„Bruno Kreisky würde HC Strache und die FPÖ wählen“. Das hat der Ex-FPÖ-Chef Strache vor ein paar Jahren über den ehemaligen SPÖ-Bundeskanzler gemutmaßt. Ist das eine reine Provokation? Oder gibt es einen ernsthaften Hintergrund, wenn sich die Rechten positiv auf die 1970er-Jahr beziehen? Was gefällt ihnen, an dieser guten alten Zeit? Reden wir einmal Tacheles.
Kowall redet Tacheles, Folge 22:
Folgender Text ist ein Transkript von “Kowall redet Tacheles, Folge 22”
Kapitel 1 Der Nationalstaat
Die 1970er-Jahre in Österreich: Gesellschaftlicher Aufbruch nach 1968 und absolute Mehrheit für die SPÖ: Schwangerschaftsabbruch, Gleichstellung von Mann und Frau vor dem Gesetz, Liberalisierungen für Homosexuelle. Wieso gibt es hier positive Bezugnahmen der Rechten auf diese Zeit, das ist auf den ersten Blick doch unlogisch.
Ich glaube, die Rechten schauen nostalgisch auf die 1970er-Jahre, weil Österreich als Nation damals noch zweifelsfrei existiert hat. Studien deuten darauf hin, dass das österreichische Nationalbewusstsein in den 1980er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte. Das ist vielleicht nicht zufällig die Zeit, als der Austropop seine größten Erfolge feierte. Seit Mitte der 1990er-Jahren ist das österreichische Nationalbewusstsein wieder rückläufig. Das verwundert nicht, weil wir uns seit damals erheblich globalisiert haben: Wir sind der EU beigetreten, wir haben mittlerweile über zwei Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich und wir sind nicht mehr auf den ORF angewiesen, sondern können einen deutschen Podcast hören, uns ein chinesisches Youtube-Video reinziehen oder eine US-Serie auf Netflix.
Wie stark sich die Bedeutung der Nation verändert hat, sehen wir auch daran, welche Rolle der Staat in der Wirtschaft spielt. Schauen wir uns eine typische Geschichte aus den 1970er-Jahren, also aus der Kreisky-Zeit, an. Damals stand der Kohlebergbau im steirischen Fohnsdorf vor dem Aus. Kohle hatte gegenüber Erdöl als Rohstoff an Bedeutung verloren und das Bergwerk musste schon seit Jahren staatlich subventioniert werden. Die Regierung Kreisky hat sich 1976 entschlossen, das Bergwerk zu schließen, was einen Verlust von 1.000 Arbeitsplätzen bedeutet hätte – eine Beschäftigungskatastrophe für Fohnsdorf.
Nur war die Regierung vorbereitet: Schon 1972 wurde eine Entwicklungsgesellschaft gegründet, die Schnellstraßen, höhere Schulen und Erdgasleitungen in der Region errichtete. Es wurde ein Schulungszentrum eröffnet, um Bergarbeiter zu Metallfacharbeitern umzuschulen. Die Regierung hat nicht nur in die Infrastruktur investiert, sondern sich auch um Ersatzarbeitsplätze bemüht. Die Firma Eumic wurde überzeugt, ein Leiterplattenwerk mit 300 Arbeitsplätzen in Fohnsdorf zu errichten. Und Kreisky ist zu Siemens gegangen und hat gesagt: Wir sind als Staat mit Post, Bahn und Elektrizitäts-Wirtschaft doch einer eurer größten Kunden. Könnt ihr nicht etwas für Fohnsdorf tun? Daraufhin hat Siemens im Ort ein Montagewerk errichtet und eine Lehrwerkstätte.
