Kinder aus einkommensschwachen Familien haben besonders unter der Corona-Krise und den Einschränkungen an Österreichs Schulen gelitten. Um ihre Situation zu verbessern, wurde von der Regierung bisher wenig gemacht. Hanna Lichtenberger und Judith Ranftler von der Volkshilfe Österreich wenden sich in einem Brief an die vielen Schülerinnen und Schüler, die von Faßmann und der Regierung vergessen wurden.
Liebe Sara,
sehr bald startet wieder ein neues Schuljahr. Du gehst jetzt schon in die vierte Klasse, bald ist die Volksschulzeit vorbei. Wir wünschen dir zum Schulbeginn, dass es leichter wird als das letzte Semester.
Das vergangene Schuljahr und auch der Sommer waren für dich nicht einfach, das wissen wir.
Für dich hat der Lockdown vieles erschwert – vielleicht warst Du aber auch ein bisschen erleichtert, dass Du dich nicht mehr für deine alte Schultasche oder die komischen Turnschuhe, die von der Nachbarstochter bekommen hast, mobben lassen musst.
Dein Internetguthaben war oft schnell aufgebraucht und du hast deine Lehrerinnen und Lehrer nicht so gut im Homeschooling erreicht. Einmal haben sie deswegen sogar deine Mama angerufen, dann hat sie schnell neues Guthaben gekauft, aber das Geld war eigentlich schon für etwas anderes geplant. Bei den Übungsaufgaben, die dich trotzdem erreicht haben, hattest Du Probleme, sie zu verstehen und hast dich nicht getraut, nachzufragen. Vielleicht hast Du aber auch ein Worddokument schicken sollen, obwohl du gar keinen Computer hast. Vielleicht habt ihr nur einen Computer, aber den musstest Du mit deinen Geschwistern teilen?
Dir ist es daheim schwergefallen, dich zu konzentrieren. Weil es finster und laut ist. Und weil dir ein eigener Schreibtisch fehlt. Vielleicht war deine Mama auch arbeiten und nicht wie Eltern von anderen im Homeoffice? Deswegen konntest Du sie auch nicht um Hilfe bitten.
Kinder haben im Durchschnitt 14 Quadratmeter Platz zum Leben, zum Spielen und zum Lernen. Mehr als jedes 5. Kind (21 Prozent) bekam keine Hilfe beim Homelearning. Wer weniger als 1.350 Euro netto verdient kann nur zu 21 Prozent im Homeoffice arbeiten, wer über 2.700 Euro netto verdient zu fast 60 Prozent.
In der Schule hilft dir eine zusätzliche Lehrerin beim Lesen lernen, weil es dir noch nicht ganz leichtfällt. Mit ihrer Unterstützung hast Du aber gute Fortschritte gemacht. Jetzt ist die Angst wieder da, dass du vor allen vorlesen musst. Wenn Du dich verliest, lachen die anderen Kinder.
Deine Mama macht sich im Moment viele Sorgen, das bekommst du genau mit. Sorgen, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz hat, weil der Papa schon so lange arbeitslos ist und es jetzt noch schwieriger für ihn ist, die Alimente zu bezahlen. Du hast auch gehört, wie Mama deiner Oma gesagt hat, dass dein Papa wohl wegen Corona erst recht keine Arbeit finden wird.
Deine Mama sorgt sich aber auch darum, ob Du den Einstieg in die Schule wieder schaffst, ob du heuer gute Noten bekommst und damit im nächsten Sommer den Umstieg auf eine neue Schule gut schaffst.
Vielleicht hast Du dich auch trauriger und einsamer gefühlt als sonst. Du hast vielleicht deine Freundin vermisst oder auch die Turnstunde? Bewegung in der kleinen Wohnung, die du mit Mama und deinen Geschwistern teilst, ist nicht so einfach. Mama geht manchmal mit Euch auf den Spielplatz, zum Austoben. Der Spielplatz war aber eine ganze Weile zu. Im Innenhof eures Hauses darfst Du nicht spielen, sonst regt sich die Nachbarin auf. Und ein Urlaub war heuer nicht drinnen, aber mit Oma und Opa hattest Du trotzdem eine schöne Zeit beim Backen und Blödeln.
Es war nicht leicht in den letzten Monaten. Wir möchten, dass Du weißt, dass Du damit nicht alleine warst, das wissen wir aus unserer Arbeit in der Volkshilfe mit armutsbetroffenen Kindern. Aber wir wünschen dir, dass deine Lehrer*innen wissen, dass nicht alle Kinder gleich in das neue Schuljahr starten, weil lernen zu Hause nicht für alle gleich gut geht. Dass einige mehr Zeit brauchen werden und ihre Unterstützung brauchen.
Um ehrlich zu sein, hoffen wir eigentlich darauf, dass es deine Schule in ihrer heutigen Form bald nicht mehr gibt. Wir wünschen uns, dass es eine Schule für alle Kinder in Österreich gibt, die Spaß macht und in der sich niemand vor dem vorlesen fürchten muss. In der auch Nachhilfe ganz einfach in der Schule passiert und jedes Kind dort Hilfe bekommt, wo es das braucht. Wir wünschen uns eine Schule, die die Stärken, nicht die Schwächen in den Vordergrund stellt und in der es egal ist, ob Eltern reich oder arm sind.
Judith und Hanna
von der Volkshilfe Österreich
Hanna Lichtenberger und Judith Ranftler arbeiten bei der Volkshilfe Österreich zu den Themen Kinderarmut und Gesundheit.