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Gastbeiträge

Nahost-Konflikt: Nicht nur für Gaza ein Desaster

Vier Monate nach dem Angriff der Hamas ihrer jihadistischen und radikalnationalistischen Verbündeten  auf Israel, am 7. Oktober 2023, ist Gaza über weite Teile verwüstet und ein großer Teil israelischen Geiseln immer noch in der Hand der Hamas und ihrer Verbündeten. Vom deklarierten Ziel der israelischen Regierung, der militärischen Vernichtung der Hamas, ist Israel noch weit entfernt. Stattdessen droht der Konflikt immer mehr auf andere Regionen des Nahen Ostens überzugreifen. 

Humanitäre Katastrophe

Für die 2,2 Millionen Palästinenser:innen des Gaza-Streifens ist dieser Krieg die schlimmste humanitäre Katastrophe seit 1948. Damals wurde aus der Kleinstadt Gaza und ihrer Umgebung der „Gaza-Streifen“ und die lokale Bevölkerung von rund 60.000 muslimischen und christlichen Palästinenser:innen mit rund 200.000 Kriegsflüchtlingen aus den von Israel eroberten Gebieten überschwemmt. Die kleine historische jüdische Gemeinde von Gaza war bereits im Arabischen Aufstand von 1929 vertrieben worden. Nun kamen die arabischen Vertriebenen aus dem Süden des heutigen Israel. Rund 78% der heutigen Bevölkerung des Gaza-Streifens sind Nachkommen dieser Flüchtlinge von 1948. Viele befinden sich nun erneut auf der Flucht innerhalb des Gaza-Streifens.

Von den laut den Gesundheitsbehörden in Gaza mittlerweile über 26.000 Toten dürfte es sich um mindestens zwei Drittel Zivilist:innen handeln. Unter den 1.139 israelischen Todesopfern vom 7. Oktober machten mit 695 getöteten Zivilist:innen ebenfalls die zivilen Opfer etwa zwei Drittel der Toten aus. 

Obwohl seit Beginn der Israelischen Bodenoffensive am 27. Oktober überwiegend palästinensische Zivilist:innen zu Tode kamen, bedeutet das nicht, dass der Krieg für israelische Zivilist:innen vorbei wäre. Bis heute sind die Hamas und ihre Verbündeten in der Lage, mit selbst gebauten Raketen israelische Städte, darunter auch die Millionenstadt Tel Aviv, zu beschießen. Gleichzeitig findet im Gaza-Streifen eine humanitäre Katastrophe statt.

In einem so dicht besiedelten urbanisierten Raum wie Gaza – das dichter besiedelt ist als die Stadt Wien – ist ein „sauberer“ Krieg, bei dem primär Streitkräfte  und nicht Zivilist:innen sterben, kaum zu führen. Schon gar nicht, wenn es keine sicheren Fluchtalternativen für die Zivilbevölkerung gibt. 

Verschärft wird diese humanitäre Situation einerseits durch die Probleme von Hilfsorganisationen, in die Region zu kommen. Andererseits auch durch die Situation des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), das seit seiner Gründung 1949 für große Teile der medizinischen Versorgung, Ausbildung und humanitären Hilfe zuständig ist. So betreibt die UNRWA etwa 183 Volks- und Hauptschulen mit über 286.000 Schüler:innen im Gaza-Streifen. Dementsprechend sind insgesamt etwa 12.0000 Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Angestellte bei der UNRWA beschäftigt, die damit auch ein wichtiger ökonomischer Faktor für die Region darstellt. Vorwürfe Israels, dass 12 lokale Mitarbeiter der UNRWA am Hamas-Angriff vom 7. Oktober beteiligt waren, führten dazu, dass neun Staaten, darunter wichtige Geldgeber wie die USA, Großbritannien oder Deutschland, ihre Zahlungen an die UNRWA im Jänner einstellten. Obwohl die UNRWA die Verdächtigen – sobald sie entsprechende Informationen von Israel erhalten hatte -, entlassen hatte und entsprechende Untersuchungen einleitete, fehlen der ohnehin an ihren Grenzen angelangten UNRWA nun große Teile ihrer Finanzen. 