Außerdem gab es damals noch die verstaatlichte Industrie. Das war ein Riesen-Konglomerat. Über 100.000 Menschen arbeiteten in der Verstaatlichten, zu der neben der VÖEST und der ÖMV noch zahlreiche große Unternehmen gehörten, die heute noch bekannt sind wie AT&S, Salinen Austria oder die AMAG. Die Regierung Kreisky investierte mittels der Verstaatlichen Industrie in der Nachbarschaft von Fohnsdorf. Es wurde ein Elektromotorenwerk ist Spielberg errichtet und die VÖEST in Zeltweg wurde ausgebaut. Aus Sicht der Bevölkerung war die Schließung des Bergwerks ein großer Identitätsverlust und auch nicht alle Ansiedlungen konnten sich bis heute halten. Aber durch die Maßnahmen der Regierung konnte ein wirtschaftlicher Kollaps des ganzen Ortes inklusive Beschäftigungskrise abgewendet werden.
Wirtschaftlicher Strukturwandel ist wegen des technischen Fortschritts unvermeidbar. Aber Fohnsdorf ist ein Beispiel dafür, wie dieser Wandel abgefedert werden kann. Es ist ein Beispiel für die aktive Gestaltung des Wirtschaftslebens durch die Politik. Und wir sehen auch, worin die eigentliche Macht der Regierung bestand: Nicht primär in der Umverteilung oder der Auszahlung von Sozialleistungen, sondern in der Fähigkeit, Arbeit zu schaffen. Früher konnte der Staat Einkommen und Existenz garantieren. Später, im neoliberalen Zeitalter, war der Staat dazu nicht mehr in der Lage. Im Jahr 1986 erreichte die Krise der Verstaatlichten Industrie einen Höhepunkt und die großen Privatisierungen begannen. Es ist wohl kein Zufall, dass im gleichen Jahr der politische Aufstieg von Jörg Haider und dem Rechtspopulismus in Österreich begann.
Ich glaube, diese Periode führte zu einer Erschütterung des Vertrauens in den Staat. Seit damals wissen die Menschen, dass sie bei der Existenzsicherung, letztlich auf sich selbst gestellt sind. Sie fühlen, dass es keine übergeordnete Gemeinschaft gibt, die im Fall der Fälle da ist um sie aufzufangen. Und diese Gemeinschaft, das war in letzter Konsequenz die Republik Österreich.
Kapitel 2 Die alte Welt
Oben sehen wir den Erzberg in der steirischen Stadt Eisenerz. Er war in den 1960er-Jahren ein Nationalsymbol der österreichischen Industrie. Vom Erzberg aus führt ein Weg nach Süden, konkret nach Leoben. Dort wird das Erz seit 140 Jahren im VÖEST-Werk Leoben Donawitz zu Roheisen verarbeitet und dann in der Obersteiermark, in Graz sowie im südlichen Niederösterreich veredelt. Der andere Weg führt vom Erzberg nach Norden, konkret zur VÖEST nach Linz. Dort wird das Erz ebenfalls zu Roheisen verarbeitet und dann im oberösterreichischen Zentralraum veredelt. Die ganze Region ist ein riesiger Metall-Cluster, wie auch die alte Bezeichnung Eisenwurzen verdeutlicht. Dieser Cluster ist das historische Rückgrat der österreichischen Industrie und damit das Fundament unseres gesamten Wohlstands.
Die wirtschaftliche Tätigkeit spielte sich in den 1960er-Jahren primär im Rahmen des Nationalstaats ab. Es gab damals sogar noch eine eigene österreichische Autoproduktion, und zwar durch die Firma Steyr-Daimler-Puch. Eine Hervorbringung unseres Metallclusters in der Eisenwurzen. Um zu sehen ob die Wirtschaft eher national oder international beschaffen ist, schauen wir uns einfach an: Wie viel von dem, was in Österreich produziert wird, exportieren wir. Das heißt in der Fachsprache wir messen den Anteil der Exporte an der gesamten Wirtschaftsleistung. Im Jahr 1960 wurden circa 15 Prozent der österreichischen Wirtschaftsleistung exportiert. Das bedeutet im Umkehrschluss, 85 Prozent dessen, was in Österreich produziert wurde, wurde auch in Österreich verbraucht. Der Heimmarkt, in der Fachsprache Binnenmarkt genannt, spielte die dominante Rolle. Der Außenhandel war verhältnismäßig weniger bedeutsam.
