In den letzten Jahrzehnten hat China seinen Einfluss auf der globalen Bühne massiv ausgeweitet – mit dem Ziel, die internationale Ordnung neu zu gestalten. Doch was genau steckt hinter dem Anspruch, und welche Folgen hat dieser für Europa, die Weltmacht USA und die globale Machtverteilung? Darüber hat Kontrast mit der Sinologin Doris Vogl gesprochen, die verschiedene Facetten dieses Wandels analysiert. Beleuchtet wird dabei unter anderem Chinas Dominanz in Afrika, der schwindende Einfluss Europas und die Bedeutung von Menschenrechten in einer sich wandelnden Weltordnung.
Kontrast: Was genau bedeutet es, wenn China betont, dass sie eine neue Weltordnung anstreben wollen? Was kritisiert die chinesische Regierung an der bestehenden Ordnung?
Doris Vogl: Wenn China von einer neuen Weltordnung spricht, dann wird auch immer das Attribut „fair“, auf Englisch just, aber auch Diplomatie auf Augenhöhe und Multipolarität genannt. Das sind die drei Aspekte, die China bei einer neuen Weltordnung in der offiziellen Rhetorik miteinbezieht.
Kontrast: Was kann man sich darunter konkret vorstellen?
Vogl: Multipolarität heißt, dass es mehrere geopolitische Machtzentren gibt – nicht nur eines oder zwei. Und unter „just“ ,wie auch immer übersetzt, versteht China ein besseres Standing für Entwicklungsländer in internationalen Organisationen. Nicht nur in UN-Gremien, sondern vor allem, wenn es um die MDBs geht, die Multilateral Development Banks. (Multilaterale Entwicklungsbanken stabilisieren das globale Finanzsystem, indem sie Entwicklungsländer mit langfristiger Finanzierung für wachstumsfördernde Modernisierungsprojekte unterstützen, Anm.) Dort sieht das Standing für Entwicklungsländer schlecht aus. Logischerweise, da diese Länder die Kreditnehmer sind und nicht Kreditgeber.
Ein weiterer Punkt, der China sehr wichtig ist, ist die Reform der internationalen Finanzwelt. Auch währungspolitisch strebt China eine neue Weltordnung an. China sieht darin einen „Gerechtigkeits“-Kurs, wenn keine Sanktionen mehr über die monopolistische Position des US-Dollars ausgesprochen werden können. Das geschieht vor allem über das SWIFT-System (SWIFT bietet ein Netzwerk, das eine sichere Übermittlung von Zahlungsaufträgen zwischen Banken ermöglicht, Anm.)
Währungspolitische Abwendung Chinas vom US-Dollar
Kontrast: Welche Interessen verfolgt China?
Vogl: China strebt schon seit Jahrzehnten währungspolitisch einen Entdollarisierungs-Kurs an. Seit über zehn Jahren stößt China seine Dollarreserven ab. Und es geht genau genommen darum, den USA und deren Verbündeten finanzpolitisches Leverage (Druckmittel, Anm.), also geopolitische Wirkkraft, zu nehmen.

Kontrast: Warum?
Vogl: Es gibt zahlreiche, auch offiziell zugängliche Analysen von chinesischen Politikwissenschaftler:innen, die besagen, dass Sanktionen gegen einzelne Länder letztlich nicht die Regierenden treffen, sondern die Zivilbevölkerung. Und China tritt hier als Volksvertretung auch auf globaler Ebene auf. Ich gehe jetzt von den Narrativen und der offiziellen Rhetorik Chinas aus. Das ist jetzt nicht die politische Realität, ich spreche von der offiziellen Erzählung.
Kontrast: Was ist die Realität?
