Die Arbeiterklasse taucht in den letzten Jahren vor allem dann als politischer Faktor auf, wenn sie rechtspopulistische Parteien unterstützt. Die beiden Soziolog:innen Linda Beck und Linus Westheuser haben in langen Gesprächen mit Produktionsarbeiter:innen ihr politisches Bewusstsein herausgearbeitet und sind in ihrer Studie „Verletzte Ansprüche“ zu überraschenden Ergebnissen gekommen. Das Bild des konservativen, nationalistischen Arbeiters, der ins rechte Lager abdriftet und den Lebensstil des städtischen Mittelstands ablehnt – das haben sie nicht gefunden.
Die alltägliche Gesellschaftskritik der Arbeiter:innen ist geprägt von gebrochenen Versprechen und verletzten Ansprüchen. Sie fühlen sich politisch kaum vertreten und ökonomisch benachteiligt. Die Kritik an ungleicher Vermögens- und Einkommensverteilung zieht sich durch alle Gespräche mit Produktionsarbeiter:innen, die die beiden Soziolog:innen Linda Beck und Linus Westheuser führten. Die Menschen empfinden die Leistungen der Reichen oft nicht als ausreichend, um die große soziale Ungleichheit zu rechtfertigen. Klar ist für die Arbeiter:innen: Der Wohlstand wird nicht leistungsgerecht verteilt und das Profitstreben in der Wirtschaft geht auf Kosten von Leuten wie ihnen.
Beim Sozialstaat haben die beiden Sozialwissenschafter:innen eine nationale Orientierung entdeckt: Wenn es um Unterstützungen des Sozialstaats geht, die als knapp wahrgenommen werden, spielen Herkunft, aber auch Arbeit und Leistung eine große Rolle. Dass jemand ein Auskommen haben könnte, das er sich nicht erarbeiten musste, wird von fast allen Arbeitern in den Gesprächen als ungerecht empfunden. Dabei geht es ihnen aber immer auch darum, dass sie selbst zu wenig Leistung und Unterstützung bekommen.
Die Politik wiederum wird vor allem als Teil der Oberschicht wahrgenommen. Arbeiter:innen sehnen sich nach dem sozialen Ausgleich der Nachkriegszeit. Sie wünschen sich, dass die Politik für einen gerechten Ausgleich zwischen Kapital- und Arbeiter:inneninteressen sorgt. Tatsächlich erleben sie Politik aber als Vertreter von Lobby- und Wirtschaftsinteressen, die sich wenig um Leute wie sie kümmern.
Seit dem Aufstieg der FPÖ, dem Brexit und dem Wahlerfolg von Trump gibt es das Bild der weißen Arbeiterklasse, die sehr autoritär und nationalistisch eingestellt ist. Widerspricht eure Studie diesem Bild?
Westheuser: Qualitative Studien wie unsere liefern keine Prozentzahlen und Häufigkeiten. Aber sie lassen uns verstehen, wie Leute ticken, wie die Welt aus ihrem Blickwinkel aussieht. Das ist gerade in Bezug auf Arbeiter:innen wichtig, weil das eine Gruppe ist, über die in den letzten Jahren viel gesprochen und geschrieben wurde, oft recht einseitig und aus großer Distanz. Wenn man mit den Leuten spricht, begegnet einem eine Realität, die lebendiger und widersprüchlicher ist. Zum Beispiel konnte man zuletzt den Eindruck haben, Arbeiter:innen bildeten ein gefestigtes rechtes Lager, das sich reflexhaft von der ‚woken‘ urbanen Mittelklasse abgrenzt. Die Ergebnisse unserer Studie zeichnen hier ein anderes und in unseren Augen interessanteres Bild.
Die Arbeiter:innen, mit denen wir gesprochen haben, kritisieren mit wachem Verstand eine Vielfalt von Formen der Ungleichheit: vom exzessiven Reichtum der Oberschicht, über Profitdruck, Ausbeutung und Beschleunigung am Arbeitsplatz, der Abwertung ihrer körperlich harten Arbeit, bis zur Verschlossenheit der Politik gegenüber den Forderungen der einfachen Leute.
Viel stärker als Fragen des Lebensstils und der kulturellen Abgrenzung entzündet sich die Kritik der Arbeiter also an verletzten Ansprüchen auf Teilhabe. Wie wir mit Rückgriff auf Statistiken zeigen, sind viele dieser Kritikpunkte wohlbegründet.