Der israelischen Regierung genügt dies nicht. Außenminister Israel Katz von der Likud-Partei, ein Hardliner, der eine Zweistaatenlösung öffentlich als „absolut absurd“ abtut und die Hamas als die „neuen Nazis“ bezeichnet, geht die finanzielle Austrocknung der UNRWA noch nicht weit genug. Katz forderte den Schweizer Generalkommissar der UNRWA, Philippe Lazzarini, zum Rücktritt auf und  Israels Regierungssprecher Eylon Levy warf der UNRWA über X (vormals Twitter) vor, eine „Front der Hamas“ zu sein. 

Israel zunehmend international isoliert

Diese Angriffe auf die UNRWA stehen wohl auch im Kontext der massiven Kritik, die sie in den letzten Wochen an der israelischen Kriegsführung formuliert hat. Mit dieser Kritik steht die UNRWA allerdings nicht allein da.

Die Klage, die Südafrika am 29. Dezember gegen Israel am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eingebracht hat, wurde am 26. Jänner nicht abgewiesen. 16 der 17 IGH-Richter (teils auch der Israeli Aharon Barak) attestierten Israel, „dem Anschein nach“ gegen die Völkermordkonvention von 1948 zu verstoßen. Auch wenn sie keine sofortige Einstellung der Kämpfe anordneten, sind die sechs erteilten Auflagen eine schwere juristische Niederlage Israels. Diese Auflagen reichen von der Aufforderung, alles zu verhindern und zu bestrafen, was zum Genozid aufstachelt, womit entsprechende Äußerungen auch von Politikern rechtsextremer Regierungsparteien implizit angesprochen werden, bis hin zur Garantie humanitärer Hilfe für Gaza.

Man mag zur inflationären Verwendung des Genozid-Begriffs in den letzten Jahren stehen, wie man will, auf internationalem juristischem Parkett ist dies für Israel eine schwere Niederlage. Bis das Verfahren zu Ende geführt wird, wird es Jahre dauern. Allein, dass der IGH den Völkermordvorwurf nicht als offensichtlich absurd abweist, müsste für Israel jedoch die Alarmglocken läuten lassen.

International steht der Staat zunehmend isoliert da. Bei der UN-Generalversammlung im Dezember hatten nur noch zehn Staaten gegen einen Waffenstillstand gestimmt. Neben den USA und Israel selbst stimmten fast nur noch unbedeutende und stark von Israel oder den USA abhängige Kleinstaaten gegen den Waffenstillstand. Österreich und Tschechien stellten die einzigen EU-Staaten dar, die dagegen stimmten. 

Die internationale Solidarität, die Israel nach dem 7. Oktober erlebt hatte, ist heute so gut wie verflogen. Nie war der Staat international isolierter als heute. 

Politischer Erfolg für die Hamas?

Politisch ist der Krieg für die Hamas bisher ein Erfolg. Umfragen zeigen, dass die Sympathien für die Hamas im Westjordanland seit Beginn des Krieges gestiegen sind und die meisten Palästinenser:innen nicht die Hamas, sondern Israel für die humanitäre Katastrophe in Gaza verantwortlich machen. Wie das die Bevölkerung im Gaza-Streifen selbst sieht, ist nicht seriös zu sagen. Umfragen sind unter diesen Bedingungen nicht möglich und eventuelle Proteste gegen die Hamas würden unterdrückt werden. Es gibt zwar Berichte über Unzufriedenheit mit dem Umgang der Hamas mit Hilfslieferungen, da sie Teile für die eigenen Kämpfer abzweigt. Doch wie weit diese zu einem verstärkten Dissens mit der Hamas führen, ist nicht seriös zu ermitteln.

