Europas sozialdemokratische Parteien müssen überzeugende Alternativen zum Neoliberalismus entwickeln. Ob sie aus der Krise herausfinden, hängt auch davon ab, ob sie die Kritik des österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern an der europäischen Austeritätspolitik ernst nehmen, so der englische Journalist und Autor Paul Mason in seinem Kommentar.
Sobald beim berühmten Stierrennen in Pamplona die Stiere losgelassen werden, ist es völlig egal, wie fein gekleidet oder sportlich jemand ist: Man wird immer wie ein völlig verängstigter Mensch aussehen, der vor Stieren davonläuft. So wie in Pamplona, war es jetzt auch für den abgesetzten Chef der Spanischen Sozialisten (PSOE), Pedro Sánchez, in Madrid. Er wählte den Moment sorgfältig, um es mit den tobenden Bullen seiner Parteioligarchie aufzunehmen. Aber sie schafften es trotzdem, ihn zu zertrampeln – und das gnadenlos.
Sánchez´ Fehler war, die Tradition des „turnismo“ in Frage gestellt zu haben. Diese steht für die in Spanien übliche Praxis, dass sich Konservative und PSOE an der Macht abwechseln und ihre Günstlinge mit Posten versorgen, während 20 Prozent der spanischen Bevölkerung keinen Job haben. Nach zwei Wahlen ohne klaren Ausgang, blieb Sánchez dabei, eine rechtskonservative Regierung zu verhindern und Wege für eine Regierungsübernahme mit der Unterstützung der Linkspartei Podemos zu suchen. Dafür wurde er nun in einem chaotischen Coup seiner Position enthoben, ausgeführt von den mächtigen Häuptlingen in den Regionalregierungen.
Die neoliberale Ideologie ist gescheitert, die Sozialdemokratie ihrer Ressourcen beraubt
Sánchez´ Schicksal ist ein weiterer Ausdruck der Krise der europäischen Sozialdemokratie. Drei Jahrzehnte lang wurde sie von den vorherrschenden neoliberalen Rahmenbedingungen deformiert. Nun, da das neoliberale Modell gescheitert ist, scheint die Sozialdemokratie der intellektuellen Ressourcen beraubt, sich selbst zu erneuern.
Der ungarisch-amerikanische Historiker Karl Polanyi argumentiert, dass der Kapitalismus auf einer Art „Doppelbewegung“ aufgebaut ist: Dem Druck nach freien Märkten und Deregulierung auf der einen und einem Gegendruck, der danach schreit, die Märkte nach den Interessen der Gesellschaft zu regulieren. Polanyis Ideen haben der Linken seit den 1980er Jahren eine Rechtfertigung gegeben, den Niedergang der Arbeiterklasse zu überleben. Anstatt „die Arbeiterklasse zu beschützen“, wurde das Ziel der Sozialdemokratie die „Regulierung des Kapitalismus zu seinem eigenen Wohl“.
Die zentralen Grundsätze des neoliberalen Systems wurden im Lissabonvertrag in Stein gemeißelt: die Verordnung strikter Austerität und das Verbot des Schutzes von Schlüsselindustrien gegen den globalen Markt.
Nun, da die wirtschaftlichen Triebfedern des Neoliberalismus zerbrochen sind, ist es Aufgabe der Sozialdemokratie, die Erfindung von etwas Anderem zu beschleunigen.
Aber wie Pedro Sánchez´ Schicksal verrät, ist sie dafür schlecht gerüstet. Die meisten sozialdemokratischen Eliten und Bürokraten in Europa – Großbritannien eingeschlossen, wie die (gescheiterte) Revolte gegen Jeremy Corbyn zeigte – haben sich daran gewöhnt, einem Kapitalismus zu dienen, der nicht funktioniert, und wirken unfähig, sich eine andere Zukunft vorstellen oder gar entwerfen zu können. Die radikalere Linke – in Form von Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, Bernie Sanders in den USA und Corbyn in Großbritannien – steht klar für einen Bruch mit dem Neoliberalismus. Aber wodurch soll er ersetzt werden? In jenem Land, in dem die radikale Linke die Macht übernahm, in Griechenland, wurde sie von den nordeuropäischen Sozialdemokraten zur Unterwerfung gezwungen.
Wird die europäische Sozialdemokratie auf Kerns Kritik am Sparkurs hören?
Jetzt haben wir es mit einer Reihe von Alarmrufen zu tun: Der Beinahe-Sieg der Rechtsextremen bei der österreichischen Präsidentschaftswahl im Mai führte zu einem parteiinternen Coup der österreichischen Sozialdemokratie, der den mitte-links-orientierten Christian Kern zum Kanzler gemacht hat. Kern, obwohl sein Leben lang Technokrat, umgibt sich mit linken DenkerInnen. Im vergangenen Monat hielt er ein Plädoyer dafür, in Europa mit der Sparpolitik zu brechen, auf konjunkturelle Impulse zu setzen und – mit einem leichten Seitenhieb auf Angela Merkel – damit aufzuhören, die Krise für nationale Vorteile zu nützen.
Unterdessen befindet sich die französische Sozialdemokratie im moralischen Zusammenbruch. Für keine/n ihrer in Frage kommenden KandidatInnen scheint es möglich, bei der nächsten Präsidentschaftswahl die Rechtsextreme Marine Le Pen zu schlagen – die AnhängerInnen der Sozialistsichen Partei stellen sich bereits zähneknirschend darauf ein, für einen Konservativen stimmen zu müssen, um Le Pen zu verhindern. Und in Italien hat Premier Matteo Renzi die Zukunft seiner Partei an ein Verfassungsreferendum geknüpft, das er zu verlieren droht.
All das erklärt, warum Corbyns Sieg in Europas Sozialdemokratie die Alarmglocken zum Schrillen gebracht hat. Denn dieser zeigt, dass es möglich ist, eine traditionelle sozialdemokratische Partei nach links zu bewegen. Die Niederlage von Sánchez, exakt eine Woche später, soll wohl zeigen, dass es doch nicht möglich ist. Die spanische sozialistische Elite nimmt den Preis weiterer vier Jahre konservativer Herrschaft in Kauf, um die neue, lebendige Linkspartei von der Macht fernzuhalten. Aber Spanien könnte der gesamten europäischen Sozialdemokratie eine Lektion erteilen: Klammert sie sich an den Neoliberalismus, wird sie nicht überleben. Wenn Podemos, die neue Linkspartei, sich jenen gegenüber öffnen kann, die vom Sturz Sánchez´ angewidert sind, ist der Weg frei für ihren Aufstieg zu einer Syriza-ähnlichen hegemonialen linken Partei.
Dann stellt sich die Frage, die der österreichische Kanzler Christian Kern aufgeworfen hat: Wird Europas Sozialdemokratie auch weiterhin auf Austerität setzen – oder beginnt sie, auch zum Zweck des eigenen Überlebens, den Kampf gegen sie?
Paul Mason ist ein bekannter englischer Journalist, Autor und Hochschullehrer
Der Artikel erschien in englischer Sprache im „Guardian“, Boris Ginner hat ihn für uns übersetzt.