Vogl: Seit einigen Jahren wird in China keine Gini-Koeffizient Statistik mehr publiziert. (Dieser besagt, wie ungleich Vermögen oder Einkommen in einem Land verteilt ist. Anm.) Etliche Jahre lang wurde der nationale Gini-Index jährlich bekannt gegeben. Man hat sogar zugelassen, dass ausländische Institutionen an der Analyse beteiligt waren. Als dann jedoch das Einkommen verschiedener chinesischer Bevölkerungsgruppen zunehmend auseinander klaffte, gab es plötzlich keine Gini-Koeffizient Statistik mehr. Das heißt, wenn es um Einkommensverteilung geht – hier glänzt die Volksrepublik keineswegs. Die Einkommensungleichheit nimmt seit Jahren zu. Gleichzeitig vertritt Beijing auf ideologischer Ebene den Standpunkt, dass man immer das Gesamtwohl der breiten Bevölkerung als Hauptaugenmerk im Blick behalten muss – nicht jenes privilegierter Eliten.
China als Gegengewicht einer westlichen Dominanz
Kontrast: Kann man sagen, dass China danach strebt, die USA als führende Weltmacht abzulösen?
Vogl: So lautet das amerikanische Narrativ „China will uns ablösen“. China propagiert bereits seit Jahrzehnten das gegenteilige Narrativ: “Wir möchten die USA keineswegs ablösen, denn wir werden uns nicht wie ein geopolitischer Hegemon (jemand, der die Vorherrschaft über andere Herrschende hat, Anm.) verhalten. Wir vertreten den Globalen Süden auf Augenhöhe.“
China kritisiert eine überkommene, nicht mehr zeitgemäße Dominanz westlicher Staaten in internationalen Organisationen. Das ist der eine Kritikpunkt. Ein weiterer wäre, wie China es ausdrückt, die Erweiterungsstrategie der NATO in den Asiatischen Pazifik
Die Rolle von BRICS plus
Kontrast: China wird im Kontext geopolitischer Gegengewichte häufig im Zusammenhang mit dem BRICS plus-Bündnis genannt. Inwiefern lässt sich BRICS plus als ein Ausdruck chinesischer Bemühungen interpretieren, eine alternative internationale Ordnung zu den westlich geprägten Institutionen zu etablieren?
Vogl: BRICS plus ist vor allem ein Instrument, das auf globaler Ebene währungspolitisch und finanzpolitisch wirken soll. Genauer betrachtet sind etliche BRICS plus-Länder, wenn es nun um bilateralen Handel geht, also Finanz-Transaktionen zwischen den BRICS plus-Ländern, bereits weiter als die EU. Sie bezahlen in ihren lokalen Währungen über rein digitale Transfer-Mechanismen. Es existiert innerhalb von BRICS plus ein sehr fortgeschrittenes Transfer-System, woran die Europäische Zentralbank erst arbeitet.
BRICS plus ist ein Zusammenschluss schnell wachsender Volkswirtschaften. Sie verfolgen das Ziel einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Seit dem 1. Januar 2024 zählen zu den namensgebenden Mitgliedern Brasilien, die Russische Föderation, Indien, China und Südafrika nun auch Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate. Anfang 2025 ist Indonesien als weiteres Mitglied hinzugekommen. Die aktuellen BRICS plus-Mitgliedsstaaten repräsentierten im Jahr 2023 insgesamt mehr als 48 % der Weltbevölkerung und erwirtschafteten rund 39 % (2024) der weltweiten Wirtschaftsleistung.
Es ist ein sehr wichtiger Bestandteil von Chinas Bestrebungen, die internationale Ordnung mitzugestalten. Insbesondere mit Blick auf die zahlreichen Bewerbungen für BRICS plus-Mitgliedschaft. Argentinien ist als Kandidat zwar abgesprungen. Das ist den USA mit der Präsidentschaft von Milei (Präsident von Argentinien, Anm.) gelungen, denn Argentinien wäre ein nicht unwesentliches BRICS plus-Mitglied in Lateinamerika gewesen. Am Beispiel des kürzlich beigetretenen Indonesiens und den neuen BRICS plus-Partnerländern Thailand, Vietnam, Malaysia oder Kasachstan sehen wir derzeit allerdings eine regionale Rückverlagerung. China bemüht sich jetzt vorrangig um wirtschaftlich starke asiatische Länder.