Ihr habt weniger geschlossene Weltbilder gefunden, als ein diffuses Unrechtsbewusstsein, eine grundlegende Skepsis gegenüber Wirtschaft und Politik. Könnt ihr das erläutern?
Westheuser: Die Mehrheit der Arbeiter:innen sind viel weniger ideologisch festgelegt, als es im öffentlichen Diskurs dargestellt wird. Schon in Umfragen sieht man, dass nur eine Minderheit der Arbeiter sich selbst als rechts verstehen. Die typische politische Haltung ist eine, die sich weder als “links” noch als “rechts”, “konservativ” oder “liberal” präsentiert, sondern mit der Politik überhaupt gar nicht viel zu tun haben will. Viele Arbeiter:innen nehmen sich selbst nicht als besonders politisch wahr, haben aber ein sehr feines Gespür dafür, wo ihnen Unrecht widerfährt und wo die Mächtigen das Maß des Akzeptablen überschreiten. So wird Kritik an den Reichen, den Politikern, aber auch vermeintlich leistungsunwilligen Empfängern von Arbeitslosengeld und Migranten geübt, ohne dass sich das notwendigerweise zu einem politisch klar festgelegten Weltbild fügt.
Dahinter steht auch ein Symptom politischer Ungleichheit: Die meisten Arbeiter:innen haben den Eindruck, dass sie sowieso nicht gefragt werden. Sie äußern eine Kritik “von der Seitenlinie”, haben aber wenig Hoffnung, dass irgendwer auf sie hören wird. Wenn dies nicht durch die Teilhabe an Organisationen korrigiert wird, die Arbeiter:innen politisches Selbstvertrauen vermitteln, besteht für sie kein großer Anreiz, sich ein systematisches politisches Weltbild zusammenzubauen. Stattdessen ergibt sich ein sehr widersprüchliches Bewusstsein, das für ganz unterschiedliche politische Ansprachen offen ist. Die Haupttendenz ist aber die der Demobilisierung, also des Versiegens einer Hoffnung auf kollektive, politische Antworten auf das wahrgenommene Unrecht.

Dem gegenüber stehen Gruppen mit einem geschlossenen politischen Weltbild – welche wären das?“
Westheuser: Wenn es um ein politisches Klassenbewusstsein geht, also ein Wissen um gemeinsame Interessen, das gemeinsames politischen Handeln anleitet, dann muss man vor allem nach ganz oben schauen. Die wirklich Reichen und großen Eigentümer sind gut organisiert, sie wissen, was ihre Interessen sind und wie sie diese durchsetzen können. Das ist keine Gruppe, die groß genug ist, um einen relevanten Wählerblock zu bilden, aber sie haben natürlich andere, effektivere Formen der Einflussnahme. Zudem sieht man auch, dass Leute mit steigender Bildung kohärentere Einstellungsmuster haben. Angehörige der gebildeten Mittel- und Oberklassen gehen nicht nur viel häufiger wählen als Arbeiter:innen. Sie haben auch stärker den Eindruck, dass es darauf ankommt, was ihre Meinung ist und dass sie die Kompetenz haben, ein Urteil über die Dinge der ‚hohen Politik‘ zu äußern. Diese Formen des politischen Ausschlusses hat der Soziologe Pierre Bourdieu schon in den 1970er Jahren aufgezeigt. Sein Schüler Daniel Gaxie beschrieb sie einmal überspitzt als verstecktes Fortleben des Zensuswahlrechts.
In Österreich fühlt sich das untere Drittel von der Politik kaum noch vertreten, 9 von 10 Leuten glauben nicht, dass Politik etwas für sie macht. Politiker werden als Vertreter von Lobby- und Wirtschaftsinteressen wahrgenommen…
Beck: Wichtig ist hier der Begriff der „demobilisierten Klassengesellschaft“, wie ihn der deutsche Soziologe Klaus Dörre beschreibt. Auf der einen Seite gibt es einen stark angewachsenen Niedriglohnsektor, eine Polarisierung zwischen hohen und niedrigen Einkommen und die enorme Vermögensungleichheit – das heißt, die Klassenunterschiede existieren und nehmen sogar zu. Diese Ungleichheit wird aber immer weniger in die Politik getragen. Dies hängt einerseits mit der Schwäche der Gewerkschaften zusammen. Wir haben uns in der Studie aber auch angesehen, wie oft im Bundestag und in den Medien über Arbeiter:innen gesprochen wird – und das ist immer seltener der Fall. Die Arbeiter:innen spielen als Wählerblock eine deutlich geringere Rolle als noch früher. Man kann das als einen politischen Ausschluss der Arbeiterklasse und ihrer Interessen beschreiben.