In der alten Welt spielte sich die wirtschaftliche Tätigkeit in erster Linie im Rahmen der Nation ab. Die Volkswirtschaft und die Demokratie passten beide perfekt in den Rahmen des Nationalstaats. Der Staat hatte viel Einfluss auf die national strukturierte Wirtschaft, bei weitem nicht nur über die Verstaatlichte Industrie. Und damit hatte die Demokratie große Gestaltungsspielräume – auch im Bereich der Wirtschaftspolitik. Wir haben das vorher an den wirtschaftspolitischen Aktivitäten der Regierung Kreisky gesehen. Im Nationalstaat konnten die Dinge, die der Bevölkerung wichtig waren, durch die Politik ermöglicht werden – zum Beispiel Vollbeschäftigung. Das heißt, die Demokratie konnte ihr zentrales Versprechen halten: Das, was die Mehrheit der Bevölkerung als richtig empfand, konnte auch verwirklicht werden.
In dieser Zeit hat die Demokratie ihre zahlreichen Instrumente genützt, um den Kapitalismus zu zähmen. Das war im Rahmen der nationalstaatlich organisierten Volkswirtschaft auch durchaus machbar. Und die Erfolge lassen sich sehen:
Schon 1947 kam ein Kollektivvertragsgesetz. Das System der Lohnverhandlungen wurde zentralisiert und staatlich reguliert – Kollektivverträge galten nicht mehr in einer Firma, sondern in der gesamten Branche.
- 1949: Einführung der Kinderbeihilfe
- 1956 wurde das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) beschlossen und das ist die Einführung der Krankenversicherung und der Pensionsversicherung.
- 1959: Einführung der 45-Stunden-Woche
- 1974 kam das Arbeitsverfassungsgesetz mit der Mitbestimmung des Betriebsrats im Aufsichtsrat von großen Unternehmen.
- 1975: Einführung der 40-Stunden-Woche
- 1982: Mietrechtsgesetz mit der Einführung der Kategoriemieten
- 1985: Einführung der 38,5-Stunden-Woche
- 1985, welche Zeit war das nochmal? Ah richtig, die Krise der Verstaatlichten Industrie, der Beginn der Privatisierungen und die Zeit, wo die Politik keine Jobs mehr garantieren konnte. In den 1990er-Jahren erreichte die Privatisierung von Staatsbetrieben einen Höhepunkt und es kam zu etlichen großen Sparpaketen. Es ist die Zeit, als Jörg Haider groß wurde. Und es ist nicht zufällig auch die Zeit, wo die wirtschaftliche Globalisierung richtig Fahrt aufnahm.
Kapitel 3 Die Globalisierung Österreichs
Das hier ist die Werkshalle der Firma Starlim Sterner in Machtrenk in Oberösterreich. Das Unternehmen ist der Weltmarktführer in der Hochpräzisionsverarbeitung von Silikon. Die hier von Starlim Sterner verwendete Maschine kommt wiederum von der Firma Engel, dem größten österreichischen Maschinenbauer. Engel baut Spritzgussmaschinen, die größten davon in einem Werk im oberösterreichischen St. Valentin. Beide Unternehmen exportieren fast ihre gesamte Produktion ins Ausland. Für viele österreichische Industrieunternehmen sind die internationalen Märkte heute viel wichtiger als der Heimmarkt. Gleichzeitig importieren wir viele Waren von Unternehmen, die ihren Sitz im Ausland haben.