Kontrast: Was hat das zur Folge, wenn sich immer mehr Länder dem BRICS plus-Bündnis anschließen?
Vogl: Nehmen wir als Beispiel Rohölexporte, diese laufen innerhalb der BRICS plus-Ländern ab und häufig nicht mehr über den Dollar. Das bedeutet das Ende des Petrodollars (Der Petrodollar ist Geld in US-Dollar, das Länder durch den Verkauf von Öl verdienen. Der globale Handel mit Erdöl wird fast ausschließlich über den US-Dollar abgewickelt, Anm.) Soweit der erste Punkt.
Der zweite Punkt: Westliche Sanktionen werden nicht mehr dieselbe Effizienz zeigen wie in den letzten Jahrzehnten. Dies hat sich bereits im Verlauf des Ukrainekriegs bemerkbar gemacht.
Die europäischen Sanktionen haben nicht so gegriffen, wie in Brüssel erwartet worden war. Sicherlich ist BRICS plus hier nicht der alleinige Grund. Es sind Dutzende weitere Gründe zu nennen. Doch im Rahmen der Sanktionen gegen die Russische Föderation waren etliche währungspolitische Maßnahmen inkludiert, die BRICS plus-intern spürbar an Wirkung verloren haben.
Zwischen Darstellung und Realität – Chinas Nichteinmischungs-Politik
Kontrast: China wirft dem Westen immer vor, dass sie sich in innere Angelegenheiten einmischen. Was genau meint die Volksrepublik damit und was macht sie anders?
Vogl: Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten ist genaugenommen ein sehr altes außenpolitisches Grundprinzip der Volksrepublik China und geht zurück auf die Bandung-Konferenz in den 50er Jahren. Auf diplomatischer Ebene können wir hier von einem außenpolitischen Mantra sprechen. Realpolitisch sieht die Sachlage anders aus. Die Volksrepublik hat zwar jahrzehntelang Nichteinmischung praktiziert. Doch wenn wir gewisse wirtschaftspolitische oder außenpolitische Maßnahmen Chinas der letzten Jahre genauer unter die Lupe nehmen, zeigt sich, dass dieses Prinzip mittlerweile löchrig geworden ist. Ich sehe sehr wohl Interventionen von chinesischer Seite.
Kontrast: Welche zum Beispiel?
Vogl: Vor allem Wirtschaftssanktionen – allerdings werden diese Maßnahmen nicht offiziell als Sanktionen bezeichnet. Doch wissen die Entscheidungsträger in Beijing genau, dass bestimmte Maßnahmen in den betroffenen Ländern massive Auswirkungen zeigen werden, zum Beispiel im Agrarbereich oder Fischerei-Sektor.
Chinas Zollbehörden sind diesbezüglich sehr findig: Plötzlich werden Salmonellen oder andere schädliche Rückstände bzw. Verunreinigungen in Waren gefunden, und dann wird ein Einfuhrverbot verhängt – etwa aus Hygienegründen. Aber niemals wird von chinesischer Seite offiziell bekannt gegeben, dass es sich um Sanktionen handelt.
Der „Aufstieg“ Asiens – wie sich die Weltordnung verändern wird
Kontrast: Welche Rolle spielt der aktuelle Handelsstreit zwischen China und den USA im Hinblick auf eine neue Weltordnung?
Vogl: Dieser Handelsstreit hat bereits unter der ersten Trump-Regierung begonnen – seit den Wahlen vom November 2016. Schon damals hat Trump in der ersten Amtsphase radikale Maßnahmen ergriffen, jedoch teilweise ebenso rasch wieder zurückgezogen.
Es kam letztlich zu mehreren Deals zwischen China und den USA – noch unter der ersten Trump-Administration. Was momentan abläuft, erinnert mich an die erste Amtsperiode. Starke Maßnahmen ankündigen, sie initiieren und teilweise wieder zurücknehmen.

Kontrast: Also kann man sagen, dass das nicht wirklich einen Einfluss auf eine neue Weltordnung hat?