Es kann durchaus sein, dass die Hamas mit der massiven und brutalen Gewalt gegen Zivilist:innen am 7. Oktober genau die Absicht hatte, eine Überreaktion Israels zu provozieren und die Bevölkerung von Gaza gewissermaßen dem „größeren Ziel“ zu opfern, um einem „arabischen Palästina vom Fluss bis zum Meer“ einen Schritt näher zu kommen. 

Drohende Eskalation

Auch wenn sich die arabischen Nachbarstaaten zu Beginn des Krieges auffällig zurückgehalten haben und selbst die libanesisch-schiitische Hizbollah – einer der engsten Verbündeten des Iran in der Region – überwiegend auf symbolische Solidaritätsangriffe im Norden Israels beschränkte, droht nun nach vier Monaten Krieg zunehmend eine Eskalation in der Region. Sowohl der Iran als auch die Türkei verschärfen zunehmend ihre Rhetorik gegen Israel. 

Der Iran hat in den letzten Wochen sowohl Ziele im Irak als auch in Pakistan angegriffen. Die Angriffe des Iran richteten sich dort gegen sunnitisch-islamistische Oppositionsgruppen der ethnischen Minderheit der Balutschen, die sowohl im Iran als auch in Pakistan und Afghanistan leben. Als Antwort darauf griff wiederum Pakistan Ziele im Iran an. 

Im Irak griffen proiranische Milizen kurdische und US-amerikanische Einrichtungen an. Die irakische Regierung verlangte mehrfach den Abzug der USA, was wohl auch Folgen für die US-Militärpräsenz in Syrien hätte, die logistisch vom Irak abhängt. Nach dem Angriff einer proiranischen Miliz auf eine US-Basis in Jordanien bilden US-Militärschläge auf Stellungen im Irak und Syrien in der Nacht vom 2. auf 3. Februar den nächsten Eskalationsschritt.

Die Angriffe der mit dem Iran verbündeten Huthi-Milizen im Jemen auf Schiffe im Roten Meer haben darüber hinaus zu einem direkten Kriegseintritt der USA und Großbritanniens am Roten Meer geführt. Auch hier herrscht großes Eskalationspotential in einer Region, die schon bisher extrem instabil war.

Niemand scheint wirklich eine Eskalation zu wollen, allerdings eskaliert die Situation derzeit an allen Ecken und Enden der Region immer mehr.

Sollte der Krieg um Gaza noch Monate dauern, ist auch ein größerer Regionalkonflikt mit direkter Beteiligung der USA und möglicherweise Russlands denkbar, was angesichts anderer Konfliktherde, wie etwa dem Krieg in der Ukraine eine nicht mehr zu stoppende Eskalation zur Folge haben könnte.

(Keine) Nachkriegsszenarien

Selbst wenn der Krieg vorerst auf Israel/Palästina begrenzt bleibt, ist keine schnelle Beruhigung der Lage zu erwarten. Die Hamas hat zwar keine Chance, militärisch gegen die israelische Armee zu gewinnen. In einem asymmetrischen Krieg geht es aber nicht unbedingt darum, ein Territorium zu halten, sondern eher darum, das Kriegsziel des überlegenen Gegners, in diesem Fall die Vernichtung der Hamas, zu verhindern.

So wäre durchaus ein Szenario, bei dem die Hamas zwar Gaza militärisch verliert und Israel dort in einen langfristigen Terrorkrieg verwickelt, während sie zugleich politisch zunehmend das bislang von der Fatah kontrollierte Westjordanland übernimmt.

Selbst wenn der Hamas die Übernahme des Westjordanlandes nicht gelingen sollte, werden mit einem Sieg der israelischen Armee im Gaza-Streifen die Probleme für Israel erst richtig beginnen. Wenn man von Äußerungen einzelner besonders rechtsextremer Regierungsmitglieder – die in Richtung Vertreibung der Palästinenser gehen – absieht, scheint nach wie vor niemand einen ernst zu nehmenden Plan zu haben, was nach einer Besetzung des Gaza-Streifens mit diesem und v.a. mit seiner Bevölkerung geschehen soll.

