Rojava nennen die KurdInnen jenen Teil Kurdistans im Norden Syriens, der mit den kurdischen Siedlungsgebieten in der Türkei und im Irak geographisch verbunden ist. Während in der Türkei kurdische Abgeordnete inhaftiert werden und die politsche Repression täglich neue Höhepunkte erreicht, gilt die von den KurdInnen regierte Region Rojava trotz aller Zerstörungen durch den Islamischen Staat als eine der stabilsten Regionen der Gegend. Vertriebene kehren zurück, Schulen werden wiederaufgebaut und ein neues politisches System wird geschaffen – ein Lokalaugenschein von Thomas Schmidinger.
Nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch das Regime der arabisch- nationalistischen Baath-Partei übernahmen die KurdInnen in Syrien nach monatelangen Protesten im Zuge des Bürgerkrieges im Juli 2012 die nördlichen, mehrheitlich von ihnen bewohnten Gebiete fast kampflos. Die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegründete Volksverteidigungseinheit YPG übernahm Stellungen, Waffen und Munition der syrischen Regierungsarmee, die lediglich in der größten kurdischen Stadt Qamishli weiterhin präsent blieb. Neben der YPG wurde auch eine eigene Frauenarmee, die YPJ, aufgebaut.
Das Gebiet, das seither unter kurdischer Kontrolle steht, ist nicht ausschließlich von KurdInnen besiedelt und durch mehrheitlich arabischsprachige Gebiete voneinander getrennt. Insbesondere das östlichste der drei Gebiete, die Cizîrê, ist eine der ethnisch und religiös vielfältigsten Regionen Syriens. Neben den KurdInnen leben hier seit Jahrhunderten arabische Stämme, aramäischsprachige ChristInnen und seit 1915 auch ArmenierInnen. Letztere sind die Nachkommen der Überlebenden des Genozids der jungtürkischen Regierung am armenischen Volk, das in die Steppen und Wüsten Nordsyriens deportiert wurde. In einigen Dörfern der Cizîrê, vor allem aber in der westlichsten Region Efrîn gibt es auch Dörfer der Êzîdî, einer nichtmuslimischen religiösen Minderheit, deren Angehörige in Rojava Kurdisch als Muttersprache sprechen.
Jahrzehntelange Unterdrückung
Die nationalistischen Regimes Syriens hatten über Jahrzehnte den KurdInnen und vielen anderen ethnischen Minderheiten kulturelle, sprachliche und politische Rechte verweigert. 1962, noch ein Jahr vor dem Putsch der Baath-Partei, wurden durch eine Sondervolkszählung in der Provinz al-Hasaka 120.000 KurdInnen zu AusländerInnen erklärt. Ihre Nachkommen erhielten bis 2011 ihre Staatsbürgerschaft nicht zurück. In den 1960er-Jahren wurde mit dem Projekt eines „Arabischen Gürtels“ versucht, kurdische Dörfer in den Grenzregionen zur Türkei und zum Irak abzusiedeln und stattdessen loyale arabische SiedlerInnen anzusiedeln. Die kurdische Sprache, das in Syrien gesprochene Kurmancî, wurde nie als Amts- und Gerichtssprache akzeptiert. An Schulen wurde ausschließlich Arabisch unterrichtet. Kurdische Bücher oder Zeitschriften konnten nur unter großen Gefahren im Untergrund hergestellt oder eingeschmuggelt werden. Auch Proteste und Aufstände der kurdischen Bevölkerung konnten daran wenig ändern, bis sich durch den Bürgerkrieg 2012 neue Möglichkeiten für die KurdInnen und anderen Minderheiten im Norden Syriens ergaben.
Rivalisierende Parteien
Mit der Übernahme der kurdischen Gebiete durch die YPG/YPJ im Sommer 2012 stellte sich für die BewohnerInnen der Region auch die Frage der zivilen Verwaltung der kurdischen Gebiete. Als problematisch stellte sich dabei die scharfe Rivalität zwischen den verschiedenen kurdischen Parteien heraus. Bereits 1957 waren im Untergrund erste kurdische Parteien gegründet worden, die sich allerdings rasch aufsplitterten und Opfer der Repression des Regimes wurden. In den 1980er-Jahren hatte das syrische Regime wiederum die Arbeiterpartei Kurdistans PKK gegen die Türkei unterstützt. Der Preis für diese Unterstützung war jedoch, sich von jeglicher politischer Einmischung in Syrien fernzuhalten. Erst nach der Exilierung von PKK-Parteiführer Abdullah Öcalan und seiner Verschleppung aus Kenia durch den türkischen Staat, wurden die alten AnhängerInnen der PKK auch in Syrien aktiv und gründeten 2003 die Demokratische Unionspartei (Partiya Yekitîya Demokrat, PYD), die nun ab 2012 zur entscheidenden politischen Kraft in Rojava werden sollte. Ihr gegenüber stand mit dem Kurdischen Nationalrat in Syrien (Encûmena Niştimanî ya Kurdî li Sûriyeyê, ENKS) ein Zusammenschluss fast aller anderen Parteien, der von der Regionalregierung Kurdistans im Irak unterstützt wurde.
