Rund 40.000 Bosnier:innen verlassen jedes Jahr ihr Land. Sie fühlen sich ohnmächtig aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation und der grassierenden Korruption. Im Herbst stehen Wahlen an: Teile der politischen Elite versuchen ihr Versagen mit nationalistischen Parolen zu übertünchen. Das spitzt die Lage in diesem destabilisierten Land weiter zu, das durch Konflikte zwischen muslimischen, katholischen und serbisch-orthodoxen Bosnier:innen aufgerieben wird. Doch auch Hoffnung macht sich breit: In Sarajevo regiert seit kurzem mit Benjamina Karic die erste Bürgermeisterin, die sich keiner ethnischen Gruppe zugehörig fühlt. Auch die Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft könnte dem Land Hoffnung geben.
In kaum einer anderen Stadt ist die Geschichte so sehr in das Straßenbild eingeschrieben wie in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Das historische Zentrum könnte man mit Istanbul verwechseln. Händler verkaufen im Basar traditionelle Kaffeekannen und Kupfer-Kunststiche, Jugendliche rauchen Wasserpfeife, fünf Mal am Tag ruft der Imam die Gläubigen zum Gebet in die prächtige Gazi Husrev-Beg Moschee. Hier riecht es nach aromatisiertem Tabak und über Holzkohle gegrilltem Fleisch. Keine 300 Meter weiter steht die Herz-Jesu Kathedrale. Um dorthin zu gelangen, spaziert man über eine Einkaufsstraße, die genauso gut in Salzburg sein könnte. Geld wird am Bankomaten der Raiffeisenbank behoben. Man zahlt mit Mark und Pfennig. Die Straßenbahnen stammen aus Österreich genauso wie der Architekt des Rathauses. Der Amtssitz der Bürgermeisterin erinnert an ein Palais der Habsburgerzeit, geschmückt mit osmanischen Mosaiken.
Nicht weit entfernt an der Lateinerbrücke findet man eine kleine gläsernere Informationstafel, die an das Attentat auf den österreichischen Thronfolger 1914 aufmerksam macht. 1917 stellte man dort ein steinernes Denkmal zu Ehren Franz Ferdinands auf. 1930 ein Denkmal zu Ehren des serbischen Attentäters. Letztlich hat man sich auf eine neutrale Inschrift geeinigt und es so schlicht wie möglich gehalten. Die Tafel ist winzig, vor allem wenn man bedenkt, dass von hier aus der 1. Weltkrieg seinen Lauf nahm.
Doch die Stadt benötigt kein großes Mahnmal für den Krieg, sie ist es schließlich selbst. Überall findet man zerstörte Häuser, die dem Bosnien-Krieg von 1992 bis 1995 zum Opfer fielen – selbst in bester Innenstadtlage. In den meisten Gebäuden sind Einschusslöcher, auch in der berühmten Bob-Bahn. Errichtet für die ersten Olympischen Spiele in einer Stadt mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. 1984 eröffnet, um der Welt die Pracht Jugoslawiens zu zeigen, sollte sie acht Jahre später zum Schauplatz des brutalen Trennungskrieges werden. Heute ist sie zu weiten Teilen zerstört, neben Einschusslöchern finden sich Graffitis. Sie sagen: „Give Peace a chance“ und „No War“. Das ist es, was sich die Bevölkerung wünscht – doch kurz vor den Wahlen im Herbst werden diese Wunden wieder aufgerissen.
