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Die Idee, Informationen über Bilder unmittelbar begreifbar zu machen, entstand vor ziemlich genau hundert Jahren. Der Ökonom, Soziologe und Museumsgründer Otto Neurath entwickelte in Wien eine Bildsprache, die alle Menschen verstehen sollten – unabhängig von Sprache, Bildung oder Vorwissen. Nicht, um Emotionen auszudrücken, sondern um komplexes Wissen zugänglich zu machen. Eine Bildsprache, die noch heute genutzt wird.
Neurath revolutioniert die Bildung im Roten Wien
Otto Neurath und sein Team wirkten im Roten Wien der 1920er-Jahre. Damals entstanden neue Wohnungen, Schulen, Bäder und Bibliotheken. Auch das Bildungssystem sollte reformiert werden, da Bildung immer noch ein Privileg einiger Weniger war. Gemeinsam wollten sie besonders Arbeiter:innen den Zugang zu Wissen verschaffen und Museen für alle Menschen zugänglich machen.
Damit Demokratie funktioniert, so Neurath, müssen alle verstehen, wie Gesellschaft und Wirtschaft zusammenhängen. Wirtschaft, so Neurath, sollte dem Glück der Menschen dienen, nicht dem Profit. Im von ihm gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum wollte er keine Schätze oder Kostbarkeiten ausstellen. Stattdessen veranschaulichte Neurath komplexe Daten zu Themen wie Arbeitslosigkeit, Wohnbau und Gesundheit. Er machte sie mithilfe von Bildstatistiken auf einen Blick verständlich. Außerdem zeigte das Museum unterschiedliche Lebenswelten und sollte auf diese Weise die Menschen dazu ermutigen, ihre eigene Zukunft selbst zu gestalten.

Einfach verständliche Bilder statt komplizierte Zahlen
Zahlenkolonnen und Fachbegriffe schließen viele Menschen aus. Deshalb entwickelte Neurath gemeinsam mit der Mathematikerin (und seiner späteren Frau) Marie Reidemeister und dem Grafiker Gerd Arntz eine neue visuelle Sprache: die Wiener Methode der Bildstatistik, später bekannt als ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education). Sie ersetzt abstrakte Zahlen durch leicht verständliche Symbole, zum Beispiel Menschen, Häuser oder Betriebe. Diese Symbole wurden in Fünfergruppen zusammengefasst, um Mengenverhältnisse anschaulich und schnell erfassbar zu machen. Aufklärung, fand Neurath, muss raus aus dem Elfenbeinturm. Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum machte seine Bildstatistiken vielen Menschen zugänglich, brachte sie in Ausstellungen, in Schulen oder direkt in Arbeiterviertel. Wie Neuraths Methode auf heutige Fragen angewendet werden kann oder welche Relevanz diese Methode auch heute noch hat, zeigt die aktuelle Ausstellung „Was wäre Wien“ im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien.

Internationales “Picture Dictionary” und Flucht nach London
Die Idee der Piktogramme entwickelte sich rasant weiter. In den ersten zehn Jahren beteiligte sich das fünfköpfige Team um Neurath an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland. In diesen Jahren entstanden knapp tausend Piktogramme, die im internationalen “Picture Dictionary” ihren Platz fanden und weltweit genutzt wurden.
Im Jahr 1934 flüchtete das Team aufgrund des Bürgerkriegs in die Niederlande, wo sie anfangs mit Startschwierigkeiten zu kämpfen hatten. Im Jahr 1940 gingen Otto Neurath und seine Frau Marie Neurath schließlich weiter nach London. Diese führte nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1945 das in Oxford gegründete Isotype Institute bis 1971 weiter.
Vom Toilettensymbol zur Lupe im digitalen Raum: Neuraths Idee lebt bis heute weiter
Otto Neurath wusste, dass Kommunikation keine Einbahnstraße ist. Sie funktioniert nur, wenn das Gegenüber versteht, was gemeint ist. Mit klaren Piktogrammen und Bildstatistiken machte er die Welt leichter verständlich. Wir begegnen Piktogrammen nach der Idee von Neurath bis heute: Angefangen bei Toilettensymbolen, über Gefahrenhinweise hin zu der kleinen Lupe als Such-Symbol im digitalen Raum. Sie helfen allen dabei, sich im Alltag zu orientieren und gehen auf die ISOTYPIE zurück, die Neurath im Roten Wien vor hundert Jahren begonnen hat. Ganz nach seinem Motto: “Worte trennen, Bilder verbinden.”
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