Vogl: Ich sehe es eher als Reaktion jener ökonomischen Macht, die an Terrain verliert – nämlich den USA. Eine führende Wirtschaftsmacht, die nunmehr feststellt: „Uns wird ökonomisch der Sand abgegraben und wir sollten uns sehr heftig wehren. Nicht nur aus einer defensiven Position heraus, sondern auch in offensiver Weise.“
Ja, das heißt, ich sehe den US-chinesischen Handelskonflikt weniger als „Einfluss“-Faktor auf einen laufenden Prozess, sondern vielmehr als Reaktion auf eine Dynamik, die bereits länger im Gange ist – die Veränderung von Weltordnungen. Bei dieser “Neuen Weltordnung” geht es genau genommen nicht nur um China. Der Politikwissenschafter Kishore Mahbubani spricht etwa bereits seit Jahren vom 21. Jahrhundert als dem „Asiatischen Jahrhundert“.
Es geht tatsächlich um den Aufstieg einer gesamten Region. Die meisten Länder Asiens sind ökonomisch im Aufsteigen. Dies gilt für Malaysia ebenso wie für Indonesien oder Vietnam. Im Falle Chinas zeichnet sich die Dynamik am deutlichsten ab.
Europas sinkender Einfluss in der Weltpolitik
Kontrast: Und was bedeutet das für Europa?
Vogl: Europa wird zunehmend zum geopolitischen Nebenschauplatz. Europäische Beschlüsse hatten früher geopolitisches Schwergewicht. Diese Zeiten sind vorbei.
Wir haben ebenso an normativer Wirkkraft außerhalb Europas verloren, besonders der europäische Friedensgedanke leidet.
Europa hat es bis jetzt nicht geschafft, den Ukrainekrieg zu beenden und friedenspolitisch auf einen „grünen Zweig“ mit der Russischen Föderation zu gelangen. Hier ist Brüssel gescheitert. Ich persönlich hätte es nie für möglich gehalten, dass dieser Krieg so lange andauern wird. Europa schafft es nicht, in der eigenen Region zumindest einen andauernden Waffenstillstand herbeizuführen. Selbst wenn Moskau seitens etlicher asiatischer Länder die eindeutige Rolle des Aggressors zugeordnet wird, beobachten jene Länder die jahrelang andauernde Kriegssituation sehr genau und interpretieren diese als Schwächezeichen Europas.
Kontrast: In welchen Regionen und Bereichen auf der Welt ist Chinas geopolitischer Einfluss besonders stark gewachsen?
Vogl: Eindeutig in Afrika.
Kontrast: Inwiefern?
Vogl: Mit Blick auf Digitalisierung lässt sich feststellen, dass in Afrika die chinesischen Anbieter Huawei und Xiaomi dominieren. China hat des Weiteren in den letzten 15 Jahren auf dem afrikanischen Kontinent ein dichtes chinesisches Radio und TV-Netz aufgebaut. Das globale CGTN-Programm (Chinesischer Auslands-Fernsehsender, Anm.) beinhaltet zum Beispiel so ziemlich alle afrikanischen Sprachen. Aber auch zahlreiche Konfuzius-Institute (gemeinnützige Bildungseinrichtungen, die von der chinesischen Regierung finanziert werden und deren Ziel die Förderung der chinesischen Kultur und Sprache ist, Anm.) wurden in Afrika gegründet. Diese erfüllen dort vor allem berufsbildende Funktionen und bieten Chinesisch-Sprachkurse an.
Kontrast: Welches Ziel verfolgt China damit?
Vogl: Das offizielle Motto lautet: „Freunde gewinnen“. Bei öffentlichen Ansprachen wird permanent die jahrzehntelange „Freundschaft mit afrikanischen Ländern“ beschworen. Genauer betrachtet lautet die Zielsetzung jedoch, die Herzen der afrikanischen Eliten zu gewinnen, um bessere Geschäfte betreiben zu können. Dieses Ziel basiert letztlich auf ökonomischem Kalkül: Wir benötigen Ressourcen und wir zählen auf eure Märkte als chinesische Absatzmärkte.