Nationalisten drohen mit der Teilung des Landes
Die für Herbst angesetzten Wahlen könnten zu einer Abrechnung mit der politischen Elite des Landes werden. Frust macht sich breit wegen der miserablen wirtschaftlichen Lage und der grassierenden Korruption. Die Inflation liegt bei über 10 % und frisst die niedrigen Löhne, die im Schnitt nicht einmal 500 Euro betragen, auf. 15 % der Bosnier:innen sind arbeitslos, Jobs bekommt man meist nur über die richtigen Kontakte. Doch in den Zeitungen werden keine Wirtschaftsprogramme diskutiert – Hauptthema sind wieder einmal die ethnischen Konflikte, aufgeheizt durch Nationalisten. Milorad Dodik, der serbische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium, spielte offen mit Abspaltungsideen der Republika Srpska (serbische Republik) vom Gesamtstaat. Er kündigte an, den Teilstaat aus wichtigen gesamtbosnischen Institutionen in den Bereichen der Verteidigung, Justiz und Steuern zurückzuziehen. Das wäre ein massiver Schritt in Richtung Teilung des Landes.
Die Elite verdient am Status Quo
Mittlerweile ist Dodik wieder etwas zurückgerudert. Ein in Bosnien bekanntes Spiel: Nationalisten heizen die Stimmung auf, um von der wirtschaftlich katastrophalen Situation und der massiven Korruption, an der sie verdienen, abzulenken. „In Wahrheit haben die Nationalisten ein Interesse daran, den Status Quo beizubehalten. Ihre Macht ist einzementiert. Sie vergeben Jobs, wie sie wollen und manipulieren die Wahlen. Bei einer Teilung des Landes könnte Dodik niemanden für seine katastrophale Wirtschaftsbilanz mehr verantwortlich machen. Darum ist ihr überwiegendes Interesse, das es einfach so bleibt wie es ist“, erklärt ein Kenner der bosnischen Politik.
In den letzten drei Jahrzehnten hat die politische Elite ein fast feudales System aufgebaut in dem serbische, kroatische oder bosniakische Parteiführer Jobs und öffentliche Aufträge nach Gutdünken vergeben. Bosnien besteht aus zwei Teilrepubliken, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska (serbische Republik). Die Föderation setzt sich wiederum aus zehn Kantonen zusammen, die alle weitreichende politische Rechte haben, etwa was Bildung oder Polizei angeht. Selbst die Funktion des Präsidenten wird von einem dreiköpfigen Staatspräsidium, bestehend aus einem muslimischen Bosniaken, einem katholischen Kroaten und einem orthodoxen Serben ausgeführt. Dieser aufgeblasene Apparat, der den Frieden zwischen den Volksgruppen sichern sollte, wurde zum Nährboden für Korruption.
40.000 verlassen Bosnien jedes Jahr
Die nationalistischen Parteien vergeben die Ämter in den zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben penibel aufgeteilten Staatsapparat. Im Gegenzug erwartet man sich Stimmen und Geld.
„Es gibt Leute, die einen Kredit zwischen 5.000 und 20.000 Mark (zwischen 2.500 und 10.000 Euro) aufnehmen, um das Schmiergeld für einen Arbeitsplatz zu bezahlen und trotzdem stehen sie dann ein Leben lang in der Schuld ihrer Gönner“, erzählt man Kontrast im bosnischen Parlament.
Das selbe Spiel, wenn es darum geht, Genehmigungen zu bekommen, um sich selbst ein kleines Geschäft aufzubauen. Wer hier nicht mitmachen will, hat Pech gehabt. Bosnien liegt im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf Rang 110. Wohl auch darum verlassen jedes Jahr rund 40.000 Bosnier:innen das drei Millionen Einwohner Land.
EU-Beitritt als Hoffnung
Als einzige Chance, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, sehen viele einen Beitritt in die EU. In Umfragen geben bis zu 80 Prozent an, einen EU-Beitritt Bosniens zu befürworten. Man hofft auf Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftlichen Aufschwung. Doch das kleine Land am Balkan kommt hier nicht voran und auch das liege an der derzeitigen politischen Elite, erzählt man Kontrast.
