Jährlich verlieren die Staaten in Europa rund 1.000 Mrd. Euro durch den Steuerraub multinationaler Konzerne und Superreicher. Zum Vergleich: Das ist ungefähr so viel, wie ganz Europa für die Gesundheitsversorgung seiner Bevölkerung ausgibt. Doch das Geld fehlt nicht nur dem Wohlfahrtsstaat, es fehlt auch in der Wirtschaft. Milliarden bleiben in Steuersümpfen hängen, statt investiert zu werden und das Wachstum anzutreiben. Der britische Ökonom Richard Murphy will Konzerne zur Offenlegung ihrer Steuerleistung zwingen. “Wir müssen die Konzerne auf die Titelseiten der Zeitungen bringen. Damit treiben wir sie in die Enge”.
Richard Murphy, Sie sagen, Steuerhinterziehung erzeugt Ungleichheit – wieso?
Murphy: Steuersümpfe verursachen eine unfaire Welt. Sie erzeugen Ungleichheit und zerstören unsere Marktwirtschaft. Ich glaube an eine gemischte Wirtschaft: An die starke Funktion des Staates, aber ich glaube auch an die Funktion von Märkten. Wer Steuergerechtigkeit einfordert, ist der beste Freund der Marktwirtschaften.
Wie geschieht Steuermissbrauch?
Murphy: Steuermissbrauch geschieht auf zwei Ebenen: Einerseits in Form der Steuervermeidung – das ist die legale, clevere Form, welche von Steuer- und Rechtsberatern ausgeführt wird. Andererseits gibt es noch die illegale Form des Steuermissbrauchs, und zwar die Steuerhinterziehung. Laut unserer Schätzung entfallen 850 Milliarden auf Steuerhinterziehung und 150 Milliarden auf Steuervermeidung. Insgesamt entgehen den Staaten Europas also 1.000 Milliarden jährlich durch Steuerbetrug und Steuervermeidung.
Wie wirkt sich das auf unsere Wirtschaft aus?
Murphy: Unternehmen investieren oft nicht in neue Produkte oder Dienstleistungen, sondern in Steuerbetrug, finanzielle Manipulation und Lobbying für niedrigere Steuersätze. Das Geld wird nicht investiert, sondern in Steuersümpfen geparkt. Und dort bleibt es hängen. Mit dem Geld könnte neuer Wohlstand geschaffen werden, stattdessen wird uns Wohlstand entzogen. Deswegen erleben wir nur schwaches oder gar kein Wachstum. Der Steuerbetrug blockiert die Innovation und infolge die wirtschaftliche Entwicklung.
Das Problem endet eben nicht damit, dass keine Steuern gezahlt werden. Das Hauptproblem ist, dass unsere Marktwirtschaften darunter leiden. Denn das Wachstum wird gebremst. Infolge gibt es zu wenig Innovation und zu wenig Veränderung.
Ganz sprichwörtlich müssen wir den Kapitalismus vor sich selbst retten. Märkte können nur dann funktionieren, wenn sie über volle Information verfügen. Anders können sie Ressourcen nicht effizient vergeben. Und jetzt denkt daran, zu welchem Zweck Steuersümpfe geschaffen sind: Sie sind ein Werkzeug, um Informationen geheim zu halten. Dazu wurden sie konstruiert.
Was heißt das für unsere Gesellschaft?
Murphy: Die Konzentration von Wohlstand und Vermögen steigt. Und wir wissen: Das ist ein grundlegendes Problem für die Weltwirtschaft. Und Steuersümpfe werden nur geschaffen, um diese Ungleichheit weiter zu vergrößern. Wir sehen Unternehmen, die nach Rendite Ausschau halten und zum Beispiel an Lizenzen verdienen, wie etwa Apple oder Google. Diese Unternehmen verdienen an uns und schieben ihre Einnahmen in Steuersümpfe. Wir alle verlieren Investitionen, Wachstum, Steuereinkünfte und geschäftliche Möglichkeiten.
Was müssen wir tun?
Murphy: Transparenz ist der Schlüssel: Um Steuersümpfe trocken zu legen, brauchen wir eine öffentliche länderweise Berichterstattung der Konzerne, in der diese veröffentlichen, in welchem Land sie welche Umsätze und Gewinne machen und wo sie welche Steuern zahlen. Heute kommen ausnahmslos multinationale Konzerne damit durch, keine Informationen darüber preiszugeben, wo sie sind, was sie tun und wo sie ihre Steuern zahlen. 97% aller Unternehmen müssen das jetzt schon machen, weil sie nur in einem Land agieren. Ziel muss es sein, die großen Konzerne auf die Titelseiten der Zeitungen zu bringen. Damit treiben wir die Steuerhinterzieher in die Enge, wir blamieren sie und stoppen sie dadurch.
Zur Person: Richard Murphy ist Professor für Internationale Politische Ökonomie an der University of London. www.taxresearch.org.uk