanow. Auch das Wiener Hochquellwasser oder der soziale Wohnbau in Wien sind solche wahr gewordenen Träume. Matthias Mayer und Carla Schück führten mit dem Schriftsteller ein Interview über sein neues Buch „Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise“.
Kontrast: Sie setzen sich kritisch mit dem Thema Hilfe auseinander – was ist die Crux der Wohltätigkeit?
Ilija Trojanow: Strukturelle Ungerechtigkeit kann durch Spenden – das heißt durch punktuelle Eingriffe der Wohltätigkeit – niemals beseitigt werden. Das ist eher sowas wie Verbandszeug, es mindert das Leid. Psychologisch ist ganz klar, dass eine große Motivation für das Spendens die Beruhigung des eigenen Gewissens ist. Unsere Gesellschaft hält ja von ihren Grundwerten her das Teilen und die Fürsorge durchaus hoch. Das ist ein interessanter Widerspruch zu unserer individualistischen Ellbogengesellschaft.
Wenn man spendet, muss man sich darüber im Klaren sein, dass man an den grundsätzlichen Verhältnissen nichts ändern wird. Wer tatsächlich etwas ändern will, und das wollen doch einige Leute, dann wird man viel mehr erreichen, indem man sich politisch für die Veränderung dieser Verhältnisse engagiert.
Kontrast: Warum sind uns oft symbolische Hilfeleistungen lieber als grundlegende Strukturen zu ändern?
Ilija Trojanow: Ich glaube, dass wir in einem höchst irrationalen System leben. Wir akzeptieren etwa, dass es so etwas wie das Wohl Aller nicht geben kann. Zum Beispiel ist ganz klar, dass es unglaublich sinnvoll ist, wenn der Abbau von Bodenschätzen in Afrika an die Einhaltung von Grundrechten gekoppelt ist. Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, wird das ablehnen. Trotzdem wird das von europäischen Regierungen seit Jahrzehnten blockiert. Und wir akzeptieren das.
Der deutsche Entwicklungshilfeminister hat erst letztes Jahr erklärt, er sei eher ein Anhänger von freiwilligen Vereinbarungen. Das ist natürlich lachhaft. Wenn rein freiwillige Vereinbarungen funktionieren würden, dann könnten wir uns alle darauf einigen, dass es auf freiwilliger Basis nicht gut ist, wenn man den anderen beraubt oder umbringt.
Wir leben einerseits in einem System, das Strafe als eines der zentralen Instrumente gesellschaftlicher Organisation vorsieht.
Andererseits sind verbindliche Maßnahmen auf einmal das falsche Mittel, wo es nicht passt, weil es die Gewinnmargen einschränkt.
Kontrast: Im Bereich Arbeit wird ja auch immer mehr auf diese angebliche Freiwilligkeit gesetzt…
Ilija Trojanow: Es gibt ja so etwas wie simulierte Freiheit. Das beste Beispiel ist die sogenannte Flexibilisierung der Jobs. Seit 15-20 Jahren versucht man immer mehr die Flexibilität des Individuums in den Vordergrund zu stellen. Und das verkauft man dann, als wäre es im Interesse des Einzelnen, der sich dann zum Beispiel seine Zeit frei einteilen oder von zuhause arbeiten kann.
Das sind alles Visionen der individuellen Selbstverwirklichung, die natürlich vorne und hinten nicht stimmen. Das ist eine vermeintliche Freiheit, die sich eigentlich als postmoderne Sklaverei erweist. Weil man sich aufgrund des Fehlens von verlässlichen Strukturen eigentlich in der Situation findet, in der die Menschen im globalen Süden ja seit langem sind. Und das wird durch die Hintertür der vermeintlichen Liberalisierung des Individuums nun auch bei uns sukzessive eingeführt.
Das ist das genaue Gegenteil einer gesamtgesellschaftlichen Utopie, also dieser aufklärerischen Überzeugung, dass wir ein Fundament von Rechten, Freiheiten, Pflichten und Möglichkeiten für alle haben müssen. Jetzt wandert die Utopie ins Individuelle, der einzelne Bürger wird geködert mit diesen Versprechen. Und das ist natürlich ein vollkommener Trugschluss, weil eine Gesellschaft, die aus lauter sich-selbstverwirklichenden Ich-AGs besteht, nicht vorstellbar ist. Das ist keine tragfähige Gesellschaft.
Kontrast: Welche Rolle spielt die Sprache bei solchen Umwertungsprozessen?
Ilija Trojanow: Die Sprache selbst ist entwertet. Schauen wir uns das Wort nachhaltig an: Es gibt niemanden mehr, der nicht verspricht, nachhaltig zu sein. In diesem System werden kritische Begriffe, kaum dass sie erfunden sind, sofort in das neoliberale Konzept integriert. Der Begriff klimaneutral zum Beispiel: Fliegen ist absolut nicht klimafreundlich, aber jetzt hat man so ein kleines Angebot, dass irgendjemand angeblich irgendwo zwei Bäume pflanzt und dadurch wird’s klimaneutral.