Und damit sind wir beim entscheidenden Unterschied zwischen dem Österreich von 1960 und jenem von 2022: Das Ausmaß unserer wirtschaftlichen Globalisierung hat sich stark verändert. Erinnern wir uns, dass wir 1960 rund 15% unserer Wirtschaftsleistung exportiert haben. Heute exportieren wir 40% von dem, was wir produzieren. Und daran sehen wir, dass der Binnenmarkt heute im Gegensatz zu 1960 nicht mehr dominiert und das, was die Menschen in Österreich produzieren, und das, was sie verbrauchen, keineswegs mehr übereinstimmt. Werfen wir einen Blick zurück zu den ersten EU-Wahlen im Jahr 1996, damals hat ein Bürger im ORF sein Unbehagen zum Ausdruck gebracht, dass Volkswirtschaft und Nation nicht mehr zusammenpassen. [Wenn in Österreich eine Firma zusperrt und das 1.000 km herführt und hin und her karrt das Ganze, ja und die ganzen Arbeitsplätze wird alles hin. Das wird ja alles durch das kaputt gemacht. Wenn in jedem großen Dorf, in jeder Stadt das selber produziert wird dann haben wir Arbeitsplätze genug und haben den halben Verkehr. Muss das denn alles tausende km hergeführt werden?] Unsere Volkswirtschaft hat den Rahmen des Nationalstaats längst verlassen. Unsere politische Struktur ist national, unsere wirtschaftliche Realität längst international.
Es gibt Unternehmen wie Starlim Sterner und Engel, die während der jüngeren Globalisierung wirtschaftlich sehr erfolgreich waren und wo viele gut bezahlte Jobs entstanden sind. Anders wäre auch nicht zu erklären, wieso Österreich heute eines der wohlhabendsten Länder der EU ist. Das ist die Schokoladenseite der Internationalisierung, jene Seite, die von Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer immer besonders hervorgestrichen wird. Gleichzeitig war die jüngere Globalisierung eine Phase, in der Betriebe abwanderten oder zusperrten, wie der Reifenhersteller Semperit im niederösterreichischen Traiskirchen vor 20 Jahren oder vor zwei Jahren die ATB im steirischen Spielberg. Das ist übrigens jenes Elektromotorenwerk, das die Regierung Kreisky in den 1970er-Jahren in der Nachbarschaft von Fohnsdorf angesiedelt hatte. Zahlreiche Unternehmen haben Wellen von Rationalisierungen und Umstrukturierungen erlebt, sowie zuletzt das MAN-Werk im oberösterreichischen Steyr. Die Anzahl der Beschäftigten ist dabei immer gesunken, der Druck immer gestiegen
Uns muss klar sein: In den letzten Jahrzehnten gab es in Österreich Branchen, Unternehmen und Beschäftigte, die verloren haben und solche die gewonnen haben. Die Arbeitslosigkeit war während der jüngeren Globalisierung höher als im Nationalstaat der Nachkriegsjahrzehnte, die Verteilung der Einkommen wurde ungleicher, die Konzentration der Vermögen immer ärger. Dennoch ist die Anzahl der Beschäftigten stetig gestiegen, ebenso das Bruttoinlandsprodukt und es entstanden Unmengen von neuen Konsumartikeln. Ob die subjektive Lebensqualität heute höher ist als 1980 das steht aber auf einem anderen Blatt. Eines ist klar: Der Staat und die Gewerkschaften waren im Zeitalter der Globalisierung nicht in der Lage den wirtschaftlichen Druck, der auf den Weltmärkten entstand, politisch abzufedern.