„Jeder Schritt Richtung EU, jeder Fortschritt bei Rechtsstaatlichkeit und unabhängigen Gerichten, ist ein Schritt für Teile der Elite in Richtung Gefängnis. Wenn man die Abgeordneten fragt, sagen alle, sie seien für einen Beitritt in die EU. Doch die Handlungen beweisen oft das Gegenteil.“
Die Wahlen im Herbst bergen die Chance, das zu ändern. „Auch wenn es viel Wahlbetrug gibt, wenn die Beteiligung hoch genug ist und die Wahlbeobachtung funktioniert, kann es einen Machtwechsel geben“, erklärt der österreichisch-bosnische Politikberater Ahmed Husagic.
Bosnien braucht Brückenbauer
Einer der Hoffnungsträger bei den kommenden Wahlen ist Sasa Magazinovic, der Fraktionsvorsitzende der SDP im bosnischen Parlament. Magazinovic ist Teil einer neuen Politikergeneration. Er ist ein Brückenbauer: Selbst gehört er der serbischen Volksgruppe an, hat seinen Parlamentssitz aber über das mehrheitlich muslimische Sarajevo erhalten. Seine Partei, eine der wenigen multiethnischen, schaffte es als einzige in beiden Landesteilen, der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina, Mandate zu erzielen. Als die drei EU-Abgeordneten Andreas Schieder (SPÖ, Österreich), Dietmar Köster (SPD, Deutschland) und Thijs Reuten (Partei der Arbeit, Niederlande) nach Sarajevo reisten, traf er sich mit ihnen und lud Vertreter:innen anderer Parteien, von liberalen bis hin zu der islamisch konservativen SDA, dazu ein. Schließlich ginge es um das gemeinsame Interesse Bosniens an einem EU-Beitritt.
„Bosniens Zukunft liegt in Europa“
„Obwohl Bosnien-Herzegowina kein Mitglied der EU ist, haben wir Vertreter im Europäischen Parlament, das sind diese Menschen“, so eröffnete Magazinovic die Pressekonferenz nach dem Treffen. Er zeigte dabei auf Schieder, Köster und Reuten.
„Wir haben nicht viele Freunde auf der Welt. Diese drei Abgeordneten sind aufrichtige Freunde von Bosnien-Herzegowina, sie haben mehr für dieses Land gearbeitet als viele Beamten der Institutionen Bosniens, und sie haben es in Brüssel getan.“
Tatsächlich gelten die drei als Verfechter der Interessen Bosniens, pochen aber darauf, dass das Land Fortschritte machen muss: „Unser gemeinsames Ziel ist es, den Menschen in Bosnien und Herzegowina die Botschaft zu überbringen, dass wir die europäische Zukunft von Bosnien und damit den raschen Beitrittskandidatenstatus des Landes unterstützen. Doch um auf diesem Weg voranzukommen, müssen das Land und seine Verantwortlichen bestimmte Kriterien erfüllen. Oberste Priorität in der Zusammenarbeit muss zudem die Frage der sozialen Gerechtigkeit haben. Die Stärkung des Wohlfahrtsstaates in Bosnien und Herzegowina ist eine wichtige Voraussetzung für den sozialen Zusammenhalt im Land – genauso wie die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen“, erklärt Schieder.
„Westbalkan muss ganz oben auf der Agenda stehen“
Schieder sieht aber auch die EU in der Pflicht und kritisiert, dass die Kommission und der EU-Erweiterungskommissar Várhelyi bisher nicht auf die Provokationen Milorad Dodiks reagiert haben. Schieder fordert Brüssel auf, Bosnien und den gesamten Westbalkan mehr Bedeutung beizumessen.