Kontrast: Welche Rolle spielt dabei die „Neue Seidenstraße“?
Vogl: Eine sehr wesentliche. Auch wenn bei der Betrachtung jüngerer Statistiken klar ersichtlich ist, dass China im Sub-Sahara-Raum große Infrastruktur-Investitionen zurückgeschraubt hat – und dies bereits seit Jahren. Die Investitionen nehmen jetzt in lukrativeren Ländern wie den Golfstaaten zu.
Die neue Seidenstraße ist ein globales Infrastruktur- und Investitionsprojekt, das Chinas Handelswege in den Westen weiter öffnen soll. Dabei investiert China in Infrastrukturprojekte auf dem Landweg wie etwa in Straßen, Schienen, Brücken oder Pipelines. Partnerländern wird angeboten, Infrastrukturprojekte mithilfe von chinesischen Krediten zu finanzieren. Gebaut wird meist durch chinesische Unternehmen.
Kontrast: Haben sie die Investitionen zurückgefahren, weil es nicht so gewinnbringend war wie ursprünglich gedacht?
Vogl: Das Problem war, wie allerdings vorauszusehen, dass etliche afrikanische Staaten ihre Kredite nicht bedienen konnten. Die neuen Flagship-Projekte der Belt and Road Initiative (Neue Seidenstraße, Anm.) gehen nun alle in Richtung Grüne Energie und Digitalisierung. Die Zeit der großen Infrastrukturprojekte ist bereits vorbei. Vielleicht noch der Ausbau von Tiefseehäfen mit den dazugehörigen Bahnlinien ins Landesinnere. Hier zählt wiederum das ökonomische Interesse, chinesische Güter kostengünstig zu exportieren sowie Rohstoffe nach China zu verschiffen.
Kontrast: Welchen Einfluss übt China auf Europa aus?
Vogl: Ich würde sagen, direkte Einflussnahme ist nicht der Fall. China ist für Europa zunehmend eine konkurrierende Wirtschaftsmacht und hat folglich die Marktchancen für Spitzenprodukte aus der Europäischen Union weltweit verringert. Mittlerweile bietet auch China Hightech-Produkte an, und zwar zu geringeren Preisen. In China sind die Löhne niedriger, die Arbeitszeiten länger und die Energiekosten billiger. China ist ein sehr starker Konkurrent für Europa am Weltmarkt geworden, egal ob in Afrika, Lateinamerika oder wo auch immer. Bei weltweiten Ausschreibungen für Großprojekte bewerben sich chinesische Unternehmen. In vielen Fällen machen diese das Rennen und europäische Unternehmen erhalten keinen Auftrag.
Kontrast: Was wären Ihrer Meinung nach die globalen Konsequenzen, wenn China tatsächlich die USA als führende Weltmacht ablösen würde?
Vogl: Das US-amerikanische Narrativ lautet: „China bedroht unsere Demokratie, unsere demokratischen Institutionen, unseren freien, liberalen Lebensstil“. Das europäische Narrativ ist wesentlich rationaler. Hier geht es hauptsächlich um die ökonomische Sicherheit Europas. Ich gehe davon aus, dass China zukünftig nicht alleine eine ökonomische Spitzenstellung einnehmen wird. Zugleich mit China werden andere Länder ökonomisch nach oben ziehen – einige BRICS plus-Länder zum Beispiel.
Klimawandel als Risiko für Wirtschaft und politische Stabilität
Ich sehe als Zukunftsszenario jedoch nicht ein abgedriftetes Europa, abgedriftete Vereinigte Staaten und ein an der geopolitischen Führungsspitze stehendes China. Ich erwarte vielmehr eine Art Front neuer ökonomischer Mächte. Wobei ich Front nicht im militärischen Sinn meine. Gegenwärtig kämpft China ebenfalls damit, seine Wirtschaft zu sanieren. Die makroökonomischen Probleme Chinas sind nicht gering. Selbiges gilt auch für die Folgen des Klimawandels, wenn man den Anstieg von Naturkatastrophen in der Volksrepublik während der letzten Jahre betrachtet. Es gab verheerende Überschwemmungen mit Milliardenschaden und ebenso Dürrekatastrophen.