Während es der PYD gelang, VertreterInnen von ethnischen und religiösen Minderheiten in das neue politische System einzubinden, gelang es den neuen kurdischen Machthabern bis heute nicht, relevante kurdische Parteien aus dem ENKS in das politische System zu integrieren. Viele dieser Oppositionsparteien werfen dem politischen System der PYD heute gar vor selbst eine Diktatur errichtet zu haben.
Nach langwierigen und gescheiterten Verhandlungen zwischen den rivalisierenden kurdischen Parteiblöcken riefen die PYD und die von dieser gegründeten Volksräte Westkurdistans im Jänner 2014 drei autonome Kantone aus: Efrîn, Kobanê und Cizîrê. Mit dem Erstarken jihadistischer Gruppen, die der Jabhat al-Nusra, v.a. jedoch des so genannten „Islamischen Staates“ (IS), wurden die Kantone zunehmend in Kämpfe mit diesen jihadistischen Milizen verwickelt.
Trümmerfeld Kobanê…
Am schlimmsten traf es dabei den Kanton Kobanê, der nach einem ersten gescheiterten Großangriff des IS im Sommer 2014, im Herbst 2014 von den jihadistischen Kämpfern überrannt wurde und erst in letzter Minute, unter sehr hohen Verlusten, wieder befreit werden konnte. Das Stadtzentrum von Kobanê wurde im Dezember 2014 nach wochenlangen Kämpfen zu einem Trümmerfeld geschossen. Als es den YPG/YPJ-KämpferInnen mit der Unterstützung von säkularen arabischen Rebellengruppen, kurdischen Peshmerga aus dem Irak und der US-Luftwaffe im Februar 2015 gelang die Stadt zurückzuerobern, fanden sie eine weitgehend zerstörte Infrastruktur vor. Die nächste wichtige Auseinandersetzung mit dem IS stellte die Schlacht um das Khabur-Tal im Februar 2015 dar, bei der der IS über 200 assyrische Christen entführte.
Die Schlacht von Kobanê bildet zusammen mit den Kämpfen um das Khabur-Tal und den von Êzîdî bewohnten Berg Sinjar (Şingal) im Irak, bei dem syrisch-kurdische KämpferInnen der YPG/YPJ den eingeschlossenen Êzîdî zur Hilfe eilten, ein Wendepunkt im Kampf gegen den so genannten „Islamischen Staat“. Die rasche Expansion der Jihadisten konnte damit gestoppt werden.
…und Wiederaufbau
Trotz massiver Zerstörungen ist es mittlerweile wieder gelungen, große Teile von Kobanê aufzubauen. Das militärische Bündnis mit säkularen Einheiten aus der ehemaligen Freien Syrischen Armee (FSA) war so erfolgreich, dass es im Juni 2015 sogar gelang, den mehrheitlich von AraberInnen bewohnten Landstrich zwischen den Kantonen Kobanê und Cizîrê zu erobern und damit zwei der drei Kantone miteinander zu verbinden. Aus diesem Bündnis wurden am 10. Oktober 2015 schließlich die Syrischen Demokratischen Kräfte (Hêzên Sûriya Demokratîk), die zwar im Kern immer noch von YPG und YPJ dominiert werden, allerdings auch arabische, assyrische und turkmenische Einheiten umfassen. Ausdehnungen des Territoriums gelangen auch im Süden, über die Provinzhauptstadt al-Hasaka (Hesîçe) und im Westen – wo trotz des Eingreifens der türkischen Armee auf Seiten des IS der Euphrat überschritten und einen Brückenkopf für eine spätere Verbindung mit dem westlichsten Kanton Efrîn geschaffen wurde.
So wurde im Laufe der vergangenen Jahre eine Art kurdischer “Staat” geschaffen, der neben einer Armee auch über eigene Polizeikräfte, Regierungen und staatliche Strukturen verfügt, zugleich allerdings immer noch vielfach von der Regierung in Damaskus abhängig ist. So verfügt die Zentralregierung unter Assad etwa immer noch über signifikanten Einfluss auf das Bildungswesen der Region. Lediglich in Kobanê sind durch die Zerstörung der Schulen durch den IS nun eigene kurdische Schulen aufgebaut worden, in denen auf Kurdisch unterrichtet wird und erst ab der vierten Klasse auch Arabisch und Englisch.
Gleichheit der Geschlechter
Wie überall, wo Parteien aus dem Spektrum der PKK das Sagen haben, spielen in Rojava feministische Positionen eine wichtige Rolle. Alle Funktionen im politischen System der Region sind mit Doppelspitzen besetzt. Frauen sind auch in der Polizei (Asayiş) vertreten. In einem so genannten „Gesellschaftsvertrag“, einer Art Verfassung der Region wurde neben einem Bekenntnis zu Menschenrechten auch ein Bekenntnis zur Gleichheit der Geschlechter festgeschrieben.