Es ist unvorstellbar, dass ein Bundeskanzler heute zum Siemens-Konzern gehen kann und sagt: Hey, wir sind ein großer Kunde von euch, baut uns bitte eine Lehrwerkstätte nach Fohnsdorf. Zudem ist die österreichische Industrie längst privatisiert. Es gibt auch nicht mehr die Möglichkeit mittels Verstaatlichter Industrie Betriebe auf die grüne Wiese zu stellen. Die Instrumente, die die Regierung Kreisky in einer national strukturierten Wirtschaft mit staatlichem Einfluss hatte, hat sie in einer globalisierten und privatisierten Wirtschaft schlicht nicht mehr. Versuchen wir diesen rückläufigen Einfluss an einem einzigen Indikator zu messen, nämlich der Arbeitszeit. In den Nachkriegsjahrzehnten kam es zu zahlreichen Arbeitszeitverkürzungen, aber nur bis 1985, womit wir wieder in der großen Umbruchzeit angelangt sind. Seit die Globalisierung Fahrt aufnahm wurde die Arbeitszeit kein einziges Mal gesenkt.
Politik und Zivilgesellschaft konnten die wirtschaftlichen Veränderungsprozesse im Zeitalter der Globalisierung nur noch abmildern, aber nicht mehr steuern. In den letzten Jahrzehnten hatte das Kapital das Sagen, die Demokratie spielte die zweite Geige. Die Zähmung des Kapitalismus wurde schlaffer.
Kapitel 4 Standortkonkurrenz
Wieso haben sich die Gewichte zwischen Demokratie und Kapital im Rahmen der Globalisierung eigentlich verschoben? Im Kern liegt es am Standortwettbewerb. Schauen wir uns den im Detail an:
Wenn der Staat in der alten Welt Standards im Arbeitsrecht angehoben hat, die Steuern für Unternehmen erhöht hat oder eine Umwelt-Regulierung eingeführt hat, dann waren alle Unternehmen gleichermaßen betroffen. Der Markt war ja primär national organisiert und eine staatliche Regulierung hat die Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Unternehmen gegenüber ihren nationalen Mitbewerbern nicht beeinflusst. Heute aber müssen Unternehmen international konkurrenzfähig sein. Eine Steuererhöhung oder die Einführung eines Mindestlohnes können dazu führen, dass meine Unternehmen international einen Kostennachteil haben. Am Ende kann meine nationale Regulierung dann mehr Schaden als Nutzen anrichten.
Das heißt die Demokratie kann heute nicht mehr umsetzen, was sie für richtig hält. Sie muss vielmehr schauen, dass die Nation ein attraktiver Standort bleibt. Das ist der berüchtigte Standortwettbewerb, in dem nicht mehr nur Unternehmen konkurrieren, sondern ganze Nationalstaaten. Und natürlich werden Wirtschaftsvertreter und Lobbys die negativen Folgen einer Regulierung immer völlig übertrieben darstellen. Aber das heißt nicht, dass das Argument nicht einen wahren Kern hat. Wenn ein Land seine ökologischen oder sozialen Standards raufschraubt, dann kann das im schlimmsten Fall zur Abwanderung von Betrieben führen. Denn, so sagen Wirtschaftsvertreter, Kapital ist ein scheues Reh. Ein Unternehmen kann ja seinen Betrieb in Europa zusperren und in der Türkei oder in Vietnam eine neue Produktion aufbauen. Kapital ist also mobil. Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik bringt es wie folgt auf den Punkt: „Kapitalmobilität gibt Arbeitgebern ein glaubwürdiges Druckmittel: Akzeptiert geringere Löhne oder wir wandern ab”
In der globalisierten Welt verliert der Nationalstaat enorm an politischem Handlungsspielraum und damit auch die national organisierte Demokratie. Die Demokratie kann ihr Versprechen nicht erfüllen, das was die Mehrheit der Bevölkerung als richtig empfindet, auch umzusetzen. Es gilt nicht mehr: was ist demokratisch gewünscht, sondern was nützt oder schadet im internationalen Wettbewerb. Niemand hat diesen Umstand besser auf den Punkt gebracht als Angela Merkel, sie sprach von der Marktkonformen Demokratie. Das heißt nicht der Markt muss sich an den Rahmen anpassen, den die Demokratie vorgibt, sondern die Demokratie muss sich an den Markt anpassen.