„Der Schlüssel liegt in einer aktiven und ganzheitlichen EU-Politik für den Westbalkan. In diesem Bereich hat Europa in den letzten Jahren viel an Glaubwürdigkeit verloren und viele Versprechen nicht eingehalten. Aber: Das Thema muss ganz oben auf der politischen Agenda stehen, denn die EU hat viel Einfluss in der Region, wenn sie sie nutzt.“
Bosnien als mögliches Ziel „weiterer russischer Interventionen“
Viele in Bosnien wünschen sich, dass Brüssel seinen Einfluss geltend macht. Sie haben Angst, dass sich ansonsten Russland noch stärker im Land einmischt. Putin wird verdächtigt, hinter den Provokationen Dodiks zu stecken. Der bosnische Sicherheitsexperte Ismet Fatih Čančar sagt gegenüber dem Standard: „Dodik ist nur ein Auftragnehmer eines größeren geostrategischen Projekts. Auf Anweisung des Kremls, die er überhaupt nicht mehr verschweigt, destabilisiert er Bosnien und Herzegowina dauerhaft, indem er mit der Abspaltung von Teilen seines Territoriums droht. Eine Abspaltung würde sicherlich einen internen bewaffneten Konflikt provozieren, der Russland die Möglichkeit geben würde, den bosnischen Serben militärisch Hilfe zu leisten, und damit die Tür zu einem politischen Schlichtungsverfahren öffnen würde. In der Folge könnten russische Interessen langfristig auf dem Balkan, dem weichen Bauch Europas, eingebunden werden.“ Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nannte Bosnien im März ein mögliches Ziel “weiterer russischer Interventionen”. Es wäre nicht das erste Mal, dass Russland sich in die Innenpolitik eines Westbalkanstaates einmischt. So ist mittlerweile erwiesen, dass es russische Unterstützung für Putschversuche in Montenegro 2016 gab.
Eine neue Bürgermeisterin gibt Hoffnung
Um langfristig zu verhindern, dass Bosnien mit seinen beiden Teilrepubliken zum Spielball von geopolitischen Interessen wird, bräuchte es vor allem ein gemeinsames bosnisches Interesse. So lange Teile der politischen Elite die drei Volksgruppen gegeneinander ausspielen, scheint es kaum Hoffnung auf Besserung zu geben. Doch das müsste nicht so sein. Schließlich hat Bosnien eine jahrhundertealte Tradition als multiethnische Gesellschaft. Sarajevo galt als jene Stadt in Jugoslawien, in der es die meisten Mischehen gab. Auch nicht jeder in Bosnien-Herzegowina fühlt sich eindeutig einer Volksgruppe zugehörig. Es gibt nicht nur Serben, Bosniaken und Kroaten. Sondern auch Minderheiten oder aber auch Menschen, die sich schlicht als Bosnier:innen fühlen. Für sie gibt es aber nicht einmal die Möglichkeit, in das Staatspräsidium gewählt zu werden, denn dieses Amt ist nur Mitgliedern der drei konstitutiven Volksgruppen vorbehalten – der vierten Volksgruppe den „Anderen“ steht dieses Amt nicht zu. Eine dieser „Anderen“ ist Benjamina Karic.
Die 31-Jährige wurde vergangenes Jahr zur Bürgermeisterin von Sarajevo gewählt und sie richtete gleich zu ihrem Amtsbeginn aus:
„Wir tragen die Multikulturalität in uns.“ Teilungen erkennt sie weder an noch unterstütze sie diese: „Meine Mission ist, dass wir uns vereinen.“
Wenig Toleranz zeigte die studierte Juristin für den Protz ihres Vorgängers Abdulah Skaka von der konservativ-bosniakischen Partei SDA. Ihre erste Amtshandlung war es, die widerrechtlich angeschafften teuren Dienstwägen ihres Vorgängers zu verkaufen. Außerdem kündigte sie „Null Toleranz“ gegenüber der Korruption an. Ob es ihr tatsächlich gelingt, die Günstlingswirtschaft zu bekämpfen, ist fraglich. Im komplizierten politischen System Bosniens haben die Stadtteile Sarajevos mehr Macht als die zentrale Stadtregierung. Doch eines könnte sie zumindest in Sarajevo beweisen: Dass es anders geht. Schon das könnte die politische Landschaft Bosniens ordentlich umkrempeln.