Autonomes Nordsyrien?
Bis zum März 2016 hatten die drei Kantone formal keine gemeinsame politische Struktur. Am 17. März 2016 wurde schließlich eine autonome Föderation Nordsyrien – Rojava ausgerufen, die zwar keine Abspaltung von Syrien erklärt hatte, allerdings innerhalb Syriens eine sehr weitreichende Autonomie beansprucht. Von VertreterInnen mancher nichtkurdischer Minderheiten, AraberInnen, AssyrerInnen/AramäerInnen und ArmenierInnen wurde dies teilweise mit starker Skepsis aufgenommen und vom Regime in Damaskus verurteilt. Die Autonomieerklärung dürfte bestehende Spannungen zwischen verschiedenen Gruppierungen in der größten Stadt Qamishli noch verstärkt haben.
Wirtschaftliche Probleme führen zu Spannungen
Die ökonomische Situation in Rojava hat sich durch den andauernden Bürgerkrieg und durch die Grenzblockade durch die Türkei, sowie die aufgrund der politischen Konflikte mit der Regionalregierung Kurdistans im Irak geschlossene Grenze, seit 2015 deutlich verschlechtert. Lebensmittelpreise und Preise für andere Güter haben sich empfindlich erhöht. Die ökonomischen Probleme führten zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit der kurdischen Verwaltung – auch innerhalb der kurdischen Bevölkerung. Für Unmut unter den Oppositionsparteien führte zudem die Einführung einer Wehrpflicht für kurdische Männer in der YPG sowie Verhaftungen von Oppositionspolitikern, wie etwa den lokalen Parteiführern der Yekîtî-Partei in Amûdê Ende Mai 2016.
Trotzdem ist Rojava weiterhin eine der stabilsten Regionen Syriens. Dies zeigt sich auch an der hohen Zahl intern Vertriebener, die aus anderen Teilen Syriens nach Rojava flüchten und dort von der lokalen Bevölkerung und den Behörden notdürftig unterstützt werden. Im Gegensatz zu den Flüchtlingslagern im benachbarten Ausland, erreicht jedoch nur sehr spärliche internationale Hilfe die kurdischen Regionen Syriens.
Auch dies trägt nicht zu einer ökonomischen Erholung bei. Das größte Problem stellt allerdings mit Sicherheit weiterhin die politische und ökonomische Isolation der Region durch die Türkei dar. Durch das Wiederaufflammen des türkisch-kurdischen Konfliktes in der Türkei, hat sich auch die türkische Politik gegenüber Rojava verschärft. Die PYD durfte im Februar nicht einmal an den letztlich ohnehin gescheiterten Friedensgesprächen im Frühling 2016 in Genf teilnehmen.
Geflohen und zurückgekehrt
Auch aus Rojava sind in den letzten Jahren tausende KurdInnen nach Europa geflohen. In Wien, Frankfurt und Berlin hört man heute sehr viel öfter Kurdisch auf den Straßen, als vor 2015. Der Wiederaufbau von Kobanê zeigt hingegen auch welches Potential Investitionen in eine Zukunft vor Ort hätten. Seit Anfang Oktober 2015 gehen rund 5000 Kinder in Kobanê wieder zur Schule. 118 Schulen wurden seit der Rückeroberung des kurdischen Kantons im Norden Syriens wieder errichtet. 264 Schulen sollen es am Ende werden, geht es nach den Plänen des Premierministers des Kantons. Von den 450.000 kurdischen BewohnerInnen des Kantons waren 2014 außer einigen hundert KämpferInnen fast alle in die Türkei geflohen. Die meisten wurden in kleinen Lagern der kurdischen Gemeinden auf der anderen Seite der Grenze aufgenommen. Bis Ende 2015 kehrten über 180.000 nach Kobanê zurück.
Ausblick ungewiss
Die Zukunft der Autonomie Rojavas wird sich nicht zuletzt auch in Europa, Ankara und Damaskus entscheiden. Vor allem wird sie sich allerdings in Kobanê, Efrîn und Cizîrê entscheiden. Wird es gelingen, trotz des Bürgerkrieges hier zivile und demokratische politische Strukturen aufzubauen und auch jene politischen Kräfte einzubinden, die bisher nicht Teil des politischen Systems waren? Wird es gelingen eine ökonomische Basis für die BewohnerInnen Rojavas zu schaffen? Wird es gelingen die nichtkurdischen Minderheiten in ein neues pluralistisches System einzubinden?
Thomas Schmidinger ist ein österreichischer Politikwissenschaftler und Sozial- und Kulturanthropologe mit den Schwerpunkten Kurdistan, Jihadismus, Naher Osten und Internationale Politik