Das ist, wenn man nur kurz nachdenkt, der völlige Wahnsinn. Es funktioniert nirgendwo auf der Welt so, dass ich dem einen ins Gesicht haue und den anderen streichle und dann sage: Das hat sich jetzt schön ausbalanciert. Das ist ein rein technokratisches Denken, wo man sagt, man kann alles mit allem vergleichen. Es gibt ja ständig Angebote, sich in irgendeiner Weise reinzuwaschen, meistens durch irgendwelche Zahlungen. Dass also der Konsum in ein sozial dienliches Instrument umfunktionalisiert wird und auf einmal ist Überkonsum zur wohltätigen Handlung umdefiniert.
Kontrast: Was wären für Sie positive Beispiele von Projekten, die sich dieser Tendenz widersetzen?
Ilija Trojanow: Es gibt sehr viele Beispiele von interessanten Organisationsformen, zum Beispiel die Genossenschaft. Und auch innerhalb der etablierten Strukturen gibt es Dinge, die ausgezeichnet funktionieren. Wir vergessen oft, dass wir die Verwirklichung von utopischen Gedanken teilweise erreicht haben. Zum Beispiel das Gesundheitswesen in Österreich, so etwas ist für 95% der Menschheit völlig utopisch. Das heißt, solche solidarischen Strukturen gibt es ja teilweise schon. Und das ist wichtig, eine bessere Welt kann ja nicht aufgebaut werden, wenn wir jetzt antreten und sagen: Es muss alles neu werden. Das wäre nicht glaubwürdig. Wenn man aber sagt: Es gibt funktionierende, dem Wohle aller dienende Institutionen und Projekte, die wir schon erreicht haben, dann lässt sich das erweitern.
Oder es gibt zum Beispiel das Wiener Leitungswasser und das Grundrecht, dass jede Bürgerin, jeder Bürger der Stadt gutes, gesundes, sauberes und halbwegs günstiges Wasser hat. Darauf kann man aufbauen. Ein anderes Beispiel wäre der soziale Wohnbau in Wien. Wieso werden Errungenschaften diskreditiert, obwohl sie offensichtlich unglaublich erfolgreich waren?
Wir dürfen also nicht vergessen, was für enorme Erfolge wir gehabt haben, und welche Macht- und Vermögenskonzentrationen in halbwegs solidarische Strukturen transformiert worden sind. Im Moment sind wir in einer Phase des Backlash, aber es ist ermutigend, wenn man sich vor Augen führt, dass diese Transformation schon einmal möglich war.
Kontrast: Wieso haben wir so ein Problem damit, Utopien zu denken?
Ilija Trojanow: Haben wir ja eigentlich nicht, es gibt eine Sehnsucht nach Zukunft. Im Moment herrscht eher eine zaghafte und vorsichtige Grundhaltung vor, Besitzstandwahrung. Fahren auf Sicht hat Merkel das genannt: das macht ja keinen Menschen glücklich. Menschen haben das Bedürfnis sich grundsätzlich etwas anderes vorzustellen. Das utopische Denken kann befreiend, ermutigend und auch beglückend sein.
Es gab jetzt eine Phase, in der man an eine Alternativlosigkeit zum Kapitalismus geglaubt hat – Stichwort Ende der Geschichte. Aber ich glaube, das kommt jetzt zu einem Ende. Die ökologische Zerstörung der Welt wird mittlerweile fast jedem klar und ich glaube nicht, dass für die Mehrheit der Bevölkerung dieser destruktive Weg, den wir gehen, längerfristig tragbar ist. Darauf kann man aufbauen.
Jetzt ist die Zeit zu überlegen: Was sind die konkreten Utopien eines anderen Wirtschaftens, eines anderen Miteinanders? Ich bin da sehr optimistisch, wir kommen jetzt wieder in die Epoche des utopischen Denkens.
Ilija Trojanow wurde 1965 im bulgarischen Sofia geboren. Seine Familie floh 1971 über Jugoslawien nach Deutschland und erhielt dort politisches Asyl.
Da sein Vater ab 1972 in Kenia als Ingenieur arbeitete, besuchte Trojanow die Schule in Nairobi. Seit einigen Jahren lebt der Schriftstelle in Wien.
Trojanow übersetzte verschiedene Werke afrikanischer Autoren und arbeitet auch als Verleger. Für seine schriftstellerischen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem thematisiert er mehrfach die Verbrechen der stalinistischen Regierung Bulgariens. Im Buch Macht und Widerstand beschreibt er allerdings auch den fließenden Übergang vom Polizeisspitzelstaat in das heutige Bulgarien und die unglaublichen systemischen als auch personellen Kontinuitäten.
Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise. Das neue Buch von Ilija Trojanow und Thomas Gebauer. 2018 im Fischer Verlag.
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