Und das ist ein Problem für die Demokratie im Nationalstaat. Vor jeder Wahl versprechen die Parteien Dinge, die nur mehr bedingt in ihrem Einflussbereich liegen. Wenn dann Firmen abwandern, der Druck im Job steigt, die Ungleichheit zunimmt und die Menschen sich nur noch als Nummer in einer globalen Wirtschaftsmaschine fühlen, dann sehen sie das Problem bei den Parteien – oder noch schlimmer, bei der Demokratie an sich. Aber in einer internationalen Wirtschaft kann die Demokratie national nicht mehr das leisten, was sie in Kreiskys Zeiten noch konnte. Wir überfordern die Demokratie mit unseren Erwartungen. Verantwortlich für das Schlamassel ist aber nicht die demokratische Idee ansich, sondern die begrenzte Handlungsfähigkeit des Nationalstaates gegenüber dem Kapital im Zeitalter der Globalisierung.
Kapitel 4 Der Vorrang der Politik
Wir haben bereits festgestellt, dass Österreich heute 40% seiner Wirtschaftsleistung exportiert, während es 1960 nur 15 Prozent waren. Belgien und die Slowakei exportieren überhaupt die Hälfte ihrer ganzen Wirtschaftsleistung. Beide Länder sind extrem stark globalisiert. Die EU-Länder kommen im Schnitt auf ein Drittel. Mittelgroße Volkswirtschaften wie Mexiko, Frankreich oder Großbritannien exportieren rund ein Viertel ihrer Wirtschaftsleistung. Und interessanterweise sehen wir, dass die ganz großen Volkswirtschaften wie Indien, China oder Japan nur bei rund 15 Prozent liegen. Die USA sogar nur bei elf Prozent.
Wie bitte? Die größte Volkswirtschaft der Welt exportiert nur elf Prozent ihrer Wirtschaftsleistung? Wie kann das sein? Die USA sind immerhin die drittgrößte Handelsmacht, hinter der EU und China. Die Antwort darauf lautet: Nur weil die USA im Welthandel bedeutsam sind, heißt das umgekehrt nicht automatisch, dass der Welthandel entscheidend für die USA ist. Warum nicht? Die USA haben ihre eigene Autoindustrie, ihre eigene Chemie- und Pharmaindustrie, ihre eigene elektronische Industrie. Sie haben ihre eigene Infrastruktur im Fremdenverkehr, in der Landwirtschaft und in der Rohstoffgewinnung. Die USA können viel von dem, was sie selbst verbrauchen, auch selbst produzieren. Sie haben einen gigantischen Binnenmarkt, die USA sind quasi eine Welt für sich.
In einer großen Volkswirtschaft wie den USA ist die Spielanordnung zwischen Kapital und Demokratie eine ganz andere als in einer kleinen wie Österreich. Wenn ein multinationaler Konzern sagt die österreichischen Umwelt-Standards sind mir zu hoch, um hier zu produzieren, kann er stattdessen in Rumänien eine Fabrik aufbauen und von dort aus Österreich beliefern. Wenn ein multinationaler Konzern das zu den USA sagt, können die antworten – Wenn der politische Wille da ist, wenn sie wollen! – können sie antworten: Geh hin wo du willst, aber unsere Standards wirst du nicht unterlaufen und zu uns lieferst du gar nichts.
Die EU ist aber ein Sammelsurium von kleinen und mittleren Volkswirtschaften. Die einzelnen EU-Staaten sind sehr stark globalisiert, die Spielanordnung zwischen Demokratie und Kapital ist vom Rahmen her viel ungünstiger als in Japan, China oder den USA. Und genau hier ist der entscheidende Punkt, um einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Der wichtigste Handelspartner jedes einzelnen EU-Landes ist die EU. Und wenn wir den ganzen Handel zwischen den EU-Ländern als inländisch betrachten, dann ändert sich die Spielanordnung erheblich. Die EU als Einheit ist genauso wenig stark globalisiert wie die USA. Warum? Weil wir in Europa genauso unseren eigenen riesigen Binnenmarkt haben: Unsere eigene Industrie, unsere eigene Infrastruktur für Fremdenverkehr, unsere eigene Landwirtschaft. Die EU bietet also genauso wie die USA einen volkswirtschaftlichen Rahmen, in dem der Vorrang der Politik über die Wirtschaft hergestellt werden kann.
Aber sind die USA berühmt dafür, dass die Demokratie dem Kapital sagt, wo es lang geht? Nein, sind sie definitiv nicht. Nur weil die USA den prinzipiellen Rahmen haben, um den Vorrang der Demokratie durchzusetzen, heißt das noch lange nicht, dass es passiert. Das liegt dann viel an historischen Traditionen, am Lobbyismus oder an der politischen Kultur. Aber ohne einen Rahmen, in dem ich das Kapital bändigen kann, brauche ich gar nicht erst dafür zu kämpfen. Die USA könnten, es fehlt nur der politische Wille. Das ist in der EU anders. Die Menschen in Europa vertrauen den ungebremsten Marktkräften viel weniger als die Bürgerinnen und Bürger in den USA. Und das sieht man seit kurzem sogar an der Politik der Europäischen Union.
Kapitel 5 Die Europäische Union
Moment, Moment, die EU nicht der Hort des Neoliberalismus, die Brutstätte von Standortkonkurrenz und Sparpolitik. Waren da nicht diese Typen, die in der Eurokrise Griechenland haben verelenden lassen, an der Spitze Kommissionspräsident Barroso? Hat die herablassende Art dieser Leute gegenüber Südeuropa nicht dazu beigetragen, dass die Rechtspopulisten jetzt im spanischen Parlament sitzen und die italienische Regierung anführen? Definitiv! Nur folgte auf den Herrn Barroso der Herr Juncker. Ein Christdemokrat der alten Schule, der schon ein kSignal dahingehend war, dass der radikale Neoliberalismus jetzt einmal Pause hat. Aber, und das haben die meisten von uns noch nicht richtig am Schirm: Der Neoliberalismus kam nach seiner Pause nicht wieder. Auf Herrn Juncker folgte nämlich diese Dame hier: Ursula von der Leyen. Und um sich ein Urteil über ihre Politik zu bilden, messen wir sie am besten an ihren Taten.
Letzten Sommer hat sich die EU auf einheitliche Regeln für Mindestlöhne geeinigt. Zum Beispiel müssen Mindestlöhne jetzt alle zwei Jahre angehoben werden.
Die EU hat vor zwei Jahren Ruhezeiten und Arbeitsschutz für LKW-Fahrer:innen beschlossen. Damit sollen Ausbeutung und Dumping unterbunden werden.
Im Vorjahr haben sich 130 Staaten auf die Einführung einer Mindest-Unternehmenssteuer geeinigt. Die Kommission hat die EU-Mitgliedsstaaten in diesem Prozess koordiniert.
Die EU führt nächstes Jahr eine Berichtspflicht für Unternehmen zum Thema Nachhaltigkeit ein. Unternehmen müssen dann dokumentieren, ob ihre Zulieferer auf Kinderarbeit zurückgreifen oder besonders umweltschädlich produzieren.
Hinzu kommen zwei bahnbrechende Ideen, die noch in Planung sind.
Das erste ist ein Lieferkettengesetz, wo bereits ein Vorschlag vorliegt. Unternehmen müssen dann nicht nur über ihre Zulieferer berichten, sondern diese auch austauschen, wenn Standards bei Menschenrechten oder Umweltschutz nicht eingehalten werden. Das ist ein wirklich kraftvolles Instrument für eine Zivilisierung des Welthandels.
Außerdem hat Von der Leyen die französische Idee der CO2-Grenzausgleichssteuer aufgegriffen. Mittelfristig soll der CO2-Abdruck jedes Guts, das in die EU importiert wird, festgestellt werden können. Güter, die unter besonders CO2-intensiv hergestellt wurden, werden mit einem Zoll belegt. Das schafft einen Anreiz für Unternehmen, ihre Produktion CO2-neutraler auszurichten. Das wäre eine Revolution in der Klimapolitik.
Überdies hat die Kommission unter Von der Leyen auf die Pandemie völlig anders reagiert als die Kommission Barroso damals auf die Eurokrise. Anstelle von Sparprogrammen wurde ein riesiges staatliches Investitionsprogramm auf den Weg gebracht, das zu einem Drittel für ökologische Maßnahmen verwendet werden muss. Die Finanzierung erfolgt über eine gemeinsame europäische Verschuldung – ein Schritt, gegen den sich Deutschland lange gewehrt hatte und der die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der EU um Lichtjahre voranbringt.
Fassen wir die bisherige Agenda der Kommission Von der Leyen zusammen: Regulierungen, Markteingriffe, staatliche Ausgabenprogramme. Der Neoliberalismus in der EU ist tot. Ich behaupte, die Kommission von der Leyen ist progressiver als die allermeisten nationalen Regierungen in der EU.
Dieser beachtliche Politikwechsel hat Gründe: Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und der Brexit waren auch Belege dafür, dass die Menschen nicht länger Spielbälle der globalisierten Wirtschaft sein möchten. Die Pandemie und der Krieg haben obendrein gezeigt, dass es ein Fehler war, den Weltmarkt alles regeln zu lassen. In Europa waren wir bei medizinischer Schutzbekleidung plötzlich auf China angewiesen, bei Basis-Medizin wie Penicillin auf Indien. Der Überseehandel wurde instabil, viele Produkte und etliche Bestandteile für die Industrie waren nicht mehr verfügbar. Und der Überfall Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, dass Europa bei Energie auf fatale Weise abhängig ist. Darum hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die globale Wirtschaft viel mehr politische Steuerung braucht.
Die derzeitige EU-Kommission nützt den volkswirtschaftlichen Rahmen der EU, um progressive Maßnahmen durchzusetzen. Das geht, weil die Union im 21. Jahrhundert politisch so handlungsfähig ist wie nationale Volkswirtschaften im 20. Jahrhundert. Europa ist das Operationsfeld, um die Kapitalseite dort herauszufordern, wo der Nationalstaat nicht mehr ausreicht. Die Union ist der Garant dafür, dass im Verhältnis von Kapital und Demokratie künftig nicht der Schwanz mit dem Hund wedelt, sondern umgekehrt der Hund mit dem Schwanz. Die EU kann das Versprechen der Demokratie einlösen.
Und deshalb ist es so wichtig, dass die Progressiven endlich beginnen, Europa als den entscheidenden Hebel für sozialen, ökologischen und gesellschaftlichen Fortschritt zu begreifen. Die EU ist nicht links, rechts, sozial, oder neoliberal. Genauso wenig, wie es Spanien, Tschechien oder Finnland sind. Wie jeder Nationalstaat ist die EU das, was wir daraus machen. Europa ist deshalb großartig, weil die zivilisatorische Bändigung des Kapitalismus durch den Nationalstaat hier auf größerer Ebene noch einmal möglich ist. Mit der EU haben wir den Rahmen, in dem sich Fortschritt durchsetzen lässt. Der Rest ist eine Frage von politischen Auseinandersetzungen. Nicht, dass die leicht zu gewinnen sind. Aber mit dem Operationsfeld EU zahlt es sich wenigstens aus, es zu versuchen.
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Sehr schön geschriebener Artikel, danke dafür. Jetzt verstehe ich besser, was ich vom Gefühl her wusste, es aber nicht in Worte fassen konnte, wieso eigentlich ein Engagement in den EU-Gremien so ungemein wichtig ist.