Den Klimawandel sehe ich prinzipiell als einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor für die kommenden Jahre. In geopolitischen Analysen wird dieser Faktor kaum miteinbezogen. Meiner Ansicht nach müssen Prognosen zur künftigen wirtschaftlichen Entwicklung unterschiedlicher Länder neu überdacht werden. Befindet sich ein Land in einer Hitzezone? Stellt der steigende Meeresspiegel eine signifikante Gefahr dar? Werden Hauptstädte unbewohnbar, wird der Stromverbrauch von Klimaanlagen derart ansteigen, sodass Verteilernetze überlastet sind? All diese Fragen werden meiner Meinung nach sehr bald eine geopolitische Rolle spielen.
Der Klimawandel kann zukünftig nationale Wirtschaftssysteme in der Entwicklung behindern und für rasche Regierungswechsel sorgen.

Kontrast: Sie sprechen von einer Art Front neuer ökonomischer Mächte. Welchen Einfluss könnte die Dominanz dieser Gruppe auf das internationale Regelwerk haben? Zum Beispiel im Hinblick auf Menschenrechte.
Vogl: Am Beispiel der ASEAN (Verband Südostasiatischer Nationen, Anm.) ist deutlich eine nicht-westliche Sichtweise im Hinblick auf die Menschenrechte erkennbar. In der Menschenrechtsdeklaration des ASEAN-Verbandes wird ebenso wie im Falle Chinas das Recht auf Entwicklung hervorgehoben. Auch wird die Rücksichtnahme auf die kulturellen Eigenheiten eines Landes bei der Einhaltung von Menschenrechten betont. Selbstverständlich können kulturelle Faktoren gegen gültige Menschenrechtsstandards verstoßen. Somit sind wir bereits heute mit einer ansatzweisen „Verwässerung“ der universell gültigen Menschenrechte konfrontiert.
Bei der Betrachtung der meisten ASEAN- Mitgliedsländer ist feststellbar, dass es um die Lage der Menschenrechte nicht sehr gut bestellt ist.
Kontrast: Inwiefern?
Vogl: Nehmen wir etwa die jährlichen Amnesty International Länderberichte für Malaysia oder die Philippinen, ganz zu schweigen von Brunei, Kambodscha oder Myanmar. Im asiatischen Raum werden Menschenrechtsstandards anders priorisiert: kollektive Rechte werden vor die Rechte des Individuums gereiht.
Wir in Europa haben die Durchsetzungskraft für unser Menschenrechtsmodell auf globaler Ebene verloren. Der Politikwissenschaftler Ivan Krastev hat in dem Buch „Das Licht, das erlosch“ sehr ausdrücklich dargelegt, dass die westeuropäischen Ideen und Werte während der letzten zwei Jahrzehnte in Südost- und Osteuropa bereits beträchtlich an Strahlkraft verloren haben. Wie könnten wir dann also an der Annahme festhalten, dass wir weltweit weiterhin ein „Leuchtfeuer“ für individuelle Werteorientierung darstellen?
Hier geht es jedoch nicht nur um China. In diesem Kontext wird der chinesische Einfluss überschätzt. Nehmen wir als Beispiel die Philippinen, die politische Führung der Philippinen ist klar erkennbar anti-chinesisch eingestellt. Dennoch ist es dort um Menschenrechte nicht gut bestellt. Auch die Tatsache, dass die US Navy derzeit ihre Militärbasen auf den Philippinen ausbaut, hat nicht zur Verbesserung der Menschenrechtslage beigetragen. Ebenso wenig lässt sich hingegen behaupten, die Philippinen hätten das chinesische Menschenrechtsmodell übernommen. Dies ist mit Sicherheit nicht der Fall.
Doris Vogl ist Sinologin und Lektorin für internationale Politik mit Schwerpunkt Asien an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Chinas geopolitische Rolle, China-ASEAN und Europäische Sicherheitspolitik.