Von den Befragten selbst wird das auch genau so wahrgenommen und kritisiert, sie fühlen sich kaum vertreten. Sehr häufig ist uns die Vorstellung begegnet, dass Politik vor allem für die Oberschicht gemacht wird.
Es gibt Studien, die zeigen, dass die politische Einstellung und Wünsche von den unteren Schichten systematisch nicht in Beschlüssen münden. Bei den Wünschen der Oberschicht ist das Gegenteil der Fall. Dasselbe Gefälle zeigt sich auch in der symbolischen Repräsentation, also dem Gefühl, als Gruppe repräsentiert und wahrgenommen zu werden. Allein schon, wenn Parteien von Arbeiter:innen sprechen und sie direkt ansprechen, erhöht sich statistisch gesehen der Wähleranteil dieser Parteien unter den Arbeitern. Das klingt wie ein billiger PR-Trick, zeigt aber, wie groß die Lücke in der symbolischen Repräsentation ist.
Eure Studie hat auch ergeben, dass Gerechtigkeit für Arbeiter:innen viel mit Leistung zu tun hat. Also das moralische Kriterium dafür, wem was zusteht, ist die Arbeitsleistung. Am Arbeitsplatz gehören migrantische Arbeiter:innen eher dazu, bei den Sozialleistungen werden sie eher ausgeschlossen. Kann man das so kurz zusammenfassen?
Beck: In der Grundtendenz haben wir beobachtet, dass migrationskritische Haltungen stärker in Bezug auf vermeintlich ‚unwürdige‘ Leistungsempfänger, wie etwa Geflüchtete, geäußert wurden. Das heißt nicht, dass nicht auch mit Hinblick auf migrantische Arbeiter in der eigenen Branche Befürchtungen, wie etwa ein steigender Lohndruck geäußert wurden. Für die Beweggründe von migrantischen Arbeitenden haben unseren Gesprächspartnern jedoch häufig Verständnis aufgebracht. Die Schuld wurde weniger bei den Migranten selbst gesucht, sondern beispielsweise bei Arbeitgebern, die von den niedrigen Löhnen profitieren.

Konkurrenz mit Migranten, die sich in eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber übersetzt, fanden wir vor allem dort, wo es um den begrenzten „Kuchen“ geht, den der Sozialstaat verteilt. Da werden eigene verletzte Ansprüche gegen „unwürdige” Leistungsempfänger geltend gemacht. Das richtet sich gegen Geflüchtete, aber in einer ganz ähnlichen Logik auch gegen deutsche Sozialhilfeempfänger. Die Wahrnehmung, dass diese Gruppen große sozialstaatliche Unterstützung und Aufmerksamkeit bekommen, wird vor dem Hintergrund skandalisiert, dass entsprechende Leistungen den eigentlich „würdigen“ hart arbeitenden Gruppen vorenthalten werden.
Westheuser: Demobilisierung und Konkurrenz hängen eng zusammen. Wenn man nicht mehr die Hoffnung hat, dass man über kollektive Strategien oder Wachstum den Gesamt-„Kuchen” vergrößern kann, dann ist es logisch, dass man das eigene Kuchenstück argwöhnisch bewacht. Für die Arbeiter:innen ist dieses Stück durch ihre Arbeitsleistung verbürgt. Die Verteidigung der eigenen Wertigkeit führt deshalb oft zu einem Wettbewerb darum, wer mehr leistet und deshalb eigentlich mehr verdient hätte. Das geht in alle Richtungen – gegen die, die von außen kommen und gegen die, die angeblich nur auf der Couch sitzen und Sozialhilfe empfangen, aber auch gegen die, die im klimatisierten Büro sitzen und „nur eine Maus klicken”, aber mehr verdienen als man selbst. Im Denken der Leute steht so nicht der Kampf kollektiver Interessensgruppen um die Verteilung von Wohlstand im Vordergrund, sondern der Wettbewerb individueller Leistungsträger um knappe Güter und Ansprüche. Das befeuert eine Entsolidarisierung. Diese Entsolidarisierung wurde übrigens nicht nur von Rechtsextremen geschürt, sondern auch von der Rhetorik des „Gürtel-enger-Schnallens“ im Zuge der Austeritätspolitik und der Verschärfung von Zugangsbedingungen für staatlichen Leistungen.