Eine Übernahme einer effektiven Regierungsgewalt durch die politisch geschwächte Fatah-dominierte Palästinensische Autorität in Ramallah ist ebenso unrealistisch, wie der Versuch, verschiedene arabische Staaten als Verwalter einzuspannen. Damit bleibt das wahrscheinlichste Szenario, dass Israel wieder – wie schon 1956-1957 und 1967-2005 – als Besatzungsmacht auftreten wird. Dann hätte Israel nicht nur die Verantwortung für den Wiederaufbau des völlig zerstörten Gaza-Streifens, sondern auch eine feindlich gesinnte und vielfach immer noch gut organisierte Bevölkerung zu kontrollieren. Damit wären weitere Eskalationen und Gewaltausbrüche vorprogrammiert. 

Das Fehlen einer politischen Lösungsperspektive in der derzeitigen israelischen Regierung ist nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für Israel eine schlechte Nachricht. So eine Lösung könnte entweder eine Zweistaatenlösung auf Basis der Waffenstillstandslinien von 1948 sein; oder – sollte diese aufgrund der mittlerweile 600.000 israelischen Siedler im Westjordanland nicht mehr möglich sein – eine föderale Einstaatenlösung gleichberechtigter Bürger:innen. Das würde dann allerdings das Ende des zionistischen Traumes eines „jüdischen Staates“ bedeuten. Passiert beides nicht, ist eine Lösung des Konflikts – ja nicht einmal eine Konflikttransformation zu einer gewaltlosen Konfliktaustragung – nicht vorstellbar. 

Ohne eine solche Friedenslösung wäre Israel allerdings weiterhin von der Unterstützung der USA abhängig, die zunehmend ihre Rolle als einzige Supermacht in der internationalen Politik verliert und schon seit der Präsidentschaft Donald Trumps sich auf dem Rückzug aus dem Nahen Osten befindet. Zudem ist aufgrund der massiven innenpolitischen Spannungen in den USA ein Kollabieren der Supermacht nach den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht mehr ganz auszuschließen. 

Die strikte Weigerung der rechtesten Regierung, die Israel je hatte, eine politische Lösung des Konfliktes anzustreben, wird damit auch für Israel zunehmend bedrohlich und könnte dem „jüdischen Staat“ mittelfristig mehr schaden als nutzen.

Geiseln gegen Waffenstillstand

Einen möglichen Ausweg könnten die aktuell laufenden Verhandlungen zu einem Austausch eines Teils der Geiseln gegen einen längerfristigeren Waffenstillstand bieten. Die Tatsache, dass die israelische Regierung in den letzten Wochen relativ wenig Rücksicht auf die Geiseln genommen hatte und die israelische Armee sogar versehentlich selbst israelische Geiseln erschossen hatte, sollte die Erwartungen nicht allzu hoch schrauben. Demonstrationen von Angehörigen der Geiseln in Israel drücken allerdings Hoffnung aus. Die israelische Regierung wird in den kommenden Tagen entscheiden müssen, ob ihr das Leben der israelischen Geiseln oder die (vielleicht gar nicht mögliche) Vernichtung der Hamas wichtiger ist. Eine befristete Waffenruhe würde zumindest die Möglichkeit zu weiteren Verhandlungen bieten. Außerdem würde es der Bevölkerung im Gaza-Streifen und in Israel eine Atempause verschaffen und dabei helfen, eine weitere Eskalation in der gesamten Region zu verhindern. 

Thomas Schmidinger

Foto: Heinrich Böll-Stiftung

Thomas Schmidinger, geb. 1974 in Feldkirch (Vbg.), ist Politikwissenschafter und Sozial- und Kulturanthropologe und unterrichtet an der Universität Wien und der Fachhochschule Oberösterreich. Er ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie und Mitherausgeber des Wiener Jahrbuchs für Kurdische Studien. Forschungsschwerpunkte sind neben der Kurdischen Frage, Migration, Politischer Islam, religiöse Minderheiten in Mittleren Osten, Jihadismus, Kosovo, der Sudan und Gewerkschaften in der Arabischen Welt.

 

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