Die Hoffnung auf mehr gesellschaftlichen Reichtum und den Ausbau des Sozialstaats – die gibt es gar nicht?
Westheuser: Generell fällt auf, dass die Grundhaltung der Arbeiterkritik eine defensive ist. Bei den höher Gebildeten, etwa akademisch gebildeten Angestellten im sozialen und kulturellen Bereich, herrscht oft eher eine Idee des gesellschaftlichen Fortschritts vor. Bei den Arbeitern findet man dagegen oft eine nostalgische Haltung, die sich implizit nach dem Sozialstaatskompromiss der Nachkriegszeit sehnt, wo man von seiner eigenen Leistung gut leben konnte und die Ungleichheit im Rahmen blieb.
Ihr schreibt, dass kulturelle Fragen wie die Rechte von Homosexuellen, Gender-Themen, etc. eine deutlich kleinere Rolle in euren Interviews gespielt haben als die Kritik an ungleicher Macht und Ressourcenverteilung. Das widerspricht zahlreichen prominenten Thesen, wonach sich Arbeiter:innen vor allem wegen kultureller Fragen von linken Parteien abgewertet und entfremdet fühlen …
Beck: Das Gefühl der Abwertung ist in unseren Interviews vor allem als Nicht-Anerkennung der eigenen Arbeitsleistung aufgetaucht. So haben beispielsweise Bauarbeitende kritisiert, dass der gesellschaftliche Nutzen ihrer Arbeit heutzutage nicht mehr gesehen und anerkannt wird. Ebenso wurde kritisiert, dass die Anerkennung von Personen in unserer Gesellschaft auf das Einkommen reduziert wird. Was dagegen kaum eine Rolle spielte, war eine Kritik, wie sie den Arbeiter:innen oft zugeschrieben wird, nämlich eine, die auf die Anerkennung verschiedener Lebensstile fokussiert ist.
Westheuser: Die Idee, dass Arbeiter:innen in erster Linie von einem kulturellen Protest gegen die Chai Latte trinkende kosmopolitische Mittelschicht motiviert sind – das haben wir so nicht gefunden. Das mag daran liegen, dass die Befragten uns diese Gedanken nicht mitteilen wollten. Es kann aber auch sein, dass es sich bei dieser Idee eher um eine Projektion dieser Mittelschichten selbst handelt.
Für die gebildete Mittelschicht ist es typisch, dass dem Lebensstil ein hoher Wert beigemessen wird und dass die kulturelle Distinktion für die zentrale Dimension sozialer Ordnung gehalten wird. In der Arbeiterklasse wird gesellschaftliche Ordnung viel stärker über materielle Verteilung verstanden. Auch Anerkennung wird vor allem daran festgemacht, wer was bekommt und ob das verdient ist.
Das heißt nicht unbedingt, dass rechte Parteien Arbeiter:innen nicht auch über kulturelle Abgrenzung mobilisieren können. In einem Forschungsprojekt an der HU Berlin untersuchen Steffen Mau, Thomas Lux und ich derzeit wie bestimmte Themen – wie etwa Gender-Sternchen oder Flüchtlings-Obergrenzen – zu “Triggerpunkten” werden, also provozierende Fragen, die an grundlegende Moralvorstellungen verschiedener sozialer Gruppen rühren. Es geht also nicht darum, “harte” ökonomische gegen “weiche” kulturelle Themen auszuspielen. Aber ein Fokus auf verletzte Ansprüche führt hier, denke ich, weiter, als die Annahme eines Kulturkampfs zwischen zwei entgegengesetzten Wertelagern. Auch in sogenannten Kulturkonflikten geht es oft darum, eigene verletzte Ansprüche zu dramatisieren. Verteilung und Anerkennung vermischen sich in der Frage: Warum wird mir etwas vorenthalten, was andere vermeintlich “einfach so” kriegen?
Die Studie kann ohne Paywall beim Berliner Journal für Soziologie gelesen und heruntergeladen werden: https://link.springer.com/article/10.1007/s11609-022-00470-0.
Das Interview wurde am 26. Mai